«Der stellt nichts mehr an, Allday«, erwiderte Bolitho mit einem gelassenen Blick auf den Franzosen.»Solange hier noch Piraten auftauchen konnen, wird niemand etwas gegen uns unternehmen, denke ich. «Er wandte sich wieder Allday zu.»Ja, sagen Sie dem Koch Bescheid. «Allday ging zur Treppe, und Bolitho rief ihm nach:»Und ich danke Ihnen!»
Allday blieb stehen, einen Fu? in der Luft.»Captain?»
Bolitho sagte nichts weiter; Allday wartete noch einen Moment, stieg dann die Leiter hinunter und machte sich Gedanken uber diese neue und seltsam beunruhigende Stimmung seines Kommandanten.
Um Mitternacht, als die Navarra langsam in die tiefe Finsternis hineinsegelte, stand Bolitho am Leedecksgang. Der kuhle Wind spielte in seinem Haar. Die Bestattung der Gefallenen nahm ihren Fortgang. Ein Gebetbuch war nicht vorhanden, auch war kein spanischer Priester unter den Passagieren, der fur die Gefallenen oder ihren Wunden Erlegenen einen Gottesdienst hatte abhalten konnen.
Auf eine Art, dachte er, war das tiefe Schweigen beeindruckender als Gebete. Auch gab es noch andere Laute: die See, die Segel, Wanten und Stage, das Knarren des Ruders. Ein passender Grabspruch fur Manner, die vom Meer gelebt hatten, das sie jetzt fur alle Ewigkeit aufnahm.
Grindle und Pareja waren zusammen bestattet worden, und Bolitho hatte gesehen, wie Ashton sich die Augen wischte, als der Steuermannsmaat uber Bord ging.
«Das sind jetzt alle, Sir«, rief Meheux. Er rief es mit gedampfter Stimme, und Bolitho war ihm dankbar dafur. Ohne da? er es ihm sagen mu?te, hatte der Leutnant verstanden, da? die Gefallenen besser bei Nacht bestattet wurden, um es den am Leben Gebliebenen nicht noch schwerer zu machen. Es hatte absolut keinen Sinn, ihren Kummer zu vermehren; und morgen wurde es weitere Tote geben, dessen war er sicher.
«Gut«, antwortete er,»ich schlage vor, wir trimmen den Gro?mast und lassen dann die Wache unter Deck gehen. Sie und ich gehen Wache um Wache; ich glaube nicht, da? uns jemand dieses zweifelhafte Privileg streitig machen wird.»
«Ich bin stolz darauf, es mit Ihnen teilen zu durfen, Sir«, sagte Me-heux nur.
Bolitho wandte sich um und ging das schiefe Deck hinunter bis zur
Heckreling. Der westliche Horizont war schon ganz finster, und selbst das lebhafte Kielwasser des Schiffes war kaum zu erkennen.
Unter seinen Fu?en, in der ausgebrannten Achterkajute, konnte er das leise Pfeifen McEwens horen, der sich mit seinem Zweiund-drei?igpfunder beschaftigte. Merkwurdig, wie sicher sich alle fuhlten. Wie geborgen.
Er wandte den Kopf: die spanischen Matrosen waren mit dem Trimmen des Gro?mastes fertig und sicherten gerauschvoll die Brassen an den Belegnageln. Sogar sie — die mit dem Federstrich irgendeines Politikers oder Monarchen seine Feinde geworden waren — schienen unter seinem Kommando ganz zufrieden zu sein.
Er lachelte mude uber seine grotesk schweifenden Gedanken und begann, langsam auf und ab zu gehen. Einmal, als sein Auge auf den nachstliegenden Niedergang fiel, mu?te er wieder an den bartigen Riesen mit dem Enterbeil denken — was ware wohl geschehen, wenn Witrand nicht so schnell geschossen hatte? Mit der zweiten Pistole hatte er ebenso schnell ihn selbst erledigen konnen. In dem grimmigen Scharmutzel hatte kein Mensch den zweiten Schu? bemerkt. Aber vielleicht fuhlte sich sogar Witrand sicherer, wenn Bolitho am Leben blieb.
Er schuttelte sich argerlich. Diese absurden Gedanken kamen nur von seiner Mudigkeit. Morgen waren die Rollen vielleicht wieder vertauscht: er war wieder Gefangener, Witrand ging wieder seinen mysteriosen Geschaften nach, und alles war nur ein Zwischenspiel gewesen. Eine kleine Episode im Flu? des Ganzen.
Aber so mu?te man den Krieg ansehen. Einen Feind durfte man nicht als Personlichkeit betrachten; das war zu gefahrlich. Ihn an den eigenen Hoffnungen und Angsten teilnehmen zu lassen, war reiner Selbstmord.
Was hatte er selbst wohl unter ahnlichen Umstanden getan? Daruber dachte er noch nach, als Meheux ihn ablosen kam.
