Dann dachte er nichts mehr. Nur noch: Du bist tot.

Mit ohrenbetaubendem Prasseln landete die Hauswand in einem gro?en Baum, der erstaunlicherweise noch stand. Olsen wurde kopfuber aus dem Fensterrahmen geschleudert. Seine Hande griffen ins Leere, bekamen etwas zu fassen. Blatter und Rinde. Unter sich sah er die schlammige Flut dahinbrausen. Er klammerte sich an den Ast, schwang zappelnd in der Luft und begann, sich hochzuziehen. Von oben regneten Teile des Giebels herab, Planken und Verputz. Sie verfehlten ihn knapp. Das dahinschie?ende Wasser riss gro?e Teile der Fassade weg. Was einmal die Vorderfront seines Hauses gewesen war, verformte sich, splitterte und brach kreischend auseinander. In panischer Angst versuchte Olsen, naher an den Stamm zu gelangen. Seitlich unter ihm entsprang ein dickerer Ast, den er erreichen konnte. Vielleicht wurde er seine Fu?e darauf stellen konnen. Er spurte, wie der riesige Baum achzte und wankte, und hangelte sich keuchend vorwarts.

Krachend sturzten die letzten Reste der Hauswand, Laub und Aste mit sich rei?end, in die Flut. Ein Ruck fuhr durch Olsens Ast. Seine Finger glitten ab. Plotzlich hing er nur noch an einer Hand. Er schaute zwischen seinen Fu?en hindurch und fuhlte seine Kraft erlahmen. Wenn er jetzt sturzte, ware sein Schicksal besiegelt. Muhsam drehte er den Kopf und versuchte, einen Blick auf sein Haus zu erhaschen, beziehungsweise auf das, was davon noch ubrig war.

Bitte, dachte er. Lass sie nicht tot sein.

Das Haus stand noch.

Und dann sah er seine Frau.

Sie hatte sich auf Hande und Knie niedergelassen, war bis zur Kante gekrochen und sah zu ihm heruber. In ihren Zugen lag eine grimmige Entschlossenheit, als wolle sie sich im nachsten Moment ins Wasser sturzen, um ihm zur Hilfe zu kommen. Naturlich konnte sie ihm kein bisschen helfen, aber sie war da, und sie rief seinen Namen. Ihre Stimme klang fest und beinahe zornig, als solle er endlich seinen verdammten Arsch in Sicherheit bringen und nach Hause kommen, wo man auf ihn wartete.

Olsen sah sie einen Moment lang einfach nur an.

Dann spannte er die Muskeln. Seine freie Hand langte nach oben, packte zu. Er krallte die Finger ins Holz und begann, weiter vorzurucken, bis seine Fu?e direkt uber dem dicken Ast schwebten. Langsam lie? er sich darauf nieder. Jetzt hatte er festen Halt. Er stand. Ein Zucken durchlief seine Schultern. Er loste die Finger, umschlang den Stamm, fuhlte die Not des Baumes, sich zu halten in der Flut, druckte sein Gesicht gegen die Rinde und sah weiter hinuber zu seiner Frau.

Es dauerte endlos. Der Baum hielt stand, und auch das Haus.

Als das Wasser seinen Tribut ins Meer gezogen hatte, stieg er endlich zitternd hinab in die Wuste aus Trummern und Schlamm. Er half seiner Frau und seinen Kindern, das Haus zu verlassen. Sie nahmen das Notigste mit, Kreditkarten, Geld, Papiere und einige hastig zusammengesuchte personliche Erinnerungen, die sie in zwei Rucksacke packten. Olsens Auto war irgendwo in der Flut verschwunden. Sie wurden laufen mussen, aber alles war besser, als hier zu bleiben.

Schweigend verlie?en sie ihre zerstorte Stra?e, liefen auf die andere Seite des Flusses und fort von Trondheim.

Fiasko

Die Welle breitete sich weiter aus.

Sie uberflutete die Ostkuste Gro?britanniens und den danischen Westen. Auf der Hohe von Edinburgh und Kopenhagen wurde der Schelf extrem flach. Unvermittelt erhob sich dort die Doggerbank, ein Relikt aus der Zeit, als Teile der Nordsee noch trockenes Land waren. Die Doggerbank war lange Zeit eine Insel gewesen, auf der sich zahlreiche Tiere vor den immer hoher auflaufenden Fluten zusammengedrangt hatten, bis sie schlie?lich ertranken. Jetzt lag die Bank dreizehn Meter unter dem Meeresspiegel, und sie staute die heranrollende Welle zu neuer Hohe.

