Bolitho sah ihm nach, wie er hinausging, und trat dann wieder ans Fenster. Aye, ein Ende, dachte er. Und wenn wir Gluck haben, ist es ein neuer Anfang.

XII Das Kastell

«Wachen Sie auf, Captain!»

Bolitho offnete die Augen. Er mu?te an seinem Schreibtisch eingeschlafen sein. Da stand Allday und sah auf ihn hinunter; die einzige Deckenlaterne warf einen gelblichen Schein auf sein Gesicht. Beide Kerzen auf dem Schreibtisch waren ausgebrannt, seine Kehle war trocken und rauchig. Allday stellte einen Zinnbecher auf den Tisch und go? schwarzen Kaffee hinein.

«Die Sonne wird bald aufgehen, Captain.»

«Danke.»

Bolitho nippte an dem gluhendhei?en Kaffee und wartete, bis sein Hirn die letzten Fesseln des Schlafes abgeschuttelt hatte. In der Nacht war er mehrmals an Deck gewesen, um noch vor Tagesanbruch die letzten Einzelheiten zu uberprufen, den Wind zu studieren, Kurs und Geschwindigkeit des Geschwaders abzuschatzen. Beim nochmaligen Durcharbeiten von Draffens Notizen war er in tiefen Schlaf gesunken, aber der Schlummer in der stickigen Kajute hatte ihn keineswegs erfrischt.

Argerlich uber sich selbst stand er auf. Alles hing vom Ausgang dieses Tages ab. Nichts war dadurch gewonnen, da? er in dieser fruhen Phase schon Vermutungen anstellte.

«Rasch noch rasieren, Allday!«Er go? den Kaffee hinunter.»Und noch etwas Kaffee!»

Aus der Kajute unter ihm horte er ein Gerausch: Broughtons Steward war im Begriff, seinen Herrn zu wecken. Ob der wohl geschlafen hatte? Oder hatte er wach in seiner Koje gelegen und sich uber den bevorstehenden Kampf und seine moglichen Konsequenzen den Kopf zerbrochen?

«Wind kommt stetig aus Nordwest, Captain. «Geschaftig legte All-day Rasiermesser und Handtuch zurecht, Bolitho warf sein Hemd auf die Sitzbank und lie? sich dann wieder in den Sessel fallen.

«Mr. Keverne hat schon vor einer Stunde >Alle Mann< pfeifen lassen.»

Bolitho entspannte sich etwas, wahrend das Rasiermesser uber sein Kinn schabte. Die Bootsmannspfeifen hatten die mehreren hundert Mann Besatzung an Deck geholt, und er hatte keinen Ton davon gehort. Wahrend er im Erschopfungsschlaf uber dem Tisch lag, hatten sie gegessen und dann trotz der Dunkelheit angefangen, die Decks zu klarieren. Denn ganz gleich, was kam, es hatte keinen Sinn, ihnen Zeit zum Nachdenken zu lassen. Wenn der Kampf begann, mu?te ihr Schiff in Ordnung sein. Das Schiff bestimmte ja nicht nur ihr Leben, es war auch ihre Heimat, ihr Zuhause. Alles war ihnen bekannt und gewohnt: die Segel, das Klatschen des Wassers gegen den Schiffsrumpf, die Gesichter an der Back beim Essen, die gleichen Gesichter, die bald durch offene Stuckpforten spahen wurden.

Wahrend Allday ihn, rasch und geschickt wie immer, fertig rasierte, uberdachte er noch einmal die hektischen Vorbereitungen des letzten Tages. Die Marine-Infanterie des ganzen Geschwaders war in zwei gleichstarke Divisionen geteilt worden. Die eine Halfte war auf Rattrays Zeus, das Fuhrungsschiff, gekommen, die andere auf die Valorous, das letzte Schiff der Formation. Auch alle gro?en Kutter des Geschwaders waren auf diese beiden Schiffe verteilt worden; und Bolitho konnte sich vorstellen, was sie mit so vielen zusatzlichen Leuten an Bord fur eine unruhige Nacht gehabt hatten.

Er stand auf, wischte sich das Gesicht ab und sah dabei durchs Heckfenster. Aber drau?en war es noch zu finster; man erkannte nur ein bi?chen Schaum am Ruder. Die Schiffe liefen fast genau mit Ostkurs, und die Kuste lag etwas uber funf Meilen an Steuerbord voraus. Broughton hatte recht daran getan, den Kurs beizubehalten, bei dem der Wind sehr bequem uber das Achterdeck kam, und nicht zu versuchen, jetzt schon die endgultige Formation fur den Angriff auf die Kuste herzustellen. Denn dabei hatten die Schiffe leicht auseinandergeraten konnen, wogegen sie jetzt, bei dem gunstigen Wind und den ublichen, leicht abgeblendeten Hecklichtern, ohne weiteres in zwei Reihen heransegeln konnten, sobald der Admiral das entsprechende Signal gab.

