Sie sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt losginge, kame sie punktlich ins Fiskehuset. So punktlich, dass es fast schon peinlich war, fand sie plotzlich. Wer so punktlich ist, hat’s notig. Ein paar Minuten Verspatung wurden sie womoglich souveraner dastehen lassen.

Blode Kuh.

Aber sie musste ja nicht ins Fiskehuset hetzen.

Die beiden Alten bestanden auf einer Umarmung. Sie sei die Richtige fur Kare, schworen sie, eine, die nicht reinspuckt, wenn guter Aquavit serviert wird. Lund musste diverse Komplimente, Witzeleien und gute Ratschlage uber sich ergehen lassen, bis einer der beiden sie schlie?lich aus dem Keller nach oben brachte. Er offnete ihr die Haustur, sah den schrag herniederprasselnden Regen und befand, ohne Schirm konne sie da nicht rausgehen. Vergebens bemuhte sie sich, ihm klar zu machen, dass sie bei Regen grundsatzlich ohne Schirm nach drau?en ging. Dass es zu ihrem Beruf gehorte, sich bei jedem Wetter im Freien herumzutreiben. Ebenso gut hatte sie sich mit dem Fu?boden unterhalten konnen. Der Alte ging einen Schirm holen. Es folgte eine neuerliche Umarmung, dann endlich war sie der Fursorge der Schnapsbrenner entkommen und stapfte durch den Regen zuruck in Richtung Restaurant, den geschlossenen Schirm in der Rechten.

Das kann ja heiter werden, dachte sie.

Der Himmel war noch schwarzer geworden, und der Wind blies mit zunehmender Heftigkeit. Sie ging schneller. Hatte sie nicht eben noch vorgehabt, sich Zeit zu nehmen? Du kannst einfach nichts langsam machen, dachte sie. Johanson hat vollkommen Recht. Du lebst standig auf Vollgas.

Na, wenn schon. So war sie eben, und au?erdem wollte sie jetzt endlich zu dem Mann, den sie beschlossen hatte zu lieben.

Von irgendwoher erklang ein leises Signal. Sie blieb stehen. Das war ihr Handy! Er rief an! Verdammt, seit wann schellte es schon? Atemlos zog sie den Rei?verschluss ihrer Jacke herunter und fingerte im Innern nach dem Telefon. Wahrscheinlich hatte er schon mehrfach angerufen, aber in dem Keller durfte sie kaum Empfang gehabt haben.

Da war es. Sie zerrte es hervor und meldete sich in Erwartung, Kares Stimme zu horen. »Tina?« Sie stutzte. »Sigur. Oh, das ist … das ist schon, dass du anrufst, ich …« »Wo warst du denn, verdammt? Ich versuche die ganze Zeit, dich zu erreichen.« »Tut mir Leid, ich …« »Wo bist du jetzt?« »In Sveggesundet«, sagte sie zogernd. Seine Stimme klang atmospharisch verzerrt, und offenbar sprach er gegen irgendein lautes Drohnen an, aber da war noch etwas anderes. Etwas, das sie nie zuvor an ihm gehort hatte und das ihr Angst machte. »Ich gehe am Strand entlang, es ist ein widerliches Dreckswetter, aber du kennst mich ja …«

»Hau ab!«

»Was?«

»Du sollst machen, dass du da wegkommst.«

»Sigur! Bist du noch bei Trost?«

»Jetzt, sofort.« Er redete weiter, atemlos. Die Worte prasselten auf sie ein wie der Regen, immer wieder gestort durch atmospharisches Krachen und Rauschen, sodass sie erst glaubte, sich verhort zu haben. Dann begriff sie allmahlich, was er ihr erzahlte, und ihre Beine schienen sich fur einen Moment in Gummi zu verwandeln.

»Ich wei? nicht, wo das Epizentrum liegt«, plarrte sein Stimme. »Offenbar braucht die Welle langer bis zu euch, aber egal, dir bleibt keine Zeit. Hau ab, um Gottes willen, mach, dass du da wegkommst!«

Sie starrte hinaus aufs Meer.

Der Sturm trieb flockige Brandung vor sich her.

»Tina?«, schrie Johanson.

»Ich … okay.« Sie sog den Atem ein, pumpte ihre Lungen voll Luft. »Okay. Okay!«

Sie warf den Schirm von sich und begann zu laufen.

Durch den Regen konnte sie die Lichter der Restaurants erkennen, gelb und einladend. Kare, dachte sie. Wir mussen einen der Wagen nehmen, deinen oder meinen. Den Jeep hatte sie funfhundert Meter oberhalb des Restaurants gelassen, aber Kare besa? einige Stellplatze neben dem Fiskehuset, wo fur gewohnlich auch sein Wagen stand. Wahrend sie rannte, versuchte sie zu erkennen, ob er dort parkte. Regen lief ihr in die Augen, und sie wischte ihn zornig weg. Dann fiel ihr ein, dass sich die restauranteigenen Platze auf der anderen Seite des Gebaudes befanden, die von hier nicht zu sehen waren, und sie lief noch schneller.

