Von nun an horte die Zeit endgultig auf zu existieren. Wahrend sie nach Osten vorstie?en und Bylot Island hinter sich lie?en, wurde das Eis rauer, und die Sto?e der Kufen nahmen an Wucht zu. Hier hatten kalte Winde dafur gesorgt, dass die Schmelzwasserpfutzen wieder leicht uberfroren waren. Es klirrte, als fuhren sie durch Glas. Anawak richtete sich auf und entdeckte eine kleine Wasserspalte. Er machte den Fahrer des Qamutik darauf aufmerksam, aber der Mann hatte die Spalte schon gesehen. Er drehte sich zu Anawak um, wahrend er mit unverminderter Geschwindigkeit weiter uber das Eis drosch, und grinste anerkennend.
»Du hast ja doch nicht alles verlernt«, lachte Akesuk.
Anawak sah ihn einen Moment lang unentschlossen an. Dann lachte er mit. Er war stolz. Nicht zu fassen. Er war stolz darauf, diese damliche Spalte gesehen zu haben.
Der Nachmittag zauberte Sonnenhunde an den Himmel. So nannten die Inuit die seltsamen Erscheinungen beiderseits der Sonne, gro?e strahlende Ringe, wenn sich das Licht an winzigen Eiskristallen brach. In der Ferne stapelte sich Packeis zu riesigen, stark zerklufteten Barrieren. Dann plotzlich lag glattes, offenes Wasser zu ihrer Rechten. Eine Robbe tauchte auf, schaute kurz heruber, verschwand. Ein Stuck weiter erschien ihr Kopf erneut, neugierig starrend. Sie lie?en das Wasserloch hinter sich und hielten auf ein weiteres zu, riesig in seinen Ausma?en, bis Anawak erkannte, dass es gar kein Wasserloch war, sondern die Eiskante. Dahinter begann das offene Meer.
Nach einer Weile stie?en sie auf ein Zeltlager. Der Tross hielt an. Herzliche Begru?ung. Einige kannten sich, die anderen wurden ausfuhrlich vorgestellt. Die Camper stammten aus Pond Inlet und Igloolik. Sie hatten einen Narwal erlegt, ihn zerteilt und die Kadaverreste weiter ostlich nahe der Eiskante gelassen, ungefahr dort, wohin Anawaks Gruppe unterwegs war. Stucke der Haut wurden herumgereicht, man fachsimpelte uber die Jagd. Zwei Jager stie?en hinzu, die mit ihren Skidoos von der Eiskante kamen und nach Hause wollten. Sie hatten Jagdkanus auf ihren Qamutiks festgezurrt und zwei am Vortag geschossene Robben. Einer der beiden meinte, die Tiere wurden dem zuruckweichenden Eis fruher zu ihren Nahrungsgrunden und Brutstatten folgen als sonst um diese Zeit. Dabei schwenkte er eine Winchester 5.6 und empfahl ihnen, Vorsicht walten zu lassen. Auf seiner Mutze stand: Arbeit ist nur was fur Menschen, die nichts vom Jagen verstehen. Anawak fragte ihn, ob ihm am Verhalten der Wale etwas aufgefallen sei, ob sie besonders aggressiv reagierten oder gar angriffen, was die Jager verneinten. Plotzlich scharte sich das ganze Camp um sie. Alle kannten die Berichte, jeder wusste bis ins Kleinste, was die Welt in Atem hielt, aber es schien, als sei die Arktis bislang von jeglicher Anomalie verschont geblieben.
Gegen Abend verlie?en sie das Camp.
Die beiden Jager fuhren zuruck nach Pond Inlet, Anawaks Tross bewegte sich weiter auf die Kante zu. Nach einer Weile passierten sie die Uberreste des erlegten Narwals. Scharen von Vogeln balgten sich lautstark um die Fleischfetzen. Sie fuhren weiter, um moglichst viel Abstand zwischen sich und den Kadaver zu legen, hielten schlie?lich aber doch in Sichtweite. Etwa 30 Meter von der Eiskante schlugen die Fuhrer das Lager auf. Boxen wurden von den Schlitten gelost, der Funkmast aufgestellt, um den Kontakt zur Au?enwelt nicht zu verlieren. Binnen kurzem hatten die Fuhrer funf Zelte errichtet, vier fur die Reisenden und ein Kuchenzelt, mit Bodenbrettern und Isoliermatten ausgelegt. Drei wei? gestrichene Sperrholzplatten ergaben ein provisorisches Toilettenhauschen, im Innern ein Eimer, ausgehangt mit einem blauen Plastiksack und versehen mit einer zerkratzten Emaillebrille.
»Wurde auch Zeit«, strahlte Akesuk.
Er verschwand als Erster auf dem Honigtopf, wie die Inuit ihre Wanderklos nannten, wahrend das Camp weiter aufgebaut wurde. Die Inuit-Fuhrer schlugen vor, mit den abgekoppelten Skidoos ein Rennen zu veranstalten. Anawak lie? sich die notigen Handgriffe zeigen, aber Skidoo-Fahren erwies sich als einfach. Nach kurzer Zeit rasten sie in wilden Kurven uber das glitzernde Eis, und er fuhlte sein Herz leichter werden.
