Nach weiteren zwei Minuten hatte die Gischt die Vororte Stavangers erreicht. Je gro?raumiger sie sich verteilte, desto flacher wurde die brodelnde Flut. Immer noch nahm ihre Geschwindigkeit ab. Das Wasser tobte und spritzte durch die Stra?en, und wer hineingeriet, war hoffnungslos verloren, aber dafur hielten die meisten Hauser dem Druck furs Erste stand. Wer sich deswegen in Sicherheit wahnte, freute sich dennoch zu fruh. Denn der Tsunami verbreitete seinen Schrecken nicht nur bei der Ankunft.
Fast noch schlimmer war es, wenn er ging.
Knut Olsen und seine Familie erlebten den Ruckzug der Welle in Trondheim, wo der Tsunami wenige Minuten spater eingetroffen war.
Im Gegensatz zu Stavanger, das sich wie auf dem Prasentierteller darbot, lag Trondheim geschutzt im Trondheimfjord. Flankiert von gro?eren Inseln und zudem abgeschirmt von einer Landzunge, fuhrte der Fjord fast vierzig Kilometer ins Landesinnere, bevor er sich zu einem breiten Becken offnete, an dessen ostlichem Rand die Stadt erbaut war. Viele norwegische Stadte und Ortschaften lagen am Innenrand oder am Ende von Fjorden auf Wasserhohe. Wer einen Blick auf die Landkarte warf, musste zu dem Schluss gelangen, dass selbst die Wucht einer Drei?ig-Meter-Welle nicht ausreichen wurde, um Trondheim ernsthaft zu gefahrden.
Doch gerade die Fjorde erwiesen sich als Todesfallen.
Geriet ein Tsunami in Meerengen und trichterformige Buchten, wurden die Wassermassen nicht mehr nur von unten gestaut, sondern plotzlich auch von beiden Seiten. Zigtausend Tonnen Wasser quetschten sich durch einen engen Kanal. Die Wirkung war verheerend. Im Sognefjord nordlich von Bergen, der zwar lang, aber schmal war, eingebettet in steile Felswande, stieg die Wellenhohe ein weiteres Mal dramatisch an. Die meisten Ortschaften langs dieses Fjords lagen oberhalb der Klippen auf den Plateaus. Bis zu ihnen spritzte das Wasser, aber gro?ere Schaden blieben aus. Anders am Ende des fast hundert Kilometer langen Fjords, wo auf einer flachen Halbinsel mehrere Kleinstadte und Dorfer beieinander lagen. Die Welle radierte sie aus und wurde erst vom dahinter liegenden Steilgebirge gestoppt. Dabei schlug die Gischt bis in eine Hohe von zweihundert Metern und rasierte jeglichen Pflanzenbewuchs ab, bevor die Wassermassen in sich zusammensturzten und sich in den angrenzenden Flussen weiter fortpflanzten.
Der Trondheimfjord war breiter als der Sognefjord, und seine Wande waren weniger hoch. Weil er zudem nach hinten breiter wurde, konnten sich die Fluten besser verteilen. Dennoch war der Wasserberg, der Trondheim erreichte, noch hoch genug, um uber den Hafen hinwegzufegen und einen Teil der Altstadt zu zerstoren. Die Nidelva schoss uber die Ufer und drangte in die Viertel Bakklandet und Mollenberg. Gischtlawinen mahten die alten Hauser nieder. In der Kirkegata fiel fast jedes Haus dem einstromenden Wasser zum Opfer, auch das von Sigur Johanson. Seine hubsche Fassade wurde eingedruckt, die Holzverkleidung zersplitterte, das Dach sturzte in die zusammenbrechende Front. Die Trummer wurden fortgespult, nunmehr Teil der schaumenden Welle, die erst an den Grundmauern der NTNU ihre Kraft und Energie verlor, in wilden Wirbeln zum Stillstand kam und zuruckzuflie?en begann.
Die Olsens wohnten in einer Stra?e hinter der Kirkegata. Ihr Haus, aus Holz gebaut wie das von Johanson, hielt dem Ansturm des Tsunamis stand. Es zitterte und wankte. In der Wohnung kippten Mobel um, Geschirr ging zu Bruch, und der Boden der vorderen Zimmer neigte sich. Die Kinder gerieten in Panik. Olsen schrie seiner Frau zu, sie in den hinteren Bereich des Hauses zu bringen. Er wusste im Grunde nicht, was das Beste war, aber er dachte, wenn das Wasser von vorn gegen das Haus geschlagen war, musse es im ruckwartigen Teil vielleicht sicherer sein. Wahrend seine Familie dorthin fluchtete, wagte er sich atemlos an eines der vorderen Fenster, um hinauszusehen. Der Holzboden unter seinen Fu?en bog sich weiter und knackte vernehmlich, ohne jedoch einzubrechen. Olsen klammerte sich an den Fensterrahmen, entschlossen, sofort nach hinten zu laufen, wenn eine weitere Welle auf das Haus zurollen sollte. Fassungslos blickte er auf die zerstorte Stadt, sah Baume, Autos und Menschen in den Wasserwirbeln treiben, horte Schreie und das Bersten in sich zusammenbrechender Mauern. Dann erschutterten mehrere Explosionen die Luft, und am Hafen stiegen schwarzrote Wolken empor.
