»In viertausend Metern kollabiert die Hulle«, berichtigte ihn Alban trocken. »Und zugelassen ist das Boot bis tausend.«

»Das wei? ich selber. Na und? Wir wollen auf neunhundert gehen, wer redet denn von viertausend? Was soll denn uberhaupt passieren, um Himmels willen?«

»Ich wei? es nicht. Ich wei? nur, dass sich der Meeresboden unter uns verandert hat und dass immer mehr Gas in die Wassersaule gelangt. Das Sonar kann die Fabrik nicht orten, wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, was da unten los ist.«

»Vielleicht ist was abgerutscht. Oder eingebrochen. Im schlimmsten Fall ist unsere Fabrik ein Stuck weggesackt.

So was kommt vor.«

»Ja. Vielleicht.«

»Also, wo ist das Problem?«

»Das Problem ist, dass ein Roboter es ebenso tate«, sagte Alban genervt. »Aber Sie wollen ja unbedingt den Helden spielen.«

Stone zeigte mit zwei Fingern auf seine Augen. »Damit kann ich immer noch am besten einschatzen, was los ist. Verstehen Sie? Direkt vor Ort. So lost man Probleme, man geht hin und packt sie an.«

»Gut. Okay.«

»Also, wann gehen wir runter?« Stone sah auf die Uhr. »Ah, in einer halben Stunde. Nein, zwanzig Minuten. Wunderbar.«

Er winkte Eddie im Innern des Tauchboots zu. Der Pilot hob kurz die Hand und widmete sich wieder der Konsole. Stone grinste.

»Was wollen Sie uberhaupt? Wir haben den besten Piloten, den wir bekommen konnten. Und notfalls steuere ich das Ding selber.«

Alban schwieg.

»Also ware das geklart. Schon. Ich will nochmal den Tauchplan durchgehen. Bin in meiner Kabine, wenn was ist. Und bitte, Jean — holen Sie endlich diese verdammten Filmleute her. Holen Sie sie her, sofern sie nicht uber Bord gefallen sind.«

Trondheim, Norwegen

»Rasierwasser«, uberlegte Johanson.

Konnte es sein, dass ihm das Rasierwasser ausgegangen war? Unmoglich. Er war Sigur Johanson, der Lagerist der schonen Dinge. Wein und Kosmetika gingen nicht einfach aus. Irgendwo musste er noch eine Flasche von dem Kiton Eau de Toilette haben.

Ungeduldig ging er zuruck ins Bad und durchstoberte den Spiegelschrank. Er wusste, dass er allmahlich das Haus verlassen sollte. Der Helikopter wartete auf dem Landeplatz des Forschungszentrums, um ihn zu dem Treffen mit Karen Weaver zu bringen. Aber fur jemanden, der Wert auf inszenierte Schlampigkeit legte, gestaltete sich das Packen eines Koffers ungleich schwerer als fur einen ordentlichen Menschen. Ordentliche Menschen verschraubten sich nicht in derlei Abstrusitaten, wie man moglichst gekonnt den Farbton des Jacketts verfehlte.

Hinter zwei Dosen Haarwachs wurde er fundig.

Er packte die Flasche in den Kulturbeutel, quetschte ihn zusammen mit einem Gedichtband von Walt Whitman und einem Buch uber Portwein in die Reisetasche und lie? die Scharniere zuschnappen. Es war eine teure Tasche im Stil des Handgepacks, wie sie der Londoner Adel fur Landpartien zu benutzen pflegte — Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Die Lederschlaufen waren handgenaht, und dass der Griff ein wenig abgewetzt aussah, fand entschieden Johansons Beifall.

Der funfte Tag!

Hatte er die CD eingepackt? Er hatte eine gebrannt mit den Daten, die seine wundersame Idee vom hoheren Plan dokumentierten. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, sie mit der Journalistin zu besprechen. Er sah noch einmal nach.

Da war sie, begraben unter Hemden und Socken.

Mit federnden Schritten verlie? er sein Haus in der Kirkegata und stieg in den Gelandewagen auf der anderen Seite der Stra?e. Aus irgendeinem Grund fuhlte er sich seit dem fruhen Morgen aufgekratzt, erfullt von beinahe hysterischem Tatendrang. Kurz bevor er den Motor startete, wanderte sein Blick noch einmal uber die Fassade seines Hauses. Die Rechte mit dem Schlussel zwischen Daumen und Zeigefinger verharrte unmittelbar vor dem Zundschloss.

Plotzlich wusste er, was ihn umtrieb.

Er versuchte sich abzulenken. Aktionismus gegen Nachdenken. Pfeifen im Walde. Trali, trala, ist irgendwas?

Feuchter Dunst lag uber Trondheim, der alle Konturen verwischte. Selbst sein Haus auf der anderen Stra?enseite erschien ihm flachiger als sonst. Es sah beinahe aus wie ein Gemalde.

Was geschah mit den Dingen, die man liebte?

