«Dann habe ich mich verirrt«, sagte er leise.»Lelean versuchte, mir zu helfen, aber er war ja nur ein Junge. Als ich nicht wu?te, wo wir waren, machte er mir Vorwurfe und sagte, ich mu?te es doch wissen. «Er machte eine vage Handbewegung.»Dann kam der Uberfall. Lelean wurde von einer Musketenkugel getroffen, zwei Matrosen waren gleich tot. Der dritte lief weg, ich habe ihn nicht wiedergesehen.»
Bolitho blickte ihm forschend in das zu Tode erschopfte Gesicht, in dem sich noch die Schrecken dieser Nacht, der Konfrontation mit blitzschnellem Tod, widerspiegelten. Wahrscheinlich waren es Berber gewesen, die wie Schakale lauerten, ob bei den Kampfen zwischen Englandern und Spaniern etwas fur sie abfiel.
Calvert berichtete weiter:»Ich habe Lelean meilenweit getragen. Manchmal versteckten wir uns im Buschwerk und horten sie sprechen. Und lachen. «Seine Stimme brach, und er schluchzte:»Und die ganze Zeit sagte Lelean immer wieder, er wu?te ganz bestimmt, da? ich ihn in Sicherheit bringen wurde. «Mit seinen verschleierten, blicklosen Augen sah er Bolitho wieder an.»Er hat sich auf mich verlassen!»
Bolitho stand auf und go? Wein aus dem Krug in einen Becher. Er druckte ihn Calvert in die Hand und sagte leise:»Wo waren Sie, als die Marine-Infanterie Sie fand?»
«In einer Felsenspalte. «Der Wein lief an seinem Kinn hinunter und auf das schmutzige Hemd. Wie Blut.»Lelean war schon tot. Die Verwundung mu?te schlimmer gewesen sein, als ich dachte. Ich wollte ihn nicht einfach so liegen lassen. Er war der erste, der mir etwas zugetraut hat. Ich wu?te. Ich dachte, kein Mensch wurde mich suchen kommen. Da lief doch der Angriff… all das hier…»
Bolitho nahm ihm das leere Glas aus den schlaffen Fingern.»Ruhen Sie sich aus. Morgen kommt Ihnen vielleicht alles ganz anders vor. «Die Augen dieses Mannes! Morgen? Es war ja schon morgen.
Calvert ri? sich zusammen.»Ich werde es Ihnen nie vergessen, da? Sie mich suchen lie?en. «Doch da war es mit seiner Fassung auch schon vorbei.»Ich konnte ihn doch nicht einfach so liegenlassen. Er war doch blo? ein Kind.»
Broughtons schneidender Kommentar» Wird ihm gut tun «klang Bolitho auf einmal in den Ohren, so deutlich, als ob er hier im Raum gesprochen wurde. Nun — vielleicht hatte der Admiral schlie?lich doch recht gehabt.
Ernst erwiderte er:»Viele gute Manner sind heute gefallen, Mr. Calvert. Es ist an uns, dafur zu sorgen, da? sie nicht umsonst gestorben sind. «Und nach einer kleinen Pause:»Und auch dafur, da? Le-leans Vertrauen nicht enttauscht wird.»
Noch lange nachdem Calvert gegangen war, sa? Bolitho zusammengesunken im Sessel. Was war mit ihm los, da? er Calvert auf solche Weise trostete? Calvert war unbrauchbar und wurde sich wahrscheinlich niemals andern. Er kam aus einem sozialen Klima, dem Bolitho grundsatzlich mi?traute und gegen das er oft genug Abscheu empfunden hatte.
War es wegen des toten Midshipman? Konnte er sich solche Empfindsamkeit leisten in einem Krieg, der alle Grenzen der Vernunft sprengte und alle traditionellen Gefuhle beiseite lie?? Oder identifizierte er Lelean mit Adam Pascoe, seinem Neffen? Ware es Calvert gegenuber fair gewesen, ihm obendrein Vorwurfe zu machen, da? er in seinem Versteck geblieben war, wahrend er im tiefsten Innern genau wu?te, er selbst hatte sich ebenso verhalten, wenn Adam da drau?en tot in einer unbekannten Felsenspalte gelegen hatte?
Als das erste Morgengrauen zogernd das Zimmer des Kommandeurs erhellte, sa? Bolitho immer noch im Sessel, im Erschopfungsschlummer dammernd, ab und zu von neuen Zweifeln und Problemen aufgeschreckt.
Bickford war bereits wach. Er stand oben auf dem mittleren Turm und spahte in den grauenden Morgen. Nach einer Weile konnte er es nicht langer aushallen und winkte einem in der Nahe stehenden Matrosen.»Na, ist es jetzt hell genug?«Der Leutnant grinste ubers ganze Gesicht und konnte gar nicht aufhoren zu grinsen — seinen Anteil an der Aktion hatte er geleistet, und er lebte noch.»Hi? die Flagge, Mann! Wenn die Coquette das sieht, macht sie Mannchen wie ein Hund!»
