Anawak war fasziniert. Narwale bekam man vor Vancouver Island so gut wie gar nicht zu Gesicht. Lange Zeit hatten sie kurz vor der Ausrottung gestanden. Ihre Horner, eigentlich verlangerte Sto?zahne, bestanden aus purem Elfenbein, dessentwegen sie jahrhundertelang abgeschlachtet worden waren. Immer noch standen sie auf der Liste der gefahrdeten Arten, aber mittlerweile hatte sich ihr Bestand zwischen Nunavut und Gronland wieder auf 10000 erhoht.
Das Eis knarrte und achzte leise, wenn es vom Wasser bewegt wurde. Ein Stuck entfernt kreischten Vogel uber den Kadaverresten des erlegten Wals. Mildes Licht lag auf den Felsen und Gletschern von Bylot Island und zeichnete Schatten uber das gefrorene Meer. Dicht uber dem Horizont hing eine blasse, eisige Sonne.
»Du hast mich gefragt, ob ich das alles vermisst habe«, sagte Anawak.
Akesuk schwieg.
»Ich habe es gehasst, Iji. Ich habe es gehasst und verachtet. Du wolltest eine Antwort. Da hast du sie.«
Sein Onkel seufzte.
»Du hast deinen Vater verachtet«, sagte er.
»Mag sein. Aber erklar einem zwolfjahrigen Jungen den Unterschied zwischen seinem Vater und seinem Volk, wenn beide sich in ihrem Elend uberbieten. Mein Vater war kraftlos und standig betrunken. Er hat gejammert und rumgeheult und meine Mutter so tief zu sich heruntergezogen, bis sie keinen Ausweg mehr sah, als sich umzubringen. Nenn mir eine Familie, die damals keinen Selbstmord zu beklagen hatte. Alle waren so. Es ist schon und gut, wenn sie dir standig irgendwelche Geschichten erzahlen uber das stolze, unabhangige Volk der Inuit, aber ich habe davon nicht viel mitbekommen.« Er sah Akesuk an. »Wenn Vater und Mutter innerhalb weniger Jahre zu Wracks werden, drogensuchtig, ohne Lebensmut, wie sollst du das ertragen? Wenn deine Mutter sich erhangt, weil sie sich selber nicht ertragen kann. Und dein Vater hat nichts anderes zu tun, als zu wimmern und sich zu besaufen. Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt, dass er damit aufhoren soll. Dass meine Kraft fur zwei reicht. Ich habe ihn angeschrien, dass ich arbeiten werde, irgendetwas tun werde, ich wollte ihm helfen, Hauptsache, er legt die Flasche aus der Hand und bekommt wieder ein paar klare Gedanken zusammen wie fruher, aber er hat mich nur angeglotzt und weitergewimmert!«
»Ich wei?.« Akesuk schuttelte den Kopf. »Er war nicht mehr Herr seiner selbst.«
»Er hat mich zur Adoption freigegeben«, sagte Anawak. Die Bitterkeit von Jahren lag ihm auf der Zunge. »Ich wollte bei ihm bleiben, und dieser Jammerlappen gibt mich frei.«
»Er ist nicht mit dir fertig geworden. Er wollte dich schutzen.«
»Na und? Hat er sich darum gekummert, wie ich damit fertig werde? Einen Schei? hat er! Meine Mutter ist an ihren Depressionen zugrunde gegangen, mein Vater hat sich mit Alkohol abgeschossen, sie haben mich beide aus ihrem Leben geworfen. Hat mir einer geholfen? — Nein! Alle waren viel zu sehr damit beschaftigt, Locher in den Schnee zu starren und die Not der Inuit zu beklagen. — Auch du, ich erinnere mich genau. Du warst der lustige Onkel Iji, du warst immer fur irgendwelche Geschichten gut, aber auf die Reihe bekommen hast du auch nichts. Immer nur Legenden heraufbeschworen, das ist alles, was dir eingefallen ist. Marchenstunde vom freien Volk der Inuit. Ein edles Volk! Ein stolzes Volk! Blabla!«
»Das war es«, nickte Akesuk. »Ein stolzes Volk.«
»Wann?«
Er wartete darauf, dass Akesuk wutend werden wurde, aber sein Onkel fuhr sich nur ein paar Mal uber den Schnurrbart.
