Der funfte Tag. Nur eine Phantasie, die sich selbstandig gemacht hatte? Benahmen sie sich wie die Idioten?
Wir kommen nicht richtig weiter, dachte er frustriert. Irgendetwas muss geschehen. Etwas, das uns Gewissheit gibt, damit wir nicht von Theorien verblendet in die vollig falsche Richtung laufen.
Mit hallenden Schritten gingen sie die Rampe hinunter, passierten das Hangardeck und stiegen weiter hinab. Die Stahltur zum Laborraum war verschlossen. Johanson gab einen Zahlencode ein, und sie glitt mit leisem Zischen auf. Nacheinander schaltete er die Decken— und Standbeleuchtung ein. Kaltes wei?es Licht uberflutete die Arbeitsinseln. Vom Simulator drang das Summen der elektrischen Systeme heruber.
Sie erstiegen den Rundgang des Hochdrucktanks und traten vor das gro?e, ovale Fenster. Von hier uberblickte man den gesamten Beckenraum. Uber den kunstlichen Meeresboden verteilten sich im Licht der Innenscheinwerfer kleine wei?e Korper mit Spinnenbeinen. Einige bewegten sich zogerlich und offenbar ohne Orientierung. Sie liefen im Kreis oder blieben nach wenigen Schritten wieder stehen, als sei ihnen nicht ganz klar, wohin sie eigentlich wollten. Je tiefer man in den Tank hineinsah, desto mehr trubte das Wasser den Blick auf Details. Nahaufnahmen lieferten Kameras im Innern und ubertrugen sie auf die Monitore eines vorgelagerten Kontrollpults.
Ratlos betrachteten sie die Krabben.
»Viel hat sich nicht getan seit gestern«, bemerkte Oliviera.
»Nein, sie hocken da und geben uns Ratsel auf.« Johanson rieb sich den Bart. »Wir sollten ein paar offnen und sehen, was passiert.«
»Krabben knacken?«
»Warum nicht? Dass sie unter hohem Druck weiterleben, wissen wir. Die Erkenntnis wird mit keinem Tag spannender.«
»Weitervegetieren«, korrigierte ihn Oliviera. »Wir haben nicht mal hinreichend geklart, ob man das Leben nennen kann.«
»Das Zeug in ihrem Innern lebt«, sagte Rubin nachdenklich. »Der Rest ist nicht lebendiger als ein Auto.«
»Einverstanden«, sagte Oliviera. »Aber was ist mit diesem Innenleben? Warum unternimmt es nichts?«
»Was sollte es denn unternehmen, Ihrer Meinung nach?«
»Rumlaufen.« Oliviera zuckte die Achseln. »Mit den Scheren wackeln. Was wei? ich. Die Panzer verlassen. Sehen Sie sich die Biester an. Ich meine, wenn sie darauf programmiert sind, sich an Land zu begeben, um dort Schaden anzurichten und anschlie?end zu krepieren, stellt sie diese Situation vor echte Schwierigkeiten. Keiner kommt, um ihnen neue Order zu erteilen. Sie sind quasi im Leerlauf.«
»Eben«, sagte Johanson ungeduldig. »Sie sind lethargisch und langweilig, und sie verhalten sich wie batteriegetriebenes Spielzeug. Ich bin Micks Ansicht. Diese Krabbenkorper sind schon tot gezuchtet worden, da ist lediglich ein bisschen Nervenmasse drin, ein Armaturenbrett fur die Insassen. Und die will ich jetzt endlich aus der Reserve locken, versteht ihr? Ich will wissen, wie sie sich unter Tiefseebedingungen verhalt, wenn man sie zwingt, die Panzer zu verlassen.«
»Gut«, nickte Oliviera. »Schreiten wir zum Gemetzel.«
Sie verlie?en den Rundlauf, kletterten hinab und traten zur Steuerkonsole. Der Computer bot ihnen die Kontrolle uber mehrere Arbeitsroboter im Innern des Tanks an. Johanson wahlte eine kleine, zweikomponentige ROV-Einheit namens Spherobot. Uber einem Bedienpult mit zwei Joysticks flammten mehrere hoch auflosende Monitore auf. Einer zeigte das Innere des Simulators. Lang und diffus lag es vor ihnen. Das Weitwinkelobjektiv des Spherobot vermochte den kompletten Tank zu uberblicken, ubertrug das Bild als Folge jedoch in Fischaugenverzerrung.
»Wie viele offnen wir?«, wollte Oliviera wissen.
Johansons Hande glitten uber die Tastatur des Bedienmanuals, und der Blickwinkel der Kamera verschob sich leicht nach oben.