Warum hatte er so oft stundenlang vor den Bildern van Goghs gestanden und einen Frieden in sich gefuhlt, als waren sie nicht von einem verzweifelten Paranoiker gemalt worden, sondern von einem restlos glucklichen Menschen?

Weil nichts die Impression zerstoren konnte.

Naturlich konnte ein Bild vernichtet werden. Aber solange es existierte, war der in Ol gebannte Augenblick endgultig. Die Sonnenblumen wurden nie verwelken. Auf die Zugbrucke von Langlois bei Arles wurden keine Bomben fallen. Nichts konnte das gemalte Motiv seiner Verbindlichkeit berauben, auch wenn man es uberpinselte. Das Original darunter blieb erhalten. Was schrecklich war, blieb schrecklich, was schon war, wurde seine Schonheit nie verlieren. Selbst dem Portrat des Mannes mit den scharfen Gesichtszugen und dem wei?en Verband uber dem Ohr, der den Betrachter aus tief liegenden Augen ansah, war etwas wohltuend Verlassliches zu Eigen, weil er zumindest im Bild nicht noch unglucklicher werden konnte, weil er nicht einmal altern konnte. Er verkorperte den ewigen Augenblick. Er hatte gesiegt. Am Ende hatte er uber die Schinder und Ignoranten triumphiert, er hatte sie kraft seines Pinsels und seines Genies einfach ausgetrickst.

Johanson betrachtete sein Haus.

Warum kann es nicht einfach so bleiben, dachte er. Wenn es doch ein Bild ware, und ich mit in dem Bild.

Aber er lebte nicht in einem Bild und nicht in einer Galerie, in der sich die Schauplatze seines Lebens abschreiten lie?en. Das Haus am See, es hatte ein weiteres wunderbares Bild abgegeben, daneben ein Portrat von seiner geschiedenen Frau und weitere von den Frauen, die er gekannt hatte, und welche von seinen Freunden und naturlich eines von Tina Lund. Gerne auch Arm in Arm mit Kare Sverdrup. Ja, warum nicht? Ein Bild, in dem Tina zur Ruhe kam, fur alle Zeiten. Er hatte ihr Ruhe und Seelenfrieden gegonnt.

Mit einem Mal befiel ihn dumpfe Verlustangst.

Da drau?en verandert sich die Welt, dachte er. Sie schlie?t sich gegen uns zusammen. An einem geheimen Ort ist etwas vereinbart worden, und wir waren nicht dabei. Die Menschen waren nicht dabei.

Ein so schones Haus. So friedlich.

Er lie? den Motor an und fuhr los.

Kiel, Deutschland

Erwin Suess betrat, Yvonne Mirbach im Gefolge, Bohrmanns Buro. »Ruf diesen Johanson an«, sagte er. »Sofort.«

Bohrmann hob den Kopf. Er kannte den Geomar-Direktor lange genug, um zu sehen, dass etwas Au?ergewohnliches passiert sein musste. Etwas, das Suess zutiefst besturzte.

»Was ist los?«, fragte er, obschon er es ahnte.

Mirbach zog einen Stuhl heran und setzte sich.

»Wir haben den Computer samtliche Szenarien durchrechnen lassen. Der Kollaps wird eher erfolgen, als wir dachten.«

Bohrmann runzelte die Stirn. »Letztes Mal waren wir nicht sicher, ob es uberhaupt zu einem Kollaps kommen wird.«

»Ich furchte doch«, sagte Suess.

»Die Bakterien-Konsortien?«

»Ja.«

Bohrmann lehnte sich zuruck und fuhlte, wie sich seine Stirn mit kaltem Schwei? bedeckte. Es kann nicht sein, dachte er. Das sind doch nur Bakterien, mikroskopisch kleine Lebewesen. Plotzlich begann er zu denken wie ein Kind. Wie kann etwas so Winziges einen Eisdeckel von uber hundert Metern Dicke zerstoren? Es geht nicht. Was soll eine Mikrobe ausrichten auf tausenden von Quadratkilometern Meeresboden? Gar nichts. Es ist nicht vorstellbar. Es ist nicht real. Es findet nicht statt. Sie wussten wenig uber Konsortien. Fest stand, dass sich in der Tiefsee Mikroorganismen verschiedener Arten zu Symbiosen zusammenschlossen. Schwefelbakterien verbundeten sich mit Archaen, urtumlichen Einzellern, die zu den altesten Lebensformen uberhaupt gehorten. Die Symbiose war extrem erfolgreich. Vor wenigen Jahren erst hatte man die ersten Konsortien auf den Oberflachen von Methanhydraten aufgespurt. Die Schwefelbakterien verwerteten mit Hilfe von Sauerstoff, was sie von den Archaen erhielten, namlich Wasserstoff, Kohlendioxid und verschiedene Kohlenwasserstoffe. Denn diese Stoffe schieden die Archaen aus, wenn sie sich an ihrer Leibspeise gutlich taten.