Vier Zodiacs lagen im vorderen Beckenbereich auf dem Trockenen.

»Da hat jemand den Stopsel gezogen, was?«

»Ja, gestern Abend. Der Stopsel ist ubrigens dort.« Peak deutete auf die Kuppel. Crowe schatzte sie auf mindestens acht mal zehn Meter. »Die Schleuse, unser Tor ins Meer. Sie ist doppelt gesichert, im Hallenboden mit Glasschotts, in der Au?enhulle mit massiven Stahlschotts. Dazwischen erstreckt sich ein Schacht von drei Meter Hohe. Das System ist narrensicher, es funktioniert wechselseitig. Sobald ein Boot im Schacht ist, schlie?en wir die Glasabdeckung und offnen die Stahlschotts. Will es zuruck ins Schiffsinnere, verfahren wir genauso. Das Boot steigt in die Schleuse, die Stahlschotts fahren zu, und wir konnen durch die Glasabdeckung sehen, ob irgendwas mit hineingelangt ist, das uns nicht gefallt. Gleichzeitig wird das Wasser einer chemischen Analyse unterzogen. Das Schleuseninnere ist bestuckt mit Sensoren, die es auf Verunreinigungen und Toxide untersuchen. Die Ergebnisse werden auf zwei Displays ubertragen, eines am Schleusenrand und eines am Kontrollpult. Etwa eine Minute lang ist das Boot im Schacht gefangen. Erst wenn alles im grunen Bereich liegt, offnet sich das Glasdach und entlasst es zuruck ins Deck. Auf gleiche Weise lassen wir die Delphine raus und rein. Kommen Sie.«

Sie schritten den Steuerbordpier entlang. Auf halber Lange ragte eine Konsole aus dem Boden, dicht an die Kante gesetzt und bestuckt mit Monitoren und diversen Bedienfunktionen. Ein knochiger Mann mit stechenden Augen und ausladendem Schnauzbart kam ihnen aus einer Gruppe Uniformierter entgegen.

»Colonel Luther Roscovitz«, stellte Peak ihn vor. »Leiter der Tauchstation.«

»Sie sind Miss Alien, stimmt’s?« Roscovitz entblo?te lange, gelbliche Zahne. »Willkommen auf der Kreuzfahrt. Wo haben Sie so lange gesteckt?«

»Mein Raumschiff hatte Verspatung.« Crowe sah sich um. »Schickes Pult.«

»Es erfullt seinen Zweck. Wir nutzen es zur Bedienung der Schleuse und zum Hoch— und Runterfahren der Tauchboote. Au?erdem werden die Pumpen von hier gesteuert, um das Deck unter Wasser zu setzen.«

Crowe rief sich in Erinnerung, was sie uber die Independence wusste. Sie machte eine Kopfbewegung zur heckwartigen Stahlwand, die das Deck abschloss. »Das ist ein Schott, nicht wahr?«

»Genau«, schmunzelte Roscovitz. »Wir konnen die Heckklappe der Independence absenken und das Schiff tiefer legen, indem wir die achterlichen Ballasttanks fluten. Meerwasser dringt ein, und schon haben wir einen hubschen Hafen, komplett mit Einfahrt.«

»Netter Arbeitsplatz. Gefallt mir.«

»Tauschen Sie sich nicht. Normalerweise drangen sich hier Landungsboote aneinander, Schwerlastschlepper und Hoovercrafts. Aus einer gro?en Halle wird im Nu ein enger Affenstall. Aber fur diese Mission mussten wir ohnehin alles umkrempeln. Sie erfordert keine Landungsboote. Wir brauchten ein Schiff, das schwer genug ist, um nicht durch irgendwelches Viehzeug versenkt zu werden, Riesenwellen verkraften kann, uber das komplette Angebot moderner Kommunikationstechnologie verfugt und Platz bietet fur Fluggerat und eine Tauchbasis. Es war schieres Gluck, dass die LHD-8 gerade im Bau war. Das gro?te und machtigste amphibische Schiff aller Zeiten, so gut wie fertig gestellt, plus die Moglichkeit, ein paar Veranderungen vorzunehmen, besser hatte es nicht kommen konnen. Die Werft in Mississippi ist enorm fortschrittlich. Sie konzipierten das Welldeck in kurzester Zeit um, bauten Schleusen ein und veranderten das Pumpsystem. Jetzt konnen wir das Becken fluten, ohne die Klappe zu offnen. Wir brauchen sie ohnehin nur fur den Fall, dass wir mit den Zodiacs raus wollen.«

Crowe sah ins Becken hinab. Zwei Leute in Neoprenanzugen standen am Rand des Bassins, eine zierliche, rothaarige Frau und ein athletisch gebauter Riese mit langer, schwarzer Mahne. Sie beobachtete, wie eines der Tiere zum Rand geschwommen kam und den Kopf aus dem Wasser steckte. Es gab keckernde Gerausche von sich. Der Riese strich ihm mit der Hand uber die glatte Stirn. Einige Sekunden lie? sich der Delphin die Liebkosung gefallen, dann tauchte er wieder ab.

»Und wer ist das?«, wollte Crowe wissen.

»Sie kummern sich um die Delphinstaffel«, sagte Anawak. »Alicia Delaware und …«Er zogerte. »Und Greywolf.«

»Greywolf?«

»Ja. Oder auch Jack.« Anawak zuckte die Achseln.

»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Er hort auf beides.«

»Wozu ist die Staffel gut?«

»Lebende Kameras. Sie bannen Film auf Magnetband, wenn sie drau?en unterwegs sind. Der Hauptgrund ist allerdings, dass Delphine weit ausgepragtere Sinne besitzen als wir. Ihr Sonar erfasst andere Lebewesen, lange bevor unsere Systeme sie sehen. Mit einigen der Tiere hat Jack schon wahrend seiner aktiven Zeit gearbeitet. Sie beherrschen ein ausgepragtes Vokabular.

