Sie lief noch schneller. Die Felsen endeten, gingen in Wiese uber. Da war der Beton des Parkplatzes unter ihren Fu?en. Gut so! Und dort der Wagen. Vielleicht hundert Meter noch. Weniger. Vielleicht funfzig.

Vierzig.

Lauf, Tina. Lauf!

Der Beton erbebte. In Lunds Ohren drohnte und hammert das Blut.

Lauf!

Ihre Hand glitt in die Jackentasche, umfasste den Autoschlussel. Ihre Stiefelsohlen hammerten einen gleichma?igen Takt. Auf den letzten Metern rutschte sie aus, aber egal, sie war da, ihr Korper schlug gegen den Wagen, aufschlie?en, schnell!

Sie spurte, wie ihr der Schlussel entglitt.

Nein, dachte sie, bitte nicht. Nicht das.

Panisch fingerte sie danach, wirbelte herum. Oh Gott, wo war der verdammte Schlussel, er musste hier liegen, irgendwo, bitte!

Dunkelheit senkte sich herab.

Langsam hob sie den Kopf und sah die Welle.

Plotzlich hatte sie keine Eile mehr. Sie wusste, dass es zu spat war. Sie hatte schnell gelebt, sie wurde schnell sterben. Sie hoffte wenigstens, dass es schnell ging. Manchmal hatte sie sich gefragt, wie es ware zu sterben, was einem im Kopf herumgehen mochte, wenn man definitiv erkannte, dass es so weit war und kein Weg daran vorbeifuhrte. Der Tod wurde sagen, ich bin da. Du hast funf Sekunden, mach dir ein paar Gedanken, was immer du willst, wir sind heute gro?zugig, und wenn du mochtest, kannst du dein ganzes Leben nochmal Revue passieren lassen, die Zeit bekommst du. War es nicht so? Hie? es nicht, dass man erstaunlicherweise — in einem sich uberschlagenden Auto etwa, im Angesicht eines abgefeuerten Projektils, im Verlauf eines todlichen Sturzes — sein komplettes Leben an sich voruberziehen sah, Bilder aus der Kindheit, die erste Liebe, eine Art Best of? Jeder sagte, dass es so war, also musste es stimmen.

Aber das Einzige, was Lund empfand, war Angst, der Tod konne ihr wehtun und sie wurde Schmerzen leiden mussen. Und dann fuhlte sie eine gewisse Scham, dass sie so erbarmlich enden musste. Dass sie es verpatzt hatte. Das war alles. Kein inneres Hollywood. Keine gro?en Gedanken. Kein wurdiger Abschluss.

Vor ihren Augen krachte der Tsunami in Kares Sverdrups Restaurant, schlug es in Trummer und fegte daruber hinweg.

Die Wasserwand erreichte den Parkplatz.

Sekunden spater schoss sie die Anhohe hinauf.

Der Schelf

Als die Welle im Verlauf ihrer Ausbreitung das umliegende Festland erreichte, hatte sie auf dem Schelf bereits unvorstellbare Zerstorungen hinterlassen.

Ein Teil der Bohrplattformen und Pumpstationen, die man direkt an den Kontinentalrand gebaut hatte, war mit dem abrutschenden Hang in der Tiefe verschwunden. Das allein kostete innerhalb weniger Minuten Tausende von Menschen ihr Leben, aber es war nur ein Vorgeschmack dessen, was der Tsunami auf dem Schelf anrichtete. Wie bei einem Auffahrunfall turmten sich die nachdrangenden Wassermassen zu einer senkrechten Front ubereinander, die umso hoher wuchs, je flacher es wurde. Unter ihrem Aufprall knickten die Gestange der Bohrplattformen, die nach Gerustbauweise konstruiert waren, wie Streichholzer ein. Im Verlauf von nicht einmal funfzehn Minuten kenterten uber achtzig Plattformen, weil sie der Belastung nicht standhielten. Dabei wurde ihnen weniger die Hohe der Wasserwand zum Verhangnis — Nordseebohrinseln waren darauf ausgerichtet, von einer knapp vierzig Meter hohen Welle unterlaufen zu werden, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen, was statistisch einmal in hundert Jahren erwartet wurde —, sondern das Zusammentreffen etlicher Faktoren.

In gewohnlichen Brechern waren schon zwolf Tonnen Druck pro Quadratmeter gemessen worden. Das reichte aus, um Hafendamme loszurei?en und im Stadtzentrum wieder abzusetzen, kleinere Schiffe durch die Luft zu wirbeln und gro?e Frachter und Tanker in zwei Teile zu zerschlagen. Es waren winderzeugte Wellen, die das zustande brachten. Ihre Aufprallenergie berechnete sich anders als die von Tsunamiwellen. Man konnte auch sagen, gegen eine Tsunamiwelle von gleicher Gro?e nahm sich selbst ein solcher Brecher lammfromm aus.

