Dass sie uberhaupt vor Gronland lagen und nicht weiter sudlich, verdankte sich seinem Pladoyer und der Unterstutzung durch Weaver und Bohrmann. Anawak, Rubin und einige andere hatten vorgeschlagen, den Kontakt unmittelbar uber den Vulkanketten des Mittelatlantischen Ruckens zu suchen. Rubins entscheidendes Argument war die Ahnlichkeit der dort ansassigen Schlotkrabben mit den Krabben gewesen, die New York und Washington uberfallen hatten. Zudem gab es sonst kaum Platze in der Tiefsee, die Voraussetzungen fur hoher entwickeltes Leben boten. An den Vulkangraben hingegen waren sie ideal. Hei?es Wasser trat aus meterhohen Felskaminen und forderte alle moglichen Mineralien und lebenswichtigen Stoffe zutage. Wurmer, Muscheln, Fische und Krabben lebten dort unter Bedingungen, die sich durchaus mit denen auf einem fremden Planeten vergleichen lie?en — warum also nicht auch die Yrr?
Johanson hatte Rubin in den meisten Punkten Recht gegeben. Aber zwei Grunde sprachen gegen Rubins Vorschlag. Einer war, dass die Vulkanketten zwar den lebensfreundlichsten Bereich der Tiefsee darstellten, zugleich aber auch den lebensfeindlichsten — in kurzen Abstanden brach sich flussiges Gestein dort Bahn, wenn die ozeanischen Platten auseinander strebten. Es kam zu Eruptionen, in deren Verlauf die Biotope vollstandig vernichtet wurden. Wenig spater fasste neues Leben dort Fu?. Eine komplexe, intelligente Zivilisation, schlussfolgerte Johanson, wurde sich dennoch kaum in einer derartigen Zone ansiedeln.
Der zweite Grund war, dass die Chance der Kontaktaufnahme wuchs, je naher man den Yrr kam. Wo genau sie zu finden waren, daruber gingen die Meinungen auseinander. Jeder hatte wahrscheinlich auf seine Weise Recht. Einiges sprach dafur, dass sie im Benthos lebten, in den tiefsten Meeresregionen. Viele Phanomene der jungeren Zeit waren in unmittelbarer Nahe solcher Tiefseegraben aufgetreten. Ebenso viel sprach fur die Abyssale, die gewaltigen Tiefseebecken, und naturlich waren Rubins Hinweise auf die Leben spendende Umgebung der mittelozeanischen Oasen nicht von der Hand zu weisen. Am Ende hatte Johanson darum vorgeschlagen, das Augenmerk nicht auf den naturlichen Lebensraum der Yrr zu lenken, sondern eine Stelle auszuwahlen, an der sie definitiv sein mussten.
In der Gronlandischen See war der Absturz der kalten Wassermassen gestoppt worden. Als Folge erlahmte der Golfstrom. Nur zwei Ursachen konnten dieses Phanomen erklaren: eine unmittelbare Erwarmung des Meeres oder ein Uberangebot an Su?wasser, das von der Arktis sudwarts floss und das salzige Nordatlantikwasser verdunnte, sodass es zu leicht wurde um abzusturzen. Beides deutete auf eine rege und umfangreiche Manipulation der Verhaltnisse vor Ort hin. Irgendwo in der Arktis waren die Yrr damit beschaftigt, diese ungeheuren Umwalzungen voranzutreiben.
Irgendwo ganz in der Nahe.
Blieb der Sicherheitsaspekt. Selbst Bohrmann, der sich angewohnt hatte, das Schlimmste zu befurchten, raumte ein, dass die Gefahr durch einen Methan-Blowout im gronlandischen Tiefseebecken eher gering war. Bauers Schiff hatte es in Landnahe vor Svalbard erwischt, wo massenhaft Hydrat im Kontinentalhang lagerte. Unter dem Kiel der Independence erstreckten sich jedoch dreieinhalbtausend Meter Wassertiefe. So weit unten lagerte vergleichsweise wenig Methan, jedenfalls kaum genug, um ein Schiff von der Gro?e der Independence zu versenken. Dennoch, fur alle Falle, hatte die Independence im Verlauf ihrer Fahrt regelma?ige seismische Messungen durchgefuhrt, um Methanvorkommen im Meeresboden nachzuweisen, und auf diese Weise einen Standort gefunden, der weitgehend frei davon schien. Selbst ein Tsunami, wie hoch er an Land auch werden mochte, wurde sich hier drau?en kaum bemerkbar machen — sofern nicht La Palma abrutschte.
Aber dann war ohnehin alles zu spat.
Aus diesen Grunden waren sie nun hier, im ewigen Eis.
Sie sa?en in der riesigen, gahnend leeren Offiziersmesse bei Ruhreiern und Speck. Anawak und Greywolf fehlten. Johanson hatte nach dem Weckruf einige Minuten mit Bohrmann telefoniert, der in La Palma eingetroffen war und den Einsatz des Saugrussels vorbereitete. Die Kanaren lagen eine Zeitzone zuruck, aber Bohrmann war schon mehrere Stunden auf den Beinen gewesen.