»Vor deiner Geburt«, sagte er. »Die Menschen meiner Generation sind noch in Iglus geboren worden, und es war selbstverstandlich, dass jeder eines bauen konnte. Wenn wir Feuer gemacht haben, benutzten wir Flintsteine statt Streichholzer. Ein Karibu wurde nicht geschossen, sondern mit Pfeil und Bogen erlegt. Vor einen Qamutik spannte man kein Skidoo, sondern Hunde. Klingt das nicht alles sehr romantisch? Nach langst vergangenen Zeiten?« Akesuk schuttelte den Kopf. »Dabei ist es gerade mal ein halbes Jahrhundert her. — Schau dich um, Junge. Wie leben wir heute? Ich meine, es hat auch sein Gutes, kaum ein Volk wei? so viel uber die Welt wie wir. In jedem zweiten Haus findest du einen Computer mit Internetanschluss, auch in meinem. Wir haben einen eigenen Staat bekommen.« Er kicherte. »Neulich gab es ein Ratsel zu knacken auf nuna.vut.com, ganz amusant auf den ersten Blick. Kennst du noch die alten kanadischen Zwei-Dollar-Noten? Vorne siehst du Konigin Elisabeth II. abgebildet, hinten drauf eine Gruppe Inuit. Einer der Manner steht vor dem Kajak, mit der Harpune in der Hand. Sehr idyllisch. Die Frage war: Was zeigt diese Szene wirklich? — Wei?t du es?«
»Ich furchte, nein.«
»Aber ich. Sie zeigt das Bild einer Vertreibung, Junge. Die Regierung von Ottawa hatte ein feineres Wort dafur, sie nannte es Umsiedlung. Ein Motiv des Kalten Krieges. Ottawa hatte Angst, die USA oder die Sowjetunion konnten auf die Idee kommen, die unbewohnte kanadische Arktis zu beanspruchen, also siedelten sie die nomadisierenden Inuit von ihren Stammplatzen in der sudlichen Polarzone um nach Resolute und Grise Fiord nahe dem Nordpol. Man hat ihnen vorgelogen, dort seien die Jagdgrunde besser, aber das Gegenteil war der Fall. Die Inuit mussten in Blech gestanzte Registriernummern tragen, wie Hundemarken. Wusstest du das?«
»Ich erinnere mich nicht mehr.«
»Viele deiner Generation, viele der Kinder heute haben keine Ahnung von ihren Eltern und deren Lebensumstanden. Und dass es eigentlich noch fruher begonnen hat, Mitte der zwanziger Jahre, als die wei?en Trapper kamen und das Gewehr mitbrachten. Karibus und Robben wurden dramatisch dezimiert. Von beiden ubrigens, Quallunaat und Inuit. Gewehrkugeln statt Pfeil und Bogen, du verstehst. — Die Armut kam uber die Inuit. Sie hatten nie sonderlich viel mit Krankheiten zu tun gehabt, aber jetzt traten Polio, Tuberkulose, Masern und Diphtherie auf, also verlie?en sie ihre Camps und zogen in Siedlungen. Ende der funfziger Jahre starben unsere Leute reihenweise an Hunger und Infektionskrankheiten, ohne dass die offiziellen Regierungsstellen das zur Kenntnis nahmen. Das Militar begann, Interesse an den nordwestlichen Territorien zu zeigen, und errichtete geheime Nachrichtenstationen in den traditionellen Jagdgrunden. Die Inuit, die dort noch siedelten, standen naturlich im Weg. Sie wurden auf Veranlassung der kanadischen Behorden in Flugzeuge gepackt und Hunderte Kilometer weiter nordlich deportiert, unter Zurucklassung ihrer Zelte, Kajaks, Kanus und Schlitten. Auch ich wurde umgesiedelt als junger Mann, und ebenso deine Eltern. Man hat diese Ma?nahme damit begrundet, hoch im Norden seien die Uberlebensmoglichkeiten fur die hungernden Inuit besser als in der Nahe der Militarstationen. In Wirklichkeit lagen die neuen Gebiete weit abseits aller Karibu-Wanderrouten und der Platze, wo die Tiere im Sommer zu kalben pflegten.«
Akesuk machte eine Pause. Er schwieg lange. Zwischendurch tauchten wieder Narwale auf. Anawak sah ihnen bei ihren Degenfechtereien zu, bis sein Onkel wieder das Wort ergriff:
»Nachdem wir umgesiedelt worden waren, hat man die Bulldozer in die alten Jagdgrunde geschickt. Alles, was an unser Leben hier erinnerte, wurde dem Erdboden gleichgemacht, um uns jeden Gedanken an Ruckkehr auszutreiben. Und naturlich blieben die Karibus aus im hohen Norden. Kein Essen, keine Kleidung. Was nutzt dir der allergro?te Mut, wenn du nur ein paar Siksiks, Hasen und Fische erbeuten kannst? Wenn du dein Volk sterben siehst und nichts dagegen tun kannst mit all deiner Kraft und Entschlossenheit? — Ich will dir die Einzelheiten ersparen. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden wir ein Fall fur die Sozialhilfe. Unser Leben konnten wir nicht wieder aufnehmen, und anders zu leben hatten wir nie gelernt. — Etwa um die Zeit, als du geboren wurdest, fuhlte sich die Regierung wieder fur uns verantwortlich, also baute sie Kasten fur uns, Hauser. Fur die Quallunaat eine naturliche Sache. Sie leben in Kasten. Wenn sie sich bewegen, setzen sie sich in einen Kasten, fur den sie ebenfalls einen Kasten haben, um ihn darin abzustellen. Sie essen in offentlichen Kasten, ihre Hunde leben in Kasten, und die Kasten, in denen sie selber leben, sind von weiteren Kasten umgeben, von Mauern und Zaunen. Das war ihr Leben, nicht unseres, aber nun lebten auch wir in Kasten. — Und wozu fuhrt verlorenes Selbstbewusstsein? Zu Alkohol, Drogen und Selbstmord.«