«Wir haben noch funf Minuten«, sagte er kurz.
Bickfords Leute ruderten jetzt ruckwarts, damit das Boot nicht in der wirbelnden Stromung querschlug.
Wieder dachte er an Inch und stellte ihn sich an Bord der Hekla vor, wie er die letzten Vorbereitungen traf, um mit seinen gedrungenen Morsern hoch uber den Bergrucken der Landzunge zu feuern. Inch brauchte sich jetzt nicht mehr zu verbergen. Er konnte so viel Licht machen, wie er brauchte; in den Hugeln oberhalb seiner Position lagen die Marine — Infanteristen, die ihm nicht nur die Einschlage signalisieren, sondern ihn auch gegen unerwunschte Storer absichern wurden.
>Komischer Kahn<, hatte Keverne gesagt. Die Hekla war nicht viel mehr als eine schwimmende Batterie mit gerade genugend Segelflache, um sie von einem Einsatzort zum anderen zu tragen. Lag sie in Schu?position, so wurde sie an Bug und Heck fest verankert. Durch Anholen oder Nachlassen der einen oder der anderen Trosse konnte Inch das Schiff und damit die Zwillingsmorser ohne viel Anstrengung in den gewunschten Schu?winkel bringen.
«Mr. Sawles Boot ist unter der Mauer, Captain«, sagte Allday gespannt.
«Gut. «Er mu?te sich auf Alldays Angabe verlassen, denn das Boot war nur ein tieferer Schatten vor dem dunklen Loch des Eingangs.
Ein Midshipman, der zu Bolithos Fu?en hockte, gahnte lautlos.
Das war vermutlich auch eine Art, gegen die Angst anzukampfen. Gahnen war manchmal ein Zeichen dafur.
Beruhigend sagte er:»Jetzt ist es bald soweit, Mr. Margery. Sie ubernehmen das Boot, sobald der Angriff beginnt.»
Der Midshipman nickte; eine laute Antwort traute er sich anscheinend nicht zu.
Allday erstarrte.»Da — unterhalb der Mauer fahrt ein Boot, Cap-tain!»
Bolitho sah die Gischt eintauchender Riemen — wahrscheinlich war die Garnison so vorsichtig gewesen, ein Wachboot patrouillieren zu lassen. Vermutlich sollte es nur einen Angriff auf die vor Anker liegende Brigg verhindern, aber im Moment war es so todlich wie ein ganzes Regiment Leibwache.
Auf und ab schwangen die Riemen, tauchten mit ermudender Gleichma?igkeit ins Wasser, und an dem grunlichen Leuchten um den Bug war das Naherkommen des Bootes besser zu verfolgen als bei
Tageslicht.
Jetzt hielt die taktma?ige Bewegung inne; die Ruderer hatten sich wohl auf die Riemen gelegt, um sich auszuruhen und sich von der Stromung weitertreiben zu lassen, bevor sie die nachste Runde ihrer Patrouille begannen.
«Jetzt mu?te Mr. Sawle seine Ladung eigentlich gelegt haben«, murmelte Allday.
Und wie als Antwort auf seine leisen Worte spruhte es auf: ein Licht wie ein helles rotes Auge unter der Mauer — Fittock hatte die Lunte gezundet. Das Wachboot konnte es nicht sehen, weil die Mauerecke davor war; aber sobald Sawles Leute aus dem Mauerschatten traten, mu?te Alarm gegeben werden.
Bolitho bi? sich auf die Lippen. Jetzt pre?ten sich Sawles Manner gegen das gro?e eiserne Gitter, warteten auf den Abzug des Wachbootes und horten das gleichma?ige Zischen der Lunte. Halb unbewu?t murmelte er:»Los, Mann! Macht, da? ihr wegkommt!«Aber nichts ruhrte sich an jenem dunklen Fleck bei der Mauer.
Da — ein prasselndes Krachen, Bolitho sah die Augen des ihm zunachst sitzenden Ruderers gelbrot aufleuchten, als starre der Mann in einen gespenstischen Sonnenaufgang. Es war der Reflex des Mundungsfeuers von einem der Morser jenseits der Landzunge; er fuhr herum und horte ein scharfes, kurz abrei?endes Pfeifen wie von einem aufgestorten Moorhuhn. Die Explosion war ohrenzerrei?end. An der entferntesten Ecke des Forts leuchtete es hell auf, eine wei?liche Rauchwolke stieg hoch, dann war wieder Finsternis, und er schlo? geblendet die Augen. Aber so viel hatte er wenigstens feststellen konnen: Inchs erster Schu? lag fast genau im Ziel. Er hatte die gegenuberliegende Brustwehr des Kastells getroffen oder mindestens die untere Mauer. Mit berstendem Krachen sturzte das Mauerwerk zusammen; klatschend fielen gro?e Brocken ins Wasser.
