Crowe stutzte die Ellbogen auf den Konferenztisch.
»Danke fur die nette Begru?ung.« Sie warf Vanderbilt einen kurzen Blick zu. »Wie Sie vielleicht wissen, war SETI bis heute nicht sonderlich erfolgreich. Angesichts einer raumlichen Ausdehnung von uber zehn Milliarden Lichtjahren, die wir fur das beobachtbare Universum annehmen, ist alles denkbarer, als zufallig in die richtige Richtung zu senden und jemanden zu erreichen, der gerade zuhort. Insofern sind wir diesmal besser dran. Erstens spricht einiges dafur, dass es die anderen gibt. Zweitens haben wir eine ungefahre Vorstellung davon, wo sie leben, namlich irgendwo in den Ozeanen und wahrscheinlich direkt unter uns. Aber selbst wenn sie am Sudpol hausen wurden, hatten wir sie eingegrenzt. Die Meere konnen sie nicht verlassen, und ein starker Schallimpuls aus der Arktis wird noch jenseits von Afrika gehort werden. Das alles ist ermutigend. — Der wichtigste Punkt scheint mir jedoch, dass wir bereits Kontakt haben. Seit Jahrzehnten schicken wir Botschaften in ihren Lebensraum. Unglucklicherweise haben sie dessen Zerstorung zum Inhalt, also antworten sie nicht mit Gesandten, sondern uberziehen uns kommentarlos mit Terror. Das ist in hochstem Ma?e lastig. Machen wir uns trotzdem vorubergehend frei von negativen Gefuhlen und sehen wir in dem Terror eine Chance.«
»Eine Chance?«, echote Peak.
»Ja. Wir mussen ihn als das nehmen, was er ist — als Botschaft einer fremden Lebensform, aus der wir auf ihr Denken schlie?en konnen.«
Sie legte die Hand auf einen Stapel Kladden.
»Ich habe unsere Vorgehensweise fur Sie zusammengefasst. Zugleich muss ich Ihre Hoffnungen auf einen schnellen Erfolg dampfen. Jeder von Ihnen wird sich in den letzten Wochen uber der Frage gegruselt haben, wer eigentlich da unten sitzt und uns die sieben Plagen schickt. Sie kennen die einschlagigen Filme: Unheimliche Begegnung der Dritten Art, E. T. Alien, Independence Day, The Abyss, Contact, und so weiter. Entweder haben wir es darin mit Monstern zu tun oder mit Heiligen. Denken Sie alleine an die Schlusssequenz von Unheimliche Begegnung: Viele Menschen finden Trost in der Vorstellung, dass uberlegene Himmelswesen zu ihnen herabsteigen, um sie einer besseren, lichten Zukunft entgegenzufuhren. Sollte das irgendjemandem bekannt vorkommen … Ja, die Sache hat unter der Oberflache eine religiose Dimension. Auch SETI hat diese Dimension. Und sie macht uns blind fur die schlichte Andersartigkeit fremder Intelligenzen.«
Crowe lie? die Worte einen Moment wirken. Sie hatte lange uberlegt, wie sie das Projekt anpacken sollte. Schlie?lich war sie zu der Uberzeugung gelangt, dass es von vorneherein scheitern wurde, wenn es ihr nicht gelang, den Teilnehmern der Expedition die Flausen zu nehmen.
»Was ich meine, ist, dass eine seriose Beschaftigung mit der Andersartigkeit fremder Kulturen in der Science-Fiction so gut wie nicht stattfindet. Tatsachlich tauchen Au?erirdische fast immer als ins Groteske ubersteigerter Ausdruck menschlicher Hoffnungen und Angste auf. Die Aliens in Unheimliche Begegnung symbolisieren unsere Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Paradies. Im Grunde sind sie Engel, und so verhalten sie sich auch. Einige Auserwahlte werden zum Licht gefuhrt. Eine etwaige Kultur dieser Au?erirdischen interessiert dabei niemanden. Sie bedienen simpelste religiose Vorstellungen. Alles an ihnen ist zutiefst menschlich, weil menschgewollt, bis hin zur Dramaturgie ihres Auftretens — wei?es, glei?endes Licht, atherische Erscheinungen, ganz so, wie wir’s gerne hatten. — Ebenso wenig sind die Au?erirdischen in Independence Day wirklich au?erirdisch. Sie sind bose, indem sie unsere Vorstellungen von Bosartigkeit erfullen. Auch ihnen wird keine wirkliche Andersartigkeit zugestanden. Gut und bose sind von Menschen postulierte Werte. Kaum eine Fiktion findet Interesse, die sich daruber hinwegsetzt. Wir tun uns nun mal schwer mit der Vorstellung, dass unsere Werte nicht auch die Werte anderer sein sollen und dass deren Vorstellungen von Gut und Bose vielleicht nicht den unseren entsprechen konnten. Dafur mussen Sie nicht mal in den Weltraum horchen. Jede Nation, jede menschliche Kultur hat ihre eigenen Aliens vor der Haustur, namlich immer die jenseits der Grenze. — Bevor wir das nicht verinnerlicht haben, werden wir kaum eine Kommunikation mit einer fremden Intelligenz zuwege bringen. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird es keine gemeinsame Wertebasis geben, kein universelles Gut und Bose, moglicherweise nicht einmal kompatible Sinnesapparate, uber die man sich austauschen konnte.«
Crowe gab den Stapel Kladden an Johanson weiter, der neben ihr sa?, und bat darum, die Exemplare zu verteilen.
