Anawak wankte und knickte ein. Vanderbilt verlagerte sein Gleichgewicht. Die meisten Menschen, die Jack Vanderbilt kennen lernten, machten sich vollig falsche Vorstellungen von seiner Kraft und Behandigkeit. Sie sahen nur seine Leibesfulle. Tatsachlich war der CIA-Direktor durch alle Schulen des Angriffs und der Selbstverteidigung gegangen, und auch mit zwei Zentnern gelangen ihm immer noch ein paar bemerkenswerte Sprunge. Er nahm Anlauf, katapultierte sich durch die Luft und rammte Anawak den Stiefel gegen das Brustbein. Anawak sturzte auf den Rucken. Sein Mund offnete sich zu einem O, aber kein Laut drang heraus. Vanderbilt wusste, dass dem anderen gerade die Luft wegblieb. Er beugte sich uber ihn, packte Anawak an den Haaren, riss ihn zu sich hoch und versenkte den Ellbogen in seinem Solarplexus.

Das durfte furs Erste reichen. Jetzt zuruck zu Johanson. Ab in die See mit ihm, und Anawak gleich hinterher.

Als er sich aufrichtete, sah er Greywolf auf sich zukommen.

Vanderbilt ging in Angriffsposition. Er wirbelte um seine Achse, das rechte Bein ausgestreckt, trat zu — und prallte ab.

Was soll denn das?, dachte er verwirrt. Jeder andere ware nach der Attacke zu Boden gegangen oder hatte sich unter Schmerzen gekrummt. Dieser riesige Halbindianer lief einfach weiter. In seinen Augen lag ein unmissverstandlicher Ausdruck. Plotzlich wurde Vanderbilt klar, dass er diesen Kampf gewinnen musste, weil er ihn sonst nicht uberleben wurde. Er uberkreuzte die Arme, um den nachsten Schlag zu landen, langte aus und spurte, wie seine Faust einfach weggewischt wurde. Im nachsten Moment grub sich Greywolfs Linke in sein Doppelkinn. Vanderbilt trat mit den Beinen. Der Indianer schob ihn, ohne in seinem Tempo innezuhalten, dem Rand entgegen, holte aus und schlug zu.

Vanderbilts Gesichtsfeld explodierte.

Alles wurde rot. Er horte sein Nasenbein brechen. Der nachste Schlag zertrummerte die Knochen der linken Wange. Ein gurgelnder Schrei entrang sich seiner Kehle. Wieder kam die Faust herangesaust und bohrte sich zwischen seine Kiefer. Zahne splitterten. Vanderbilt schrie jetzt lauter, vor Schmerz und aus Wut. Er war au?er sich. Er hing hilflos im Griff des Riesen und konnte nichts dagegen tun, dass sein Gesicht zu Brei geschlagen wurde.

Die Beine sackten ihm weg.

Greywolf lie? ihn los, und Vanderbilt schlug der Lange nach hin. Viel sah er nicht mehr, etwas Himmel, den grauen Asphalt der Plattform mit den aufgemalten gelben Markierungen, alles durch einen blutigen Schleier, und dort, ganz nah, die Waffe. Seine Rechte fingerte danach, bekam sie zu fassen, umspannte den Griff. Er riss den Arm hoch und schoss.

Einen Augenblick herrschte Ruhe.

Hatte er getroffen? Er druckte ein weiteres Mal ab, aber dieser Schuss ging in die Luft. Sein Arm war nach hinten gebogen worden. Kurz sah er Anawak uber sich auftauchen, dann wurde ihm die Pistole aus der Hand geschlagen, und er blickte wieder in Greywolfs hasserfullte Augen.

Schmerz durchflutete ihn.

Was war geschehen? Er lag nicht mehr auf dem Rucken, sondern stand aufrecht. Oder hing er? Er wusste tatsachlich nicht mehr, wo oben und unten war. Nein, er schwebte. Er flog ruckwarts. Durch einen Nebel von Blut erkannte er die Plattform. Da war die Kante. Warum war er au?erhalb der Kante? Sie zog uber ihn hinweg, entfernte sich nach oben mitsamt den schutzenden Netzen, und Vanderbilt begriff, dass sein Leben jetzt enden wurde.

Die Kalte traf ihn wie ein Schock.

Aufspritzende Gischt. Von Schaum durchzogenes Grun, jede Menge Blasen. Unfahig, sich zu bewegen, sank Vanderbilt hinab. Das Meerwasser wusch das Blut aus seinen Augen, wahrend sein Korper der Tiefe zustrebte. Da war kein Schiff, gar nichts, nur konturloses, dunkler werdendes Grun, aus dem sich ein Schatten naherte.

Der Schatten war schnell. Er besa? ein Maul, das unmittelbar vor ihm auseinander klaffte.

Dann war nichts mehr.