Es war das Grauenhafteste, was er je gesehen hatte. Dennoch verdrangte er den Schock zugunsten des einen Gedankens, seine Familie zu schutzen. Was immer noch auf sie zukommen mochte, entscheidend war, dass seine Kinder und seine Frau uberlebten.
Und er selber, wenn moglich.
Aber wie es schien, kam die Flut zum Stillstand.
Olsen schaute noch eine Weile nach drau?en, dann ging er vorsichtig ins Hinterhaus. Sofort wurde er mit Fragen besturmt. Er sah in die angstgeweiteten Augen seiner Kinder und hob beruhigend die Hand, obwohl ihm schrecklich zumute war. Er sagte, dass wohl alles vorbei sei, und sie sollten sich keine Sorgen machen. Naturlich war nichts in Ordnung, gar nichts. Sie mussten irgendwie aus dem Haus gelangen. Ihm kam die Idee, uber die Dacher zu fluchten, dorthin, wo das Wasser nicht hingelangt war. Seine Frau fand, er habe zu viele Filme von Hitchcock gesehen. Sie fragte ihn, wie er sich das mit vier Kindern vorstelle. Olsen wusste keine Antwort. Sie schlug vor, einfach abzuwarten. Etwas Besseres fiel ihm auch nicht ein, also stimmte er zu und ging wieder nach vorn zum Fenster.
Als er diesmal hinaussah, bemerkte er, dass sich die Flut zuruckzog. Immer schneller strebten die Wassermassen dem Fjord zu.
Wir haben es uberstanden, dachte er.
Er beugte sich weiter vor. Im selben Moment ging ein Ruck durch das Haus. Olsen grub seine Finger in den Rahmen. Der Boden splitterte. Er wollte zuruckspringen, aber da war nichts mehr. Ein riesiges Loch klaffte im Wohnzimmerboden. Regen schlug herein. Olsen kippte nach vorn. Zuerst dachte er, es habe ihn aus dem Fenster gerissen. Dann wurde ihm klar, dass sich die komplette vordere Hauswand abloste, als sei sie eine schlecht aufgeklebte Pappe, und sich der Flut zuneigte.
Er schrie aus Leibeskraften.
Die Menschen auf Hawaii, die seit Generationen mit dem Ungeheuer lebten, wussten sehr genau, was sein Ruckzug bedeutete. Die abflie?enden Wassermassen erzeugten einen gewaltigen Sog, der alles, was noch stand oder sich zu halten versuchte, ins Meer spulte. Alles riss das Wasser mit sich fort. Menschen, die den ersten Akt der Katastrophe uberlebt hatten, starben jetzt, und ihr Sterben verlief weit grausamer als das in der heranrasenden Welle. Es ging einher mit dem aussichtslosen Uberlebenskampf in der brausenden Stromung, mit dem Anschwimmen gegen den unerbittlichen Sog, mit dem Nachlassen der Krafte. Die Muskeln erlahmten. Man wurde von herumwirbelnden Gegenstanden getroffen, Knochen brachen. In verzweifelter Gegenwehr klammerte man sich irgendwo fest, wurde losgerissen und trieb weiter davon zwischen Schlamm und Trummern.
Das Ungeheuer aus dem Meer kam an Land, um zu fressen, und wenn es sich zuruckzog, nahm es seine Beute mit.
All dies hatte Olsen nicht gewusst, als die Hauswand in den Mahlstrom kippte, aber es wurde ihm schlagartig klar, und darum schrie er. Er schrie um sein Leben. Er wusste, dass er nun sterben wurde. Wahrend er fiel, drohnten weitere Explosionen vom Hafen, als demolierte Schiffe und Olanlagen in die Luft flogen. Nahezu jedes elektrische System der Stadt war ausgefallen, Kurzschlusse folgten dicht auf dicht. Vielleicht wurde er schon darum sterben, weil das Wasser unter Starkstrom stand.
Er dachte an seine Familie. An seine Kinder. Seine Frau.
Dann dachte er kurz an Sigur Johanson und seine merkwurdigen Theorien, und er spurte eine rasende Wut in sich aufsteigen. Johanson war schuld. Er hatte ihm etwas verschwiegen. Etwas, das sie hatte retten konnen. Irgendetwas hatte der verdammte Hurensohn gewusst!