Sie fielen und fielen.
Nach funfundzwanzig Minuten schaltete Eddie das Sonar ein. Leises Pfeifen und Klicken durchzog die Sphare, uberlagert vom sanften Brummen der Elektronik.
Sie naherten sich dem Grund.
»Popcorn und Cola bereithalten«, sagte Eddie. »Jetzt gibt’s Kino.« Er schaltete die Au?enscheinwerfer ein.
Lars Jorensen stand auf der obersten Plattform des stahlernen Treppenschachts, der vom Hubschrauberlandeplatz zum Wohntrakt fuhrte, und sah auf den Bohrturm. Er hatte die Arme uber dem Gelander verschrankt. Die Spitzen seines wei?en Schnurrbarts zitterten im Wind. An klaren Tagen schien der Turm zum Greifen nahe, aber heute entruckte er zusehends. Mit jeder Stunde, die sich der Dunst vor dem nahenden Sturm verdichtete, wurde er unwirklicher, als wolle er vollstandig verblassen und zur blo?en Erinnerung werden.
Seit Lunds letztem Besuch fuhlte Jorensen sich immer schwermutiger werden. Er dachte daruber nach, was Statoil am Kontinentalhang bauen mochte. Ohne Zweifel planten sie eine vollautomatische Fabrik. Vielleicht wurde sie mit einem Produktionsschiff verbunden sein. Lund war wohl der Meinung gewesen, sie hatte ihn mit ihren Antworten abgewimmelt, aber Jorensen war ja nicht blode. Er hatte sogar Verstandnis dafur, wie sie vorgingen, und dass sie Menschen einsparten, um sie durch Maschinen zu ersetzen. Es ergab durchaus Sinn. Eine Maschine legte keinen Wert auf gute Kuche wie Lars Jorensen, sie schlief nicht, arbeitete unter lebensfeindlichen Bedingungen und wollte keinen Lohn dafur. Sie beklagte sich nicht, und wenn sie in die Jahre kam, konnte man sie notfalls auf den Mull werfen und musste sich nicht um ihr weiteres Wohlergehen sorgen. Andererseits fragte er sich, wie ein Roboter je Augen und Ohren ersetzen und intuitiv Entscheidungen treffen sollte. Ohne Menschen gab es kein menschliches Versagen, sicher. Aber wenn Maschinen versagten, ohne dass Menschen in der Nahe waren, wurde es kommen wie in den utopischen Filmen, die er oft spatnachts noch sah, wenn drau?en die See gegen die Pfeiler schlug. Der Mensch wurde die Kontrolle verlieren. Und die Maschine hatte keinen Sinn fur Leben und Umwelt, sie hatte kein Verstandnis fur die Interessen ihrer Erbauer, die sich selber wegrationalisierten, sie zeichnete sich durch keinerlei Menschlichkeit und Verstandnis aus.
Langsam schwand das Licht. Der Himmel wurde noch grauer, und nieseliger Regen setzte ein.
Was fur ein Schei?tag, dachte Jorensen.
Nicht genug, dass es seit einiger Zeit uber dem Meer stank, als sei das Wasser voller Chemikalien. Jetzt wetteiferte auch noch das Klima mit seiner Laune um den Tiefpunkt der Trubsinnigkeit.
Im Grunde arbeiten wir auf einer Ruine, dachte Jorensen. Eine Geisterstadt im Meer, voller Zombies, von denen einer nach dem anderen exorziert wird. Sind die Vorkommen erschopft, bleibt ein Gerippe ohne Funktion. Die Olarbeiter werden entsorgt, die Plattformen werden entsorgt, und die Zukunft schauen wir uns im Fernsehen an. Videoaufzeichnungen aus einer Welt, in die wir nicht vordringen konnen, wenn es erforderlich wird.
Jorensen seufzte.
Waren das Uberlegungen, die irgendjemandem weiterhalfen? Zu einfach gestrickt? Zu einseitig, engstirnig, selbstgerecht? Das Auto hatte das Ende der Droschkenkutscher bedeutet. Damals hatte es viel billiges Pferdefleisch gegeben, und Existenzen waren vernichtet worden. Aber wer wollte noch Droschken? Wahrscheinlich hatten aufs Ganze gesehen die anderen Recht, und er war ein alter Mann, der es einfach nur hasste, in Pension zu gehen.