Labor

»Um Gottes willen, was tun Sie denn da?«

»Freilassen.«

Die Worte hallten in Weavers Kopf wider: Peaks voller Entsetzen ausgesto?ene Frage, Lis harscher Befehl, bevor das komplette Labor plotzlich einen Satz getan hatte und in Schieflage geraten war. Auf das Drohnen der Explosion folgte unbeschreiblicher Larm, als alles um sie herum umsturzte und zu Bruch ging. Weaver wurde von den Beinen geschleudert, und mit ihr Rubin. In einem Durcheinander umherfliegender Instrumente und Behalter landeten sie nebeneinander hinter dem Labortisch. Ein Donnergrollen fegte durch den Raum. Alles vibrierte. Irgendwo zersprang mit lautem Knallen Glas. Weaver dachte an das Hochsicherheitslabor und hoffte instandig, dass die Abschottung aus Panzerglas und hermetisch verriegelten Schleusen standhielt. Sie robbte auf dem Hintern von Rubin weg, der herumrollte und sich wild umsah.

Ihr Blick fiel auf den Phiolenkoffer. Er war direkt vor ihre Fu?e gerutscht. Sie sah ihn, und Rubin sah ihn ebenfalls.

Einen Moment lang schatzte jeder von ihnen seine Chancen ab. Dann schnellte Weaver nach vorne, aber Rubin war schneller. Er bekam den Koffer zu packen, sprang auf und rannte in den Raum hinein. Weaver fluchte und verlie? notgedrungen ihre Deckung. Was immer gerade passiert war, was immer die Folgen waren, was Li auch vorhaben mochte — sie musste den Koffer an sich bringen.

Zwei der Soldaten lagen am Boden. Einer ruhrte sich nicht, der andere rappelte sich eben hoch. Der dritte Soldat war auf den Beinen geblieben und hielt seine Waffe unverandert im Anschlag. Li buckte sich, um dem reglosen Mann das Gewehr abzunehmen, ein massives, schwarzes Ding. Im nachsten Moment visierte sie Weaver an. Peak lehnte stocksteif neben der verriegelten Tur.

»Karen!«, schrie er. »Bleiben Sie stehen. Es wird Ihnen nichts passieren, bleiben Sie gottverdammt nochmal stehen!«

Seine Stimme ging unter im Geknatter der Waffe. Weaver sprang wie eine Katze hinter die benachbarte Laborinsel. Sie hatte keine Ahnung, womit Li da schoss, aber die Munition zerfetzte den Tisch, als sei er aus Pappe.

Glassplitter flogen ihr um die Ohren, ein zentnerschweres Mikroskop krachte dicht neben ihr zu Boden. In das Inferno mischte sich gleichma?ig der Bordalarm. Plotzlich sah sie Rubin, der mit angstgeweiteten Augen wieder auf sie zurannte.

»Mick!«, rief Li. »Sie Idiot! Kommen Sie hierher.«

Weaver hechtete aus ihrem Versteck. Sie lie? sich gegen den Biologen fallen und entriss ihm den Phiolenkoffer. Im selben Moment erzitterte das Schiff erneut, und der Raum neigte sich. Rubin rutschte uber den Boden, rasselte in ein Regal und brachte es zum Umkippen. Eine Flut aus Probengefa?en und Glasern prasselte auf ihn herab. Er heulte auf und zappelte wie ein Kafer auf dem Rucken. Weaver sah Li aus dem Augenwinkel die Waffe schwenken und den dritten Soldaten uber den zerschossenen Tisch springen. Auch er trug eines der gewaltigen schwarzen Dinger, und noch im Sprung zog er es hoch.

Es gab keinen Weg, wohin sie hatte fliehen konnen. Also lie? sie sich neben Rubin fallen.

»Nicht schie?en!«, horte sie Lis Stimme. »Es ist zu …«

Der Soldat feuerte. Er verfehlte sie. Die Garbe bohrte sich mit gongartigen Aufschlagen ins Panzerglas des Tiefseesimulators und durchpflugte die ovale Scheibe einmal von links nach rechts.

Plotzlich herrschte unheimliche Stille. Nur der Alarm sonderte in regelma?igen Abstanden sein unbeteiligtes, schnarrendes Gerausch ab. Alle erstarrten und hefteten ihre Blicke wie gebannt auf den Tank. Weaver horte ein einzelnes, lautes Knacken. Sie wandte den Kopf und sah, wie sich auf der gro?en Glasplatte Sprunge verastelten.

Es wurden immer mehr.

»Oh Gott«, stohnte Rubin.

»Mick!«, schrie Li. »Kommen Sie endlich!«

»Ich kann nicht«, jammerte Rubin. »Mein Bein. Ich hange fest.«

»Auch egal«, sagte Li. »Wir brauchen ihn nicht. Raus hier.«