Er liebte es, hier zu sein.
Sie fuhren mehrere Rennen, bis ein Mann aus Igloolik als Sieger aus dem Turnier hervorging. Hunger meldete sich. Mary-Ann scheuchte sie aus dem Kuchenzelt, also rotteten sie sich drau?en zusammen, dick eingepackt gegen die Kalte, gegen die Schlitten gelehnt, und eine junge Frau begann eine Inuit-Geschichte zu erzahlen von der Sorte, die immer wieder und wieder ein bisschen anders erzahlt werden. Anawak erinnerte sich, wie sich solche Geschichten mitunter uber Tage hingezogen hatten. Die Inuit waren nicht der Meinung, dass man alles in einem Schwung zu Ende erzahlen musse. Die Tage auf dem Eis waren lang. Geschichten waren lang. Warum sie nicht verteilen?
Es ging auf Mitternacht, als Mary-Ann das Dinner auftischte. Sie hatte sich selber ubertroffen. Es duftete verfuhrerisch nach gegrilltem Wandersaibling, Karibu-Chops mit Reis und gebratenen Eskimo-Potatoes, einer lokalen Wurzelart. Dazu gab es literweise hei?en schwarzen Tee. Das Kuchenzelt war darauf angelegt, allen Teilnehmern Platz zu bieten, aber es hielt sein Versprechen nicht und erwies sich als zu klein. Akesuk wurde argerlich und schimpfte auf den Mann, der ihnen das Zelt vermietet hatte. Davon wurde es nicht gro?er, also stellten sie ihre Essteller auf Schlittenrahmen und Vorratskisten und a?en, bis sie beinahe platzten.
Gegen halb zwei, als einer nach dem anderen mude wurde, forderte Akesuk eine Flasche Champagner aus den Tiefen seines Gepacks. Er zwinkerte Anawak listig zu. Mary-Ann krauste die Nase und ging schlafen. Schlie?lich waren nur noch Anawak und sein Onkel wach und der Mann, der Gewehr bei Fu? auf einer hochgedruckten Packeisscholle stand und fur die Barenwache eingeteilt war.
»Dann trinken wir sie eben«, sagte Akesuk.
Anawak schuttelte den Kopf. »Ich trinke nicht.«
»Ach richtig!« Akesuk warf einen Blick des Bedauerns auf die Flasche. »Bist du sicher? Ich hatte sie extra eingesteckt, um sie bei einer besonderen Gelegenheit zu offnen. Die besondere Gelegenheit … na ja, du bist heimgekommen, und ich dachte …«
»Ich will die Kontrolle nicht verlieren, Iji.«
»Uber was? Uber dein Leben oder diesen Augenblick?« Er zuckte die Achseln und steckte die Flasche wieder weg. »Na schon. Es gibt andere besondere Gelegenheiten. Vielleicht machen wir reiche Ernte. Moglich, dass wir einen Wei?wal erlegen oder ein dickes, saftiges Walross. Was ist, laufen wir noch ein Stuck, bevor wir uns aufs Ohr hauen?«
»Gerne, Iji.«
Sie schlenderten bis zur Meereiskante. Anawak lie? seinem Onkel den Vortritt. Der alte Mann wusste besser, wo das Eis stabil war und wo man Gefahr lief einzubrechen. Die Inuit kannten hunderte von Wortern fur jede Art von Eis und Schnee, nur keines, das einfach Schnee oder Eis bedeutete. Derzeit bewegten sie sich auf elastischem Eis. Wahrend Eisberge aus Su?wasser bestanden, weil das Salz komplett ausfror, fanden sich in Treibeis und Meereis Reste davon. Je schneller das Eis fror, desto hoher war sein Salzgehalt. Das Eis wurde dadurch elastischer, was im Winter von Vorteil war, da es weniger schnell brach, und im beginnenden Fruhling nachteilhaft, weil die Abbruchgefahr nun immer gro?er wurde. Ein Sturz ins kalte Wasser konnte einen Menschen toten, aber noch gefahrlicher war es, wenn einen die Stromung unter die Eisdecke trieb.
Sie fanden einen Platz nahe der Kante und lehnten sich gegen einen Packeisblock. Vor ihnen erstreckte sich die silbrige See. Dicht unter Wasser sah Anawak Aschen mit stahlblauen Rucken dahinflitzen. Eine Weile schaute er einfach nur hinaus. Auch Akesuk hullte sich in Schweigen. Sie lie?en Zeit verstreichen, und plotzlich — als habe die Natur beschlossen, sie fur ihr Ausharren zu belohnen — ragten zwei schraubig gedrehte Einhorner aus dem Wasser wie gekreuzte Degen. Zwei Narwalmannchen zeigten sich wenige Meter von der Kante entfernt. Runde, dunkelgrau gefleckte Kopfe kamen zum Vorschein, dann tauchten die Tiere langsam wieder ab. In spatestens einer Viertelstunde wurden sie hier wieder auftauchen. Das war ihr Rhythmus.