Um Mittag stieg Bolitho auf den Hauptturm und betrachtete, uber die Brustwehr gebeugt, den Betrieb in der Bucht. Gleich nach Sonnenaufgang war die Coquette, gefolgt von Inchs Hekla, durch den engen Kanal unterhalb der Festung gekommen, und eine Stunde spater die angeschlagene, stark schragliegende Navarra. Geschaftig pullten die Boote zwischen der Kuste und den Schiffen, von den Au?enposten der Marine — Infanterie auf der Landzunge und den Wachen auf dem Fahrdamm hin und her; man konnte leicht vergessen, wie ode und leer es noch am Vortag dort gewesen war.
Er setzte das Teleskop an und suchte uber dem vor Anker liegenden Bombenwerfer hinweg nach Leutnant Bickford, der mit seiner Abteilung zwischen den niedrigen Gebauden bei den Auslaufern der Bucht rekognoszierte. Giffard hatte bereits gemeldet, da? das Dorf — denn viel mehr war es nicht — vollig verlassen sei. Die Fischerboote, die sie bei der ersten Attacke gesichtet hatten, waren nur noch Wracks und seit Monaten nicht mehr benutzt. Uberbleibsel aus der Vergangenheit, wie dieses ganze Geisterdorf.
Die einzige gute Beute war jene kleine Brigg, die Turquoise. Sie war ein Handelsschiff, nur mit ein paar unmodernen Vierpfundern und Drehbassen bewaffnet, aber sonst neu ausgerustet, ein sehr nutzlicher Zuwachs auf der Flottenliste. Sie wurde ein hubsches Kommando fur einen jungeren Offizier abgeben. Bolitho war entschlossen, dafur zu sorgen, da? Keverne sie bekam — das war nur gerecht.
Er schwenkte das Glas etwas und beobachtete, wie die Navarra dichter an die Kuste verholt wurde. Der Steuermannsmaat, der als Prisenkommandant fungierte, hatte so schnell er konnte Segel gesetzt, sobald er die britische Flagge uber dem Kastell wehen sah. Die provisorischen Reparaturen hielten nicht mehr, und er hatte gerade noch Djafou erreichen konnen, bevor die Pumpen es nicht mehr schafften und das Schiff in Gefahr kam zu sinken.
Bolitho war froh, da? Keverne gerade diesen Steuermannsmaaten ausgesucht hatte. Ein nicht so intelligenter Maat hatte vielleicht seine letzte Order, namlich sich von Land fernzuhalten, wortwortlich ausgefuhrt, weil er Unannehmlichkeiten mit seinen Vorgesetzten furchtete. Dann ware die Prise tatsachlich verlorengegangen, denn eine halbe Stunde, nachdem sie eingelaufen war, schlief der Wind vollig ein, und von der Landzunge bis zur dunkleren Kimm war die See wie eine tiefblaue Glasplatte. Zahlreiche Boote hatten an der gefahrlich schiefliegenden Navarra festgemacht, geschaftig waren Matrosen von den anderen Schiffen dabei, die Ladung zu ubernehmen, die schweren Spieren, die Kanonen, das Ankergeschirr abzufieren, um den Rumpf vor dem Aufsetzen moglichst zu entlasten.
Die Mannschaft der kleinen Brigg, die sich ohne Widerstand ergeben hatte, sowie Besatzung und Passagiere der Navarra stellten ein weiteres Problem dar. Sie wurden bereits am Strand in Reihen aufgestellt; die bunten Kleider der Frauen hoben sich lustig vom silbriggrauen Sand und den dunstigen Bergen jenseits des Dorfes ab. Sie alle mu?ten verpflegt und untergebracht, auch vor marodierenden Berbern geschutzt werden, die sich immer noch in der Nahe herumtrieben. Das war nicht so einfach. Fur Broughton bedeuteten sie nur eine lastige Komplikation.
Das Geschwader war jetzt vermutlich dicht unter der Kimm, und Bolitho konnte sich vorstellen, da? sich der Admiral, der ja immer noch nicht wu?te, ob die Aktion Erfolg gehabt hatte, bis zur Wei?glut uber die Flaute argerte. Aber sie hatte auch ihr Gutes. Denn wenn Broughton nicht nach Djafou konnte, dann konnte es der Feind auch nicht.
Metallisches Klirren und Kreischen an der unteren Brustwehr: Fit-tock, der Stuckmeister, beaufsichtigte das Umsetzen einer der auf Eisenlafetten montierten Kanonen, damit die an dieser Stelle beschadigte Mauer provisorisch ausgebessert werden konnte. Die Kanonen hatten bereits bewiesen, da? sie die Einfahrt auch gegen schwere Kriegs schiffe verteidigen konnten. Und wenn die so unschuldig aussehende Hekla in der Mitte der Bucht verankert wurde, dann war selbst ein massiver Infanterieangriff langs der Kuste ein erhebliches Risiko.