Ganz fruher, erinnerte er sich, hatte es diesen magischen Moment gegeben. Als schwarz glanzende Manner, triefend vor Ol, einander in die Arme gefallen waren, wahrend aus dem sandigen Boden hinter ihnen eine Fontane steil in den Himmel schoss, die unermesslichen Reichtum verhie?. War das wirklich so gewesen? In Giganten gab es diese Szene mit James Dean. Jorensen liebte den Film. Er mochte die Szene mit Dean weit mehr als die mit Bruce Willis in Armageddon, obwohl die auf einer richtigen Plattform spielte und Giganten in der texanischen Wuste. Den lachenden, wild umherspringenden, schwarz gesprenkelten James Dean zu sehen war ein bisschen, als sa?e man auf Gro?vaters Scho? und lie?e sich von damals erzahlen, als Opa selber noch jung und uberhaupt alles besser war. Und man lauschte und glaubte jedes Wort und glaubte es doch wieder nicht.
Opa. Genau! Er war ein Opa. Wenige Monate noch, dachte Jorensen. Dann hab ich’s hinter mir. Aus, passee. Mir wird es jedenfalls besser gehen als denen, die heute jung sind. Mich konnen sie nicht mehr wegrationalisieren, ich hore von selber auf, und Rente gibt es auch noch. Fast konnte man sich schuldig fuhlen abzuhauen, bevor das Ende uber die Inseln kommt. Aber es ist dann nicht mehr mein Problem. Ich werde andere haben. Ein Gerausch naherte sich von der weit entfernten Kuste her. Ein rhythmisches Drohnen, das zum Knattern eines Helikopters wurde. Jorensen legte den Kopf in den Nacken. Er kannte alle Modelle, die hier verkehrten. Selbst auf die Entfernung und trotz der schlechten Wetterverhaltnisse sah er, dass ein Bell 430 uber Gullfaks hinwegzog und im Dunst verschwand. Das Schlagen der Rotorblatter wurde wieder zu einem Wummern, entfernte sich und erstarb schlie?lich ganz. Staubfeine Regenpartikel uberzogen das Gelander mit feuchtem Glanz. Jorensen uberlegte, ob er ins Innere gehen sollte. Er hatte eine Stunde Leerlauf, was selten genug vorkam, und er konnte fernsehen oder lesen oder sich mit jemandem zum Schach treffen. Aber er hatte keine Lust hineinzugehen. Nicht heute, da ihm zumute war, als bewohne er einen stahlernen Sarg. Nicht auch noch ins Innere und sich begraben lassen. Wenigstens das Meer sah aus wie immer, grau, zerkluftet, ein stetiges Auf und Ab.
Weit hinter dem Turm, an der Spitze des Auslegers, brannte blass die Gasflamme. Das Leuchtfeuer der Verlorenen. Hey, das war gut! Das klang wie ein Filmtitel! Nicht schlecht fur einen alten Sack, der seit Jahr und Tag den Hubschrauber— und Schiffsverkehr uberwachte.
Vielleicht sollte er ein Buch schreiben nach seiner Pensionierung. Uber die Zeit, an die man sich in wenigen Jahrzehnten kaum noch wurde erinnern konnen. Die Zeit der gro?en Plattformen.
Und der Titel wurde lauten: Das Leuchtfeuer der Verlorenen.
Opa, erzahl uns eine Geschichte. Jorensens Laune besserte sich etwas. Gar keine schlechte Idee, das. Vielleicht war es ja doch kein solcher Schei?tag.
Gerhard Bohrmann hatte das Gefuhl, in Treibsand zu versinken.
Er lief abwechselnd zu Suess und zu Mirbach, die den Computer unentwegt neue Szenarien durchrechnen lie?en, mit immer fataleren Ergebnissen. Zwischendurch versuchte er Sigur Johanson zu erreichen, aber der ging nicht ran. Er versuchte es in Johansons Sekretariat an der NTNU, und man sagte ihm, der Doktor sei verreist und kame wohl auch nicht zur Vorlesung. Genau genommen kame er auf unabsehbare Zeit gar nicht mehr. Er sei fur andere Aufgaben freigestellt worden, offenbar im Auftrag der Regierung. Bohrmann konnte sich ungefahr denken, welche Aufgaben das waren. Er versuchte es bei Johanson zu Hause. Dann wieder auf dem Handy. Nichts.
Schlie?lich besprach er sich ein weiteres Mal mit Suess.
»Es muss doch sonst noch jemanden geben aus Johansons Dunstkreis, der fahig ist, eine Entscheidung zu treffen«, sagte Suess.
Bohrmann schuttelte den Kopf.
»Alles Statoil-Leute. Da konnen wir’s genauso gut fur uns behalten. Und was Vertraulichkeit angeht — wenn wir das Thema weiter vertraulich behandeln, und es kommt zum Storegga-Effekt, wird man uns das derma?en dick aufs Brot schmieren, dass es keiner schlucken kann.«