In das Heulen des Windes und das Tosen der Brandung mischte sich ein neues Gerausch. Eine Art lautes Schlurfen.

Ohne innezuhalten wandte sie den Kopf.

Etwas Unvorstellbares geschah. Lund geriet ins Stolpern und konnte nicht anders, als stehen zu bleiben und zuzusehen, wie das Meer verschwand, als habe jemand irgendwo den Stopsel gezogen. Eine Flache schwarzen, zerklufteten Untergrunds kam zum Vorschein, so weit das Auge reichte.

Wie im Zeitraffer wich die See zuruck.

Dann horte sie das Donnern.

Sie blinzelte und wischte erneut Regenwasser aus ihren Augenwinkeln. Fern am Horizont manifestierte sich etwas Diffuses, Gewaltiges in dem Unwetter und nahm langsam Gestalt an. Zuerst glaubte sie, eine noch schwarzere Wolkenfront zoge dort auf. Doch die Front kam zu schnell naher, und ihre Oberkante war zu gerade.

Lund machte unwillkurlich einen Schritt nach hinten.

Sie begann wieder zu rennen.

Ohne Auto war sie verloren, das stand au?er Frage. Erst hinter dem Ort, zum Festland hin, fuhrte die Stra?e auf hoheres Gelande. Sie atmete gleichma?ig und tief, um die aufkommende Panik zuruckzudrangen, und spurte das Adrenalin in ihre Muskeln schie?en. Sie hatte Kraft genug, um endlos weiterlaufen zu konnen, nur dass es ihr nichts nutzen wurde. Die Welle war auf alle Falle schneller.

Vor ihr gabelte sich der Weg, links ging es weiter zum Restaurant, rechts fuhrte eine Abkurzung von der Kuste hoch zu dem offentlichen Platz, wo Johansons Jeep stand. Wenn sie jetzt dort hinauf lief, wurde sie es bis zum Wagen schaffen. Dann die Stra?e hoch, uber die Anhohe, alles was der Motor hergab. Aber was wurde aus Kare, wenn sie fuhr? Er ware verloren. Nein, unmoglich, undenkbar, sie konnte nicht einfach verschwinden und ihn hier zurucklassen. Sie wollte nicht weg ohne ihn. Die beiden Alten in der Brennerei hatten gesagt, er sei auf direktem Weg ins Fiskehuset gefahren. Gut so, also war er dort, er war dort und wartete auf sie, und er verdiente nicht, allein gelassen zu werden. Sie verdiente nicht langer, allein zu sein. Kein Mensch verdiente es.

Mit Riesensatzen lief sie an der Gabelung vorbei und weiter auf das erleuchtete Gebaude zu. Es war nun nicht mehr weit bis zum Fiskehuset. Sie hoffte instandig, dass sein Wagen dort stunde. Das Donnern kam jetzt sehr schnell naher, aber sie versuchte es zu ignorieren und sich nicht lahmen zu lassen von der Angst. Auch sie war schnell. Sie wurde schneller sein als die verfluchte Welle, ihre Schnelligkeit wurde fur zwei reichen.

Die Terrassentur des Restaurants flog auf. Jemand sturzte nach drau?en und verharrte, den Blick aufs Meer gerichtet.

Es war Kare.

Sie begann seinen Namen zu rufen. Ihre Stimme verlor sich im Heulen des Windes und dem Donnern der herannahenden Welle. Sverdrup starrte hinaus aufs Meer, ohne zu reagieren. Er kam nicht einmal auf die Idee, in ihre Richtung zu schauen, so verzweifelt sie auch seinen Namen schrie.

Dann lief er fort.

Er verschwand auf der anderen Seite des Hauses. Lund stohnte auf. Fassungslos hetzte sie weiter. Im nachsten Moment horte sie schwach das Aufhusten eines Motors durch den Sturm heruberdringen. Sekunden spater erschien Kares Wagen an der Ruckseite des Restaurants und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit die Stra?e hinauf und auf die Anhohe zu.

Ihr Herz drohte stillzustehen.

Das konnte er nicht tun. Er konnte nicht ohne sie fahren.

Er musste, musste sie doch gesehen haben!

Er hatte sie nicht gesehen.

Kare wurde es schaffen. Vielleicht.

Mutlosigkeit uberkam sie. Sie lief weiter, nun nicht mehr zum Restaurant, sondern durch Gestrupp und Steine hinauf zum Parkplatz. Nachdem sie die Weggabelung verpasst hatte, musste sie durch einen Streifen felsigen Gelandes, und hier kam sie weniger schnell voran. Aber es war der einzige Weg, der ihr noch blieb. Ihre letzte Chance war der Jeep. Nach wenigen Metern gelangte sie an eine Absperrung, ein zwei Meter hohes Drahtgitter. Sie griff in die Maschen, zog sich hoch. Mit einem Satz war sie auf der anderen Seite. Wieder hatte sie wertvolle Sekunden verloren, wahrend derer die Welle naher kam. Aber dafur sah sie plotzlich die schwarze Silhouette des Jeeps hinter Vorhangen aus Regen, und er war naher, als sie gedacht hatte, zum Greifen nahe.