»Wenn wir beginnen wollen, uber wirkliche Kontakte mit Au?erirdischen nachzudenken, sollten wir uns vielleicht einen Ameisenstaat vorstellen. Vorweg, Ameisen sind hoch organisiert, nicht wirklich intelligent. Aber unterstellen wir, sie waren es. Dann stunden wir vor der Aufgabe, uns mit einer Kollektivintelligenz auszutauschen, die kranke und verletzte Artgenossen verspeist, ohne es moralisch anfechtbar zu finden, die Kriege fuhrt, ohne unsere Idee von Frieden zu verstehen, fur die individuelle Fortpflanzung etwas vollkommen Unerhortes darstellt und die den Austausch und Verzehr von Exkrementen wie ein Sakrament behandelt — kurz, die in jeder Hinsicht vollkommen anders funktioniert, die aber funktioniert! Und nun gehen Sie noch einen Schritt weiter: Stellen Sie sich vor, dass wir eine fremde Intelligenz vielleicht nicht einmal als solche erkennen! Leon hier zum Beispiel wurde gerne wissen, ob Delphine intelligent sind, also fuhrt er aufwandige Tests durch, aber gibt ihm das Gewissheit? Und umgekehrt, wie sehen uns die anderen? Die Yrr bekampfen uns, aber halten sie uns fur intelligent?
— Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedruckt. Was immer wir hier tun: Eine Annaherung an die Yrr wird uns nicht gelingen, solange wir unser Werteverstandnis als Nabel der Welt und des Universums betrachten. Wir mussen uns auf das reduzieren, was wir de facto sind — eine von unzahligen moglichen Lebensformen ohne besondere Anspruche an das gro?e Ganze.«
Crowe bemerkte, dass Lis Blick abschatzend auf Johanson ruhte. Es kam ihr vor, als versuche sie, in seinen Kopf zu kriechen. Interessante Konstellationen an Bord, dachte sie. Sie fing einen Blickkontakt zwischen Jack O’Bannon und Alicia Delaware auf und wusste im selben Augenblick, dass die beiden etwas miteinander hatten.
»Dr. Crowe«, sagte Vanderbilt, wahrend er sein Exemplar der Ausfuhrungen durchblatterte. »Was ist denn Ihrer Meinung nach uberhaupt Intelligenz?«
Er stellte die Frage wie eine Falle.
»Ein Glucksfall«, sagte Crowe.
»Ein Glucksfall? Finden Sie?«
»Das Resultat vieler fein aufeinander abgestimmter Bedingungen. Wie viele Definitionen wollen Sie horen? Einige meinen, Intelligenz sei das, was in einer Kultur als wesentlich eingeschatzt wird. Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Es gibt mindestens so viele Definitionen wie Kulturen und Mentalitaten. Die einen erforschen die grundlegenden Prozesse geistiger Leistung, andere versuchen Intelligenz statistisch zu messen. Dann die Frage, ist sie angeboren oder erworben? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertrat man die Ansicht, Intelligenz spiegele sich in der Art und Weise, wie eine spezifische Situation bewaltigt wird. Einige greifen das heute wieder auf und definieren Intelligenz als Anpassungsfahigkeit an die Erfordernisse einer sich wandelnden Umgebung. Demnach ware sie nicht angeboren, sondern erlernt. Viele halten dagegen, Intelligenz sei im menschlichen Konzept verankert und eine angeborene Fahigkeit, die uns hilft, unser Denken auf immer neue Situationen einzustellen. Ihrer Meinung nach ist Intelligenz die Fahigkeit, aus Erfahrung zu lernen und sich den Erfordernissen der Umgebung anzupassen. Und dann gibt es noch die schone Definition, Intelligenz sei die Fahigkeit zu hinterfragen, was Intelligenz sei.«