Verschiedene Pfiffe. Einen fur Orca, einen fur Grauwal, einen anderen fur Buckelwal, und so weiter und so fort. Sie konnen nahezu jedes gro?ere Lebewesen, das ihnen bekannt ist, identifizieren, au?erdem Schwarme klassifizieren, und was sie nicht kennen, melden sie als unbekannte Lebensform.«

»Beachtlich.« Crowe lachelte. »Und der schone Mann da unten mit den langen Haaren versteht tatsachlich die Sprache der Delphine?«

Anawak nickte. »Besser als unsere. Manchmal.«

Das Treffen fand im Flagg-Besprechungs-und Lageraum gegenuber dem LFOC statt. Die meisten Anwesenden kannte Crowe inzwischen personlich oder von den Videokonferenzen. Nun lernte sie noch Murray Shankar kennen, den Chefakustiker von SOSUS, Karen Weaver und Mick Rubin, au?erdem den Skipper der Independence, einen drahtigen, wei?haarigen Mann namens Craig C. Buchanan, der aussah, als habe er das Militar erfunden, sowie Floyd Anderson, den Ersten Offizier. Sie schuttelte eifrig Hande und stellte fest, dass sie Anderson mit seinem Bullennacken und den schwarzen Knopfaugen nicht mochte. Als Letzter begru?te sie ein fettleibiger Mann, der einige Minuten zu spat kam und sehr stark schwitzte. Er trug eine Baseballkappe und Turnschuhe. Uber seinen Bauch spannte sich ein knallgelbes T-Shirt mit der Aufschrift: KUSS mich, ich bin ein Prinz.

»Jack Vanderbilt«, stellte er sich vor. »Ehrlich gesagt, die Mutter von E. T. hab ich mir anders vorgestellt.«

»Tochter ware charmanter gewesen«, erwiderte Crowe trocken.

»Erwarten Sie keine Komplimente von einem, der aussieht wie ich.« Vanderbilt gluckste. »Ist das nicht wunderbar, Dr. Crowe? Sie haben endlich Gelegenheit, Ihr ganzes nutzlos in den Weltraum abgestrahltes Hoffen und Bangen in freudige Erwartung umzusetzen.«

Alle suchten ihre Platze auf. Li hielt eine kleine Ansprache, in der sie zusammenfasste, was ohnehin jeder wusste. Dass die Vereinigten Staaten einen Antrag in die UNO eingebracht und im Verlauf einer geheimen Sitzung einstimmig das Mandat erhalten hatten, die logistische und technologische Fuhrungsrolle im Kampf gegen die unbekannte Macht zu ubernehmen. Japan und einige Lander Europas waren inzwischen zu ahnlichen Schlussen gelangt wie das Chateau-Team: Nicht Menschen bedrohten die Menschheit, sondern eine fremde Lebensform. So oder so schien jeder erleichtert, dass man die Vereinigten Staaten nicht lange hatte bitten mussen.

»Einiges spricht dafur, dass wir unmittelbar vor der Entdeckung eines Mittels stehen, das die Menschheit gegen die Toxide der Killeralgen immunisiert, allerdings bekommen wir die Nebenwirkungen nicht unter Kontrolle, und anderswo tauchen Krabben mit mutierten Erregern auf. In den meisten der stark betroffenen Lander ist die Infrastruktur zusammengebrochen. Amerika hat die Verantwortung gerne ubernommen, aber unglucklicherweise mussen wir erkennen, dass wir kaum in der Lage sind, unsere eigenen Kusten zu schutzen. Wahrenddessen sammeln sich Wurmer an den Kontinentalhangen und — viel schlimmer — im Umfeld vulkanischer Inseln wie La Palma, wo Dr. Frost und Dr. Bohrmann gerade versuchen, die befallenen Hange mit einer Art Tiefseestaubsauger zu saubern. Was die Wale angeht: Sonarattacken richten nichts aus bei Tieren, deren Natur von einem Fremdorganismus vergewaltigt wird. Aber selbst wenn, wurden wir damit weder den Methan-GAU verhindern noch den Golfstrom wieder in Schwung bringen. Die Bekampfung von Symptomen lost keine Probleme, und zur Ursache konnten wir bislang nicht vorsto?en, nachdem Unterwasseroperationen systematisch sabotiert werden. Wir erlangen keine Erkenntnisse mehr uber das, was unten geschieht. Unterdessen geht ein Tiefseekabel nach dem anderen verloren. Die niederschmetternde Bilanz in diesem Krieg ist, dass wir blind und taub geworden sind. Sagen wir ruhig, wir haben ihn verloren.« Li machte eine Pause. »Wen sollen wir angreifen? Was nutzt jeder Kampf, wenn La Palma abrutscht und Wasserberge die Kusten Amerikas, Afrikas und Europas uberrollen? — Kurz, wir kommen keinen Schritt weiter, solange wir unseren Gegner nicht besser kennen, und wir kennen ihn uberhaupt nicht. Der Sinn unserer Mission ist darum nicht der Kampf, sondern die Verhandlung. Wir wollen Kontakt aufnehmen zu der fremden Lebensform und sie dazu bringen, den Terror gegen die menschliche Rasse zu stoppen. Meiner Erfahrung nach lasst sich mit jedem Gegner verhandeln, und vieles deutet darauf hin, dass er sich genau hier aufhalt — in der Gronlandischen See.« Sie lachelte. »Unsere Hoffnung ruht auf einer friedlichen Losung. Ich freue mich jedenfalls, als letztes Mitglied unserer Expedition Dr. Samantha Crowe willkommen zu hei?en.«