»Wie bei einem guten Scampi-Essen«, sagte er. »Mindestens ein Dutzend.«
Eine der Schmalseiten im Innern des Tanks glich einer zweistockigen, offenen Garage, in der alles mogliche Tiefsee-Equipment untergebracht war. Mehrere Unterwasser-Roboter unterschiedlicher Gro?e und Funktion waren darin geparkt, die sich von au?en steuern lie?en. Anders konnte man in der kunstlichen Welt nicht operieren, und ganz nebenbei bot die Garage den Erbauern von AUVs und ROVs die Moglichkeit, ihre Konstruktionen unter den Extrembedingungen der Tiefsee zu testen.
Im Moment, da Johanson die Steuerung aktivierte, flammten an der Unterseite eines Roboters starke Lichter auf, und zwei Propeller begannen sich zu drehen. Ein kastenformiger Schlitten von der Gro?e eines Einkaufswagens schwebte langsam aus der Garage hinaus. Sein oberer Bereich war abgedeckt, voll gepackt mit Technik, der untere bestand aus einem leeren Korb mit feinmaschigen Gitterwanden. Er glitt uber den kunstlichen Meeresboden auf die Krabben zu und stoppte kurz vor einer kleinen Gruppe reglos dahockender Tiere. Klar und deutlich waren die augenlosen, gebogenen Schalen mit den kraftigen Scheren zu sehen.
»Ich schalte um auf die Sphare«, sagte Johanson.
Das verzerrte Bild wich einer klaren und gestochen scharfen Detailaufnahme.
Aus dem Schlitten, der bewegungslos uber den Krebsen hing, schob sich eine rot lackierte Kugel, nicht gro?er als ein Fu?ball. Sie war der eigentliche Namensgeber des Gefahrts. Wie sie nach drau?en schwebte, nur uber Kabel mit dem gro?eren Gerat verbunden, das glanzende Auge des Kameraobjektivs starr geradeaus gerichtet, erinnerte sie an den fliegenden Kampfroboter aus Krieg der Sterne, mit dem Luke Skywalker den Lichtschwertkampf hatte trainieren mussen. Tatsachlich war der Spherobot mit seinen sechs kleinen Steuerdusen dem cineastischen Vorbild bis ins Detail nachempfunden. Nach kurzer Fahrt sank er langsam tiefer, bis er dicht uber den Krabben verharrte. Keines der Tiere lie? sich von dem merkwurdigen roten Ball aus der Ruhe bringen, auch nicht, als Teile seiner Unterseite auseinander glitten und sich aus dem Innern zwei schlanke, mehrgelenkige Arme entfalteten.
Am Ende der Arme begannen Arsenale mit Instrumenten zu rotieren. Dann schob sich links eine Zange hervor und rechts eine kleine Sage. Johansons Hande umspannten die beiden Joysticks und bewegten sie vorsichtig nach vorne, und die Arme des Roboters im Tank folgten seinen Bewegungen.
»Hasta la vista, baby«, sagte Oliviera mit Schwarzenegger-Akzent.
Die Zange fuhr nach unten, packte eine der Krabben um Bauch und Rucken und hob sie vor die Linse der Kamera. Auf dem Monitor hatte das Tier die Gro?e eines Monsters. Seine Mundwerkzeuge bewegten sich, die Beine strampelten, aber die Scheren hingen schlaff herab. Johanson lie? die Zange um 360° rotieren und beobachtete aufmerksam das Verhalten des sich drehenden Tiers.
»Motorik einwandfrei«, sagte er. »Laufapparat funktioniert.«
»Dafur keine arttypischen Reaktionen«, bemerkte Rubin.
»Nein. Kein Spreizen der Scheren, keine Drohgebarden. Das ist einfach nur ein Automat, eine Laufmaschine.« Er bewegte den zweiten Joystick und druckte einen Knopf an der Oberseite. Die Kreissage begann sich zu drehen und fuhr seitlich in den Panzer. Kurz zuckten die Beine der Krabbe wie wild.
Der Panzer brach auf.
Etwas Milchiges flutschte nach drau?en und hing einen Moment lang zitternd uber dem zerstorten Tier.
»Mein Gott«, entfuhr es Oliviera.
Das Ding hatte mit nichts Ahnlichkeit, weder mit einer Qualle noch mit einem Tintenfisch. Es war ganz und gar formlos. Wellen durchliefen seine Rander, der Korper blahte und verflachte sich. Johanson kam es vor, als zucke ein Blitz durch sein Inneres, aber im grellen Schein der Tankbeleuchtung konnte das auch eine Sinnestauschung gewesen sein. Wahrend er noch daruber nachdachte, verformte sich das Wesen plotzlich zu etwas Langem, Schlangenartigem und schoss davon.
Er fluchte, hob die nachste Krabbe hoch und schnitt sie auf. Diesmal ging alles noch viel schneller, und der gallertige Insasse machte sich davon, bevor sie ihn richtig anschauen konnten.