Der Tsunami, den die Rutschung ausloste, erreichte auf dem mittleren Schelf Kammhohen bis zu zwanzig Meter, aber damit ging er immer noch unter den Decks der Plattformen hindurch.

Umso fataler war die Wucht, mit der er gegen die tragenden Konstruktionen schmetterte.

Olplattformen, ebenso wie Schiffe und uberhaupt alles, was der langfristigen Einwirkung des Meeres unterworfen war, mussten einer definierten Beanspruchung standhalten, die in Jahren ausgedruckt wurde. Legte man die Vierzig-Meter-Welle zugrunde, die von Plattformkonstrukteuren einmal in hundert Jahren erwartet wurde, baute man die Plattform demnach so, dass sie mit der Welle fertig wurde. Einer nicht sehr vertrauenerweckenden Logik folgend erhielt die Plattform damit den Status einer 100-Jahre-Beanspruchung. Statistisch gesehen hatte sie den Belastungen von Wind und See nunmehr einhundert Jahre standzuhalten. Das hie? naturlich nicht, dass sie einhundert Jahre lang pausenlos Extremwellen verkraften konnte. Moglicherweise verkraftete sie aber trotz ihrer Klassifizierung nicht mal die eine gro?e, weil Verschlei? selten das Resultat von Monsterwellen war und weit ofter Folge des alltaglichen Gezerres an der Konstruktion durch kleinere Wellen und Stromungen. Jeder technischen Konstruktion entstand auf diese Weise ziemlich schnell eine Achillesferse, ohne dass man in den meisten Fallen zu sagen vermochte, wo genau sie sich befand. Hatte eine solche Stelle im Verlauf der ersten zehn Jahre schon die Belastungen von funfzig Jahren wegstecken mussen, konnte eine durchschnittliche Welle plotzlich zum Problem werden.

Rechnerisch lie? sich die Nuss kaum knacken. Statistische Mittelwerte, wie sie fur den Bau meerestechnischer Konstruktionen herangezogen wurden, trafen lediglich Aussagen uber Idealbedingungen, nicht uber die Realitat. Durchschnittsbeanspruchungen mochten in den Buros und Kopfen der Konstrukteure Gultigkeit haben. Die Natur kannte keinen Durchschnitt, und sie hielt sich nicht an Statistiken. Sie war eine Aufeinanderfolge unkalkulierbarer Momentzustande und Extreme. Auf einem Gewasser wurden vielleicht durchschnittlich zehn Meter hohe Wellen nachgewiesen, aber wenn man dem einen Drei?ig-Meter-Exemplar begegnete, das statistisch gar nicht existierte, half einem der Mittelwert wenig, und man starb.

Als der Tsunami durch die Landschaft der Stahlturme fegte, uberschritt er deren Beanspruchungsgrenze innerhalb eines Augenblicks.

Trager brachen, Schwei?nahte rissen auf, Deckaufbauten kippten ab. Vor allem auf der britischen Seite, wo man Stahlrohrgerusten den Vorrang gab, zertrummerte die Aufprallenergie der Welle nahezu jede Konstruktion oder fugte ihr erheblichen Schaden zu.

Norwegen hatte sich schon Jahre zuvor auf Stahlbetonpfeiler spezialisiert. Hier fand der Tsunami weniger Angriffsflache. Dennoch war das Desaster nicht minder gewaltig, denn die Welle schleuderte riesige Geschosse in die Forderturme: Schiffe.

Die meisten Schiffe waren Sturmwellen von 20 Metern Hohe theoretisch nicht gewachsen. Die Festigkeit von Schiffsrumpfen orientierte sich an einer statistischen Wellenhohe von 16,5 Metern. In der Praxis sah es dann doch anders aus. Mitte der Neunziger hatten Monsterwellen oberhalb Schottlands ein hausgro?es Loch in den 3000-Tonnen-Tanker Mimosa geschmettert, aber das Schiff entkam. 2001 versenkte ein 35-Meter-Brecher vor Sudafrika fast das Kreuzfahrtschiff MS Bremen, aber eben nur fast. Im selben Jahr war die Endeavour, ein Schiff von 90 Metern Lange, in Hohe der Falklands einem Phanomen zum Opfer gefallen, das die Wissenschaft als ›Drei Schwestern‹ kannte — drei dicht aufeinander folgende Wellen von je 30 Meter Hohe. Die Endeavour wurde schwer beschadigt, doch es gelang ihr, sich in den Hafen zu retten.