»Ich auch nicht.« Er beugte sich vor. »Je mehr ich jemanden mag, desto bloder stelle ich mich an, es ihm zu sagen. Was dich angeht, bin ich wahrscheinlich der gro?te Blodmann aller Zeiten.«
»War das ein Kompliment?«
»Mindestens.«
Er schloss die Tur. Der Pilot warf die Rotoren an. Langsam hob der Bell ab, und Lunds winkende Gestalt wurde kleiner. Dann senkte der Helikopter die Nase und flog hinaus auf den Fjord. Das Forschungszentrum blieb als Spielzeugbau zuruck. Johanson machte es sich bequem und sah nach drau?en, aber die Sicht gab nicht viel her. Trondheim verschwand im Dunst, Wasser und Berge zogen als farblose Flachen unter ihnen dahin, und der Himmel sah aus, als wolle er sie verschlucken.
Das dumpfe Gefuhl uberkam ihn wieder.
Angst.
Angst wovor?
Das ist nur ein Flug mit dem Hubschrauber, sagte er sich. Auf die Shetland-Inseln. Was soll schon passieren?
Manchmal hatte man eben so Anwandlungen. Zu viel Methan und Monsterkram. Dazu das Wetter. Vielleicht hatte er einfach ausgiebiger fruhstucken sollen.
Er zog den Gedichtband aus der Reisetasche und begann zu lesen.
Uber ihm wummerten dumpf die Rotoren. Sein Mantel, in dem sein Handy steckte, lag zusammengeknullt auf der Sitzreihe hinter ihm. Dies und der Umstand seiner Versunkenheit in die Poesie Walt Whitmans fuhrten dazu, dass er nicht horte, als es klingelte.
Stone hatte beschlossen, vor dem Einsteigen ein paar Worte zu sagen, wahrend ihn der Kameramann filmte und der andere Typ Fotos schoss. Es sollte eine genaue Dokumentation uber den Verlauf des Unternehmens werden. Bei Statoil sollten sie sich ins Gedachtnis rufen, wie professionell ein Clifford Stone zu arbeiten wusste und was er unter Verantwortung verstand.
»Einen Schritt nach rechts«, sagte der Kameramann.
Stone gehorchte und scheuchte dabei zwei Techniker aus dem Bild. Dann uberlegte er es sich anders und winkte sie wieder herbei.
»Schrag hinter mich«, sagte er. Es sah moglicherweise besser aus, wenn Techniker im Bild waren. Nichts sollte den Eindruck erwecken, als seien hier Hasardeure und Abenteurer am Werk.
Der Kameramann schraubte sein Stativ hoher.
»Konnen wir endlich?«, rief Stone.
»Moment noch. Es sieht komisch aus. Sie verdecken den Piloten.«
Stone trat einen weiteren Schritt zur Seite.
»Und?«
»Besser.«
»Nicht die Fotos vergessen«, wies Stone den zweiten Mann an. Der Fotograf kam naher und betatigte, wie um den Expeditionsleiter zu beruhigen, den Ausloser.
»Okay«, sagte der Kameramann. »Lauft.« Stone blickte entschlossen in die Linse.
»Wir werden jetzt runtergehen, um zu sehen, was aus unserem Prototyp geworden ist. Augenblicklich scheint es, als sei die Fabrik von ihrem ursprunglichen … ah … wo sie vorher stand … Mist.«
»Kein Problem. Nochmal.«
Diesmal klappte alles. Stone erklarte in sachlichen Worten, dass sie vorhatten, fur die Dauer einiger Stunden nach der Fabrik zu suchen. Er gab einen Abriss uber den bisherigen Erkenntnisstand, kam kurz auf die veranderte Morphologie des Hangabschnitts zu sprechen und gab seiner Meinung Ausdruck, die Fabrik musse infolge einer lokalen Destabilisierung des Sediments abgerutscht sein. Es klang alles sehr profund. Vielleicht zu sachlich. Stone, nicht eben ein Showtyp, erinnerte sich, dass alle gro?en Entdecker und Erkunder irgendeinen klugen Satz gesagt hatten, bevor oder nachdem sie die Armel hochkrempelten. Etwas, das prima klang. Es ist nur ein kleiner Schritt fur mich, aber ein gro?er Schritt fur die Menschheit. So was. Das war Masse gewesen. Naturlich hatten sie Neil Armstrong vorher eingescharft, das zu sagen, als ware er je von selber drauf gekommen, aber egal. Ich kam, sah und siegte, auch nicht schlecht. Julius Casar. Hatte Kolumbus irgendwas gesagt? Jacques Picard?
Er uberlegte. Ihm fiel nichts ein.
Aber man musste ja nicht alles selber erfinden. Bohrmanns besinnliche Worte uber bemannte Tauchfahrten hatten auch nicht schlecht geklungen. Stone rausperte sich.
»Naturlich konnten wir einen Roboter nach unten schicken«, sagte er abschlie?end. »Aber es ist nicht dasselbe. Ich kenne jede Menge Videoaufzeichnungen von Robotern. Hervorragendes Material.« Wie war das noch gewesen? Ach ja: »Aber selber da drin zu sitzen, selber unten zu sein, diese Dreidimensionalitat — man kann sich das nicht vorstellen. Es ist unvergleichlich. Und … es gibt uns schlicht den besseren Uber … ah, besseren Einblick … um zu sehen, was da los ist … ahm, und was wir tun konnen.«
Der letzte Satz war lausig gewesen.