Und so, unter der leichten Brise und den wenigen, aber gut ziehenden Segeln, setzte die Navarra ihre Reise fort. Die einzigen Gerausche kamen von den Pumpen, und gelegentlich stie? ein Verwundeter einen Schrei aus. Schlaflos lag Bolitho in seiner provisorischen Hangematte. Diese Laute fa?ten alles zusammen, was er und seine Manner miteinander erlebt und erreicht hatten.
Er rasierte sich eben vor einem zersprungenen, an ein zusammengebrochenes Bucherschapp gelehnten Spiegel, als Meheux hereinkam und meldete, ein Segel sei in Sicht — es lage beinahe direkt achteraus und kame sehr schnell auf.
Bolitho musterte sein zerrissenes, geschwarztes Hemd und zog es sich dann widerstrebend an. Vielleicht war das Rasieren reine Zeitverschwendung gewesen, aber er fuhlte sich doch besser danach, wenn er auch immer noch wie eine Vogelscheuche aussah. Meheux starrte ihn wortlos und fasziniert an. Bolitho spurte direkt, wie seine Augen am Rasiermesser hingen, das er jetzt, nachdem er es an einem Tuchfetzen abgewischt hatte, in den Schottkasten warf, wo er es gefunden hatte.
Langsam sagte er:»Tja, Mr. Meheux, dagegen konnen wir diesmal nicht viel tun.»
Er nahm den Degen auf und schnallte ihn um; dann ging er hinter Meheux her hinaus. Es war fruh am Morgen, die Luft war noch frisch, hei? werden wurde es spater. Die Wanten hingen voller Kleidungsstucke, meistens Frauenkleider, und Meheux murmelte entschuldigend:»Sie haben gebeten, waschen zu durfen, Sir. Aber jetzt, da Sie an Deck sind, werde ich ihnen sagen, sie sollen das Zeug runternehmen.»
«Nein.»
Bolitho setzte das Teleskop ans Auge. Dann warf er es einem Matrosen zu und sagte:»Das Glas ist entzwei. Wir mussen abwarten.»
Er schritt zur Heckreling, beschattete die Augen gegen das grelle Sonnenlicht und spahte nach dem Schiff aus. Die schlanke, leuchtend wei?e Segelpyramide uber der Kimm sprach Bande. Er horte Schritte an Deck und wandte sich um: da stand Witrand und beobachtete ihn.
«Sie sind Fruhaufsteher, m'sieur.»
Witrand hob die Schultern.»Und Sie sind sehr ruhig, capitaine.«Er blickte uber die Wasserflache.»Obwohl es um Ihre Freiheit vielleicht bald geschehen ist.»
Bolitho lachelte.»Horen Sie, Witrand, was machen Sie eigentlich auf diesem Schiff? Wo wollten Sie hin?»
«Ich habe das Gedachtnis verloren«, grinste der Franzose.
Der Ausguck rief dazwischen:»Das ist 'ne Fregatte, Sir!»
Leise fragte Meheux:»Wie meinen Sie, Sir? Sollen wir Kurs andern und ausrei?en?«Aber als Bolitho auf das gereffte Marssegel und das tiefliegende Deck deutete, grinste er beschamt.»Sie haben recht, Sir. Das hatte wenig Sinn.»
Halblaut sagte Witrand:»Ich verstehe Ihre Gefuhle, capitaine. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Vielleicht mit einem Brief an Ihre Familie? Sonst konnte es Monate dauern…«Er blickte auf den Degen, dessen Griff Bolitho soeben umfa?te.»Ich konnte Ihren Degen nach England schicken. Besser als da? ihn irgendein Hafenhandler in die Klauen bekommt, eh?»
Bolitho wandte sich ab und beobachtete das Schiff, das jetzt so schnell zu der havarierten Navarra aufkam, da? er das Gefuhl hatte, es ware auf Kollisionskurs. Er konnte die vollen Mars- und Bramsegel unterscheiden und den hellen, zungelnden Wimpel im Masttopp. Mit voller Fahrt pflugte die Fregatte durch die tanzenden Wellen.
Eine braune Rauchwolke, die sofort im Wind verwehte, dann ein Krachen. Sekunden spater sprang funfzig Fu? vom Achterdeck entfernt eine schlanke Wassersaule hoch.
Gedampfte Schreie tonten aus den offenen Luken, und Bolitho sagte finster:»Drehen Sie bei, Mr. Meheux. «Er sah zum Gro?mast hoch und fragte scharf:»Wo ist die Flagge?»
«Entschuldigung, Sir«, antwortete der Leutnant bedruckt,»mit der Flagge hatten wir Mr. Grindle zugedeckt, bis wir ihn bestatteten.»
«Ja. «Bolitho wandte sich ab, damit sie sein Gesicht nicht sehen sollten.»Aber hissen Sie sie jetzt, bitte.»