Wieder ein Krachen. Der nachste Schu? schlug etwa an derselben Stelle ein wie der erste. Sturzendes Mauerwerk, Rumpeln und Grollen; in dicken Banken trieb der Rauch ubers Meer.
Das Wachboot war in Qualm gehullt, aber er horte Geschrei in der Finsternis, und dann das plotzliche Gellen einer Trompete von der Festung her.
Der dritte Schu? der Hekla lag zu weit; er horte splitterndes Krachen von Steinen und nahm an, da? er auf dem Fahrdamm oder auf dem Eiland unter den Mauern eingeschlagen hatte. Die MarineInfanteristen wurden mit ihren Blendlaternen der Hekla signalisieren, wie die Einschlage lagen, und dann konnte Inch vor dem nachsten Schu? Seitenrichtung oder Erhohung entsprechend andern.
«Mr. Sawle zieht jetzt ab«, sagte Allday erleichtert.»Verdammt knapp war das.»
«Mr. Bickford!«rief Bolitho.»Sagen Sie durch: Fertig machen zum Angriff!»
Jetzt brauchten sie nicht mehr leise zu sein. Der Krach bei den Festungsmauern konnte Tote wecken. Die Spanier eilten auf Gefechtsstationen. Vielleicht ahnten manche von ihnen, womit sie es zu tun hatten; andere wieder mochten vor Schreck uber die unter Inchs Granaten erzitternden und einsturzenden Festungsmauern keines klaren Gedankens mehr fahig sein.
In diesem Moment explodierte Sawles Sprengladung. In einer gro?en Feuerzunge flog der untere Eingang in die Luft, eine kleine Flutwelle brach unter der Mauer hervor und ri? Sawles Kutter, Heck voraus, mit sich fort; Manner und Riemen wurden in wirbelndem Durcheinander in die See geworfen wie ein Fangboot, das ein verwundeter Wal angreift.
Bolitho zog den Degen und winkte damit zu Bickford hinuber. In diesem Augenblick sturzte ein Stuck der oberen Brustwehr in die Flammen, dazu eine Kanone auf eisernen Radern und eine lange schwere Kette — vermutlich von der Zugvorrichtung des Fallgatters.
«Und jetzt, Jungs, zu — gleich!«Er fiel beinahe um, so scho? das Boot vorwarts; hei?er Rauch wirbelte ihm um den Kopf, ein Zeichen der Kraft dieser letzten Detonation.
Der gekenterte Kutter glitt in der Dunkelheit vorbei, hier und da sah er ein bleiches Gesicht, um sich schlagende Arme, sto?ende Beine — sie mu?ten die Explosion uberlebt haben.
Dann aber, als das zerrissene Fallgatter wie ein gahnendes Maul mit verfaulten Zahnen in der Mauer klaffte, direkt vor dem Bug seines Bootes, verga? er alles au?er dem, was er jetzt unmittelbar zu tun hatte.
Eine Musketenkugel schlug ins Dollbord, und irgendwo ertonte ein Schmerzensschrei.
Er schwang den Degen uberm Kopf und brullte:»Pullt, Jungs!«Mit hochster Geschwindigkeit scho? die Gig durch den Rauch. Verkohlte
Holzstucke trieben auf dem Wasser, und dann zwei grotesk geformte Heckpforten, wohl von alten Galeassen, mit denen das Kastell sich einst gegen Piraten verteidigt haben mochte. Riemen krachten gegen Holz und Stein; Bickfords Boot kam gefahrlich dicht hinterher, ein Pistolenschu? von der Mauer uber ihnen erhellte fur den Bruchteil einer Sekunde die Ruderer.
«Auf Riemen!«Alldays Stimme ging fast im Krachen des Einschlags einer weiteren Granate unter.»Riemen ein!»
Jetzt trieb das Boot heftig kratzend an einem niedrigen Steg entlang und kam zum Stillstand. Ein Mann sprang ihnen aus der Dunkelheit entgegen, aber ein Matrose scho? auf kurzeste Entfernung seine Muskete auf ihn ab, er wurde herumgerissen und sturzte lautlos uber die Kante des Steges ins Wasser.
Bolitho tastete sich auf nassem Stein vorwarts und versuchte dabei, sich den Grundri? dieses fremdartigen Ortes zu vergegenwartigen, wie er ihn auf der Zeichnung gesehen hatte. Jetzt konnte er nicht mehr umdisponieren — zu spat, es sich anders zu uberlegen.
Er deutete mit dem Degen auf die steinernen Stufen; brullend wie Teufel rannten die Matrosen uber den Steg. Was auch geschah, jetzt ging es nur noch vorwarts.
Er rannte die Stufen hinauf in den Rauch hinein; in seinem Hirn war nur wahnsinnige Kampfeswut, sonst Leere. Und Allday blieb an seiner Seite.