»Amen«, sagte Alban leise im Hintergrund.
Stone drehte sich um, kroch unter das Tauchboot und schob sich durch das Loch. Der Pilot streckte ihm die Hand entgegen, aber Stone ignorierte die Hilfe. Er stemmte sich hoch und nahm Platz. Es war ein bisschen wie in einem Hubschrauber zu sitzen. Oder in einer Hightech-Attraktion in Disneyland. Das Seltsamste war das Empfinden, nach wie vor drau?en zu sein, nur dass die Gerausche vom Deck nicht mehr ans Ohr drangen. Die Kugel aus zentimeterdickem Acryl, hermetisch abgeschlossen, lie? nichts durch.
»Muss ich Ihnen noch irgendwas erklaren?«, fragte Eddie freundlich.
»Nein.«
Eddie hatte ihn schon zuvor geschult. Er hatte es sehr grundlich getan auf seine ruhige Art. Stone warf einen Blick auf die kleine Computerkonsole vor ihnen. Seine Rechte glitt uber die Steuerelemente seitlich des Sessels. Drau?en schoss der Fotograf eifrig Bilder, und der Kameramann filmte.
»Fein«, sagte Eddie. »Dann mal rein ins Vergnugen.«
Ein Ruck ging durch das Boot. Plotzlich schwebten sie uber dem Deck, glitten langsam daruber hinweg. Unter ihnen war die bewegte Wasseroberflache zu sehen. Es herrschte ziemlicher Seegang. Einen Moment hingen sie reglos da und sahen auf das Heck der Thorvaldson. Alban hob die Hand mit aufgerichtetem Daumen. Stone nickte ihm kurz zu. In den nachsten Stunden wurden sie nur uber das Unterwassertelefon kommunizieren konnen. Kein Glasfaserkabel verband das Tauchboot mit dem Mutterschiff, nichts au?er Schallwellen. Sobald der Ausleger sie ausgeklinkt hatte, waren sie auf sich allein gestellt.
Stones Magen begann zu kribbeln.
Es ruckte erneut. Uber ihnen erscholl ein Klonk, als sich die Trossen losten. Das Boot senkte sich hinab, wurde von einer Welle hochgehoben dann schoss gurgelnd Meerwasser in die Kufen, als Eddie die Tanks flutete. Die See schlug uber der Kugel zusammen. Wie ein Stein begann das Deep Rover zu sinken, rund drei?ig Meter in der Minute. Stone starrte hinaus. Bis auf zwei kleine Positionsleuchten an den Kufen waren alle Lichter ausgeschaltet. Es galt Strom zu sparen, den sie unten brauchen wurden.
Kaum Fische lie?en sich blicken. Nach hundert Metern verdunkelte sich das tiefe Blau der See und ging in samtene Finsternis uber.
Drau?en blitzte etwas auf wie ein Feuerwerkskorper.
Erst einmal, dann uberall um sie herum. »Leuchtquallen«, sagte Eddie. »Nett, nicht?« Stone war fasziniert. Er hatte schon einige Tauchgange hinter sich, aber noch keinen im Deep Rover. Es schien tatsachlich, als sei nichts zwischen ihnen und dem Meer. Selbst die rot glimmenden Kontrolllampen der Konsole und Bedieninstrumente schienen sich zu den Schwarmen fluoreszierender Tierchen gesellen zu wollen, die drau?en vorbeiwimmelten. Der Gedanke, dass in diesem fremdartigen Universum seine Fabrik stehen sollte, erschien ihm plotzlich derma?en absurd, dass er kurz davor stand loszulachen.
Ich bin der Initiator dieses Projekts, dachte er. Sollte ich zu lange am Schreibtisch gesessen haben, dass ich mir selber nicht mehr vorstellen kann, wie die Wirklichkeit beschaffen ist?
Er streckte die Beine aus, so weit es ging. Sie redeten wenig, wahrend es weiter abwarts ging. Mit zunehmender Tiefe kuhlte es im Innern der Kugel ab, ohne dass es wirklich ungemutlich wurde. Im Vergleich zu Tauchbooten wie Alvin, MIR oder Shinkai, die in 6000 Meter Tiefe vorstie?en, verfugte das Deep Rover uber ein geradezu luxurioses System zur Regulierung der Innentemperatur. Vorsorglich hatte Stone dicke Socken angezogen — Schuhe waren in Tauchbooten nicht erlaubt, um nicht durch zufallige Tritte Instrumente zu zerstoren — und einen warmen, wollenen Pullover. Trotz der Kuhle war ihm behaglich. Eddie neben ihm wirkte entspannt und konzentriert. Hin und wieder drang eine larmende Stimme aus dem Lautsprecher, Kontrollanrufe des Technikers auf der Thorvaldson. Die Worte waren verstandlich, aber verzerrt, weil sich die Schallwellen mit tausend anderen Gerauschen unter Wasser mischten.