Sudlich der Doggerbank standen Plattformen dicht an dicht, insbesondere entlang der britischen Sudostkuste und oberhalb Belgiens und der Niederlande. Die Welle wutete hier noch schlimmer als im nordlichen Teil, jedoch bremste die zerkluftete Struktur des Schelfs mit ihren Sandbanken, Spalten und Graten den Tsunami ab. Die friesischen Inseln wurden vollstandig uberflutet, verringerten die Energie der Welle aber um ein Weiteres, sodass sie Holland, Belgien und Norddeutschland mit verminderter Wucht traf. Nur noch knapp einhundert Stundenkilometer schnell erreichte die Wasserwand schlie?lich Den Haag und Amsterdam und zerstorte gro?e Teile der seenahen Gebiete. Hamburg und Bremen erlebten ein rabiates Hochwasser. Sie lagen weiter im Landesinnern, dafur waren die Mundungen von Elbe und Weser kaum geschutzt. Der Tsunami walzte sich die Flusslaufe entlang und uberschwemmte das Umland, bevor er die Hansestadte erreichte. Selbst in London schwoll kurzzeitig die Themse an, trat uber die Ufer und lie? Schiffe in Brucken krachen.

Die Auslaufer der Flut schossen durch die Stra?e von Dover und waren noch in der Normandie und an der bretonischen Kuste zu spuren. Nur die Ostsee mit Kopenhagen und Kiel entging dem Fiasko. Zwar rollte auch hier schwere See heran, aber wo Skagerrak und Kattegat ineinander flossen, verwirbelte der Tsunami und brach in sich zusammen. Dafur schlug die Welle im hohen Norden gegen die Kuste Islands und erreichte noch Gronland und Spitzbergen.

Die Olsens hatten unmittelbar nach der Katastrophe hoheres Gelande aufgesucht. Knut Olsen vermochte spater nicht zu sagen, warum sie so gehandelt hatten. Es war seine Idee gewesen. Moglicherweise besa? er dunkle Erinnerungen an einen Film uber Tsunamis oder einen Bericht, den er irgendwann gelesen hatte. Vielleicht war es einfach nur Intuition. Aber ihre Flucht rettete der Familie das Leben.

Die meisten Menschen, die das Kommen und Gehen eines Tsunamis uberlebten, starben dennoch. Sie kehrten nach der ersten Welle zuruck in ihre Dorfer und Hauser, um nachzusehen, was ubrig war. Aber Tsunamis breiteten sich in mehreren aufeinander folgenden Wellen aus. Den extrem gro?en Wellenlangen war es zuzuschreiben, dass der nachste Wasserberg erst eintraf, wenn man die Katastrophe schon uberstanden glaubte.

So auch diesmal.

Nach uber einer Viertelstunde jagte die zweite Welle heran, nicht minder gewaltig als die vorangegangene, und erledigte, was der Vorganger nicht geschafft hatte. Eine dritte Welle zwanzig Minuten spater war nur noch halb so hoch, danach kam eine vierte und dann nichts mehr.

In Deutschland, Belgien und den Niederlanden waren die Evakuierungsma?nahmen im Ansatz stecken geblieben, obwohl dort mehr Zeit zur Verfugung gestanden hatte. Aber so ziemlich jeder besa? ein Auto, und jeder hielt es fur eine gute Idee, es zu benutzen und damit die Flucht anzutreten, was unterm Strich eine schlechte Idee war. Keine zehn Minuten nach Eingang der Warnungen waren samtliche Stra?en hoffnungslos verstopft, bis die Welle den Stau auf ihre Weise aufloste.

Eine Stunde, nachdem der Kontinentalhang abgerutscht war, hatte die nordeuropaische Offshore-Industrie aufgehort zu existieren. Fast alle Kustenstadte des umliegenden Festlands waren teilweise bis vollstandig zerstort. Hunderttausende hatten ihr Leben verloren. Lediglich Island und Spitzbergen, ohnehin dunn besiedelt, waren ohne Todesopfer davongekommen.

Die gemeinsame Expedition von Thorvaldson und Sonne hatte erkennen lassen, dass die Wurmer auch im Norden Hydrate zersetzten, bis hinauf nach Tromso. Der Hang war im Suden abgerutscht. Die Auswirkungen des Tsunamis lie?en vorerst keine Beschaftigung mit der Frage zu, ob auch mit einem Kollaps der nordlichen Kante zu rechnen sei. Moglicherweise hatte Gerhard Bohrmann eine Antwort darauf gefunden. Aber nicht einmal Bohrmann wusste, wo genau die Lawinen heruntergekommen waren. Und auch Jean-Jacques Alban, dem es gelungen war, die Thorvaldson weit genug aufs offene Meer und damit in Sicherheit zu bringen, hatte keine Vorstellung von dem, was tief unten wirklich geschehen war.