In der dicken Fensterscheibe sah er sein Spiegelbild, und dahinter, wie einen zweiten Schatten, Allday. Sein Hemd war noch offen, und er sah das Medaillon an seinem Halse im Takt der Schiffsbewegung leicht hin und her schwingen, und auch die dunkle Locke, die ihm rebellisch ubers Auge hing. Unwillkurlich fa?te er hin und beruhrte die tiefe Narbe unter dem Haar vorsichtig mit der Fingerspitze. Es war eine ganz automatische Bewegung, und doch dachte er jedesmal, er wurde dort Hitze fuhlen oder Schmerz wie damals, als er niedergehauen und fur tot liegengelassen worden war.

Allday, hinter ihm, lachelte erleichtert. Diese wohlbekannte Bewegung, die offensichtliche Uberraschung Bolithos, jedesmal wenn er die Narbe beruhrte, hatte immer etwas Beruhigendes. Er wartete noch, bis Bolitho das Halstuch locker geschlungen hatte, dann brachte er Uniformrock und Degen.

«Sind Sie bereit, Captain?»

Einen Arm im Rock hielt Bolitho inne und musterte ihn. Seine grauen Augen waren wieder vollig unbewegt.

«Bereit bin ich immer«, entgegnete er lachelnd.»Ich hoffe, Gott ist uns heute gnadig.»

Allday grinste und blies die Laterne aus.»Amen darauf, kann ich nur sagen.»

Beide gingen zusammen in die kuhle Dunkelheit hinaus.

«An Deck: Land voraus!«Uberlaut klang die Stimme des Ausgucks durch die klare Luft.»Einen Strich an Steuerbord!»

Bolitho hielt in seinem Auf- und Abgehen inne und spahte durch die schwarzen Linien des Riggs. Hinter dem langsam kreisenden Bugspriet und dem flappenden Kluver breitete sich der erste Schimmer der Morgenrote uber die Kimm. Dort, ein bi?chen nach Steuerbord, hob sich etwas ab, das wie eine lange, schmale, scharfkonturierte Wolke aussah; doch es war, wie er wu?te, der Kamm eines fernen Berges, der, von der noch unsichtbaren Sonne gerotet, sichtbar wurde.

Er zog seine Uhr und hielt sie dicht ans Auge. Es wurde bereits heller, und wenn alles gutgegangen war, wurde die Valorous jetzt beidrehen, ihre Marine-Infanteristen wurden in die Boote klettern und zur Kuste rudern. Hauptmann Giffard von der Euryalus hatte das Kommando, und er tat Bolitho jetzt schon leid. Es war schlimm genug, zweihundert Seesoldaten mit ihren schweren Stiefeln und Musketen durch rauhes, unbekanntes Gelande zu fuhren, aber wenn die Sonne erst stieg, wurde es eine Tortur sein. Marine-Infanteristen waren gedrillt und diszipliniert wie Landsoldaten, aber da war es mit der Ahnlichkeit auch schon vorbei. Sie waren an ihr seltsames Bordleben gewohnt, der enge Raum bot ihnen wenig Bewegungsmoglichkeit, und daher waren sie einem Gewaltmarsch nicht gewachsen.

«Ich kann die Tanais sehen, Sir«, sagte Keverne.

Bolitho nickte. Der rote Schein lag auf der Gro?rah des Vierundsiebzigers wie Feenglanz in den Waldern von Cornwall, dachte er. Seine Hecklaterne verbla?te bereits; und als er zum Verklicker der Euryalus emporsah, glanzte das Gro?marssegel feucht im Fruhtau, und mit jeder Sekunde vertiefte sich der Widerschein der Morgenrote auf seiner Flache.

Man horte leichte Schritte, und Keverne flusterte:»Der Admiral,

Sir.»

Broughton schritt zum Achterdeck und starrte auf den fernen Berg. Bolitho machte seine dienstliche Meldung.

«Klar zum Gefecht, Sir. Die Rahen sind angekettet, die Schutznetze aufgeriggt.»

Bei dem Krach, mit dem diese Vorbereitungen verbunden waren — Zwischenwande abrei?en, die Zurrings von den Kanonen nehmen, das Tappen nackter Fu?e, wenn die Matrosen sich selbst und ihr Schiff kampffahig machten — mu?te auch Broughton das wissen. Aber Meldung mu?te nun einmal gemacht werden.

«Haben wir schon Sichtverbindung mit dem Geschwader?«knurrte Broughton.

«Mit der Tanais, Sir. Aber wir werden bald mit allen direkte Signalverbindung aufnehmen konnen.»

Der Admiral ging zur Leeseite und spahte zum Land hinuber. Es war nicht mehr als ein dunkler Schatten, uber dem der Berggipfel frei im Raum zu hangen schien.»Ich bin froh«, sagte er,»wenn das Geschwader uber Stag gehen kann. Ich hasse es, vor einer Leekuste zu stehen, wenn die Sicht so schlecht ist.»