»Ein 500 Meter langer Staubsauger macht nun mal Arbeit«, hatte er lachend gesagt.
»Saugen Sie auch in den Ecken«, empfahl Johanson.
Er vermisste den Deutschen. Bohrmann war ein feiner Kerl. Andererseits mangelte es an Bord der Independence nicht an bemerkenswerten Personlichkeiten. Gerade unterhielt er sich mit Crowe, als Floyd Anderson hereinkam, der Erste Offizier. Er trug einen topfgro?en Thermosbecher mit der Aufschrift USS Wasp LHD-8 vor sich her, ging hinuber zur Getrankebar und fullte ihn randvoll mit Kaffee.
»Wir haben Besuch«, bellte er in die Runde.
Alle schauten ihn an.
»Kontakt?«, fragte Oliviera.
»Das wusste ich.« Crowe schob gelassen eine Riesenportion Speck in den Mund. Im Aschenbecher qualmte ihre dritte oder vierte Zigarette. »Shankar sitzt im CIC. Er hatte uns informiert.«
»Was dann? Ist jemand gelandet?«
»Kommen Sie raus aufs Dach«, sagte Anderson geheimnisvoll. »Dann sehen Sie’s.«
Drau?en legte sich eine Maske aus Kalte uber Johansons Gesicht. Der Himmel war von diffusem Wei?. Graue Wellen schoben sich zu gischtigen Kammen auf. Der Wind hatte uber Nacht zugelegt und blies stecknadeldunne Eiskristalle uber die asphaltierte Flache des Decks. Johanson sah eine Gruppe dick vermummter Personen an der Steuerbordseite stehen. Im Naherkommen erkannte er Li, Anawak und Greywolf. Gleich darauf wurde ihm klar, was ihre Aufmerksamkeit fesselte.
In einigem Abstand zur Independence schoben sich die Silhouetten spitz zulaufender Schwerter durch die See. »Orcas«, sagte Anawak, als Johanson neben ihn trat. »Was tun sie?«
Anawak kniff die Augen gegen den Eispartikelregen zusammen. »Seit etwa drei Stunden umkreisen sie das Schiff. Die Delphine haben sie gemeldet. Ich wurde sagen, dass sie uns beobachten.«
Shankar kam aus der Insel gelaufen und gesellte sich an ihre Seite. »Was ist los?« »Jemand ist auf uns aufmerksam geworden«, sagte Crowe. »Vielleicht eine Antwort.« »Auf unsere Botschaft?« »Worauf denn sonst?«
»Komische Antwort auf eine Mathematikaufgabe«, meinte der Inder. »Ich wurde ein paar handfeste Gleichungen bevorzugen.«
Die Orcas hielten respektvollen Abstand zum Schiff. Es waren viele. Hunderte, schatzte Johanson. Sie schwammen in gleichma?igem Tempo und hoben von Zeit zu Zeit ihre schwarz glanzenden Rucken aus den Wellen. Das Ganze machte tatsachlich den Eindruck einer Patrouille. »Konnten sie befallen sein?«, fragte er. Anawak wischte sich Wasser aus den Augen. »Moglich.« »Sagt mal …« Greywolf rieb sich das Kinn. »Wenn dieses Zeug ihre Hirne kontrolliert … Habt ihr mal daruber nachgedacht, dass es uns dann auch sehen kann? Und horen?«
»Du hast Recht«, sagte Anawak. »Es nutzt ihre Sinnesorgane.« »Eben. Auf diese Weise verschafft sich der Glibber Augen und Ohren.« Sie starrten weiter hinaus.
»Wie auch immer.« Crowe zog an ihrer Zigarette und blies Rauch in die eisige Luft. Er trieb in Fetzen davon. »Sieht jedenfalls ganz so aus, als hatte es begonnen.«
»Was?«, fragte Li.
»Das Kraftemessen.«
»Auch gut.« Ein dunnes Lacheln umspielte Lis Lippen.
»Wir sind fur alles gerustet.« »Fur alles, was wir kennen«, fugte Crowe hinzu.
Auf dem Weg nach unten — Rubin und Oliviera im Schlepptau — fragte sich Johanson, wann eine Psychose wohl begann, ihre eigene Wirklichkeit zu erzeugen.
Er hatte den Stein ins Rollen gebracht. Gut — ware er nicht gewesen, hatte jemand anderer die Theorie aufgestellt. Jedenfalls schufen sie Fakten auf der Basis einer Hypothese. Ein Rudel Orcas umrundete die Independence, und sie sahen die Augen und Ohren von Aliens darin. Uberall sahen sie Aliens. Als Folge wurden Botschaften ins Meer geschickt und Erwartungen an einen Kontakt geknupft, der vielleicht nie zustande kommen wurde, weil sie auf einen marinen Schimmelpilz hereingefallen waren.