Crowe? Wo war sie eigentlich?

Samantha Crowe, die ihm im Traum erschienen war vor langer Zeit und ihm den Weg gewiesen hatte nach Nunavut.

Ein machtiges Klonk drang an seine Ohren, als sei eine Glocke zersprungen. Der Boden neigte sich weiter. Aus den Tiefen des Schiffs drang dumpfes Rauschen an sein Ohr.

Wasser!

Anawak fragte sich, ob ihm uberhaupt noch Zeit blieb, hier wieder rauszukommen. Dann fragte er sich gar nichts mehr und rannte los.

Labor

Weaver wusste nicht, was sie erwartete. Ihr war mulmig beim Gedanken, die Tur zum Labor wieder zu offnen. Aber wenn sie den Plan in die Tat umsetzen wollten, bot das Labor die einzige Chance.

Der Boden bebte. Unmittelbar unter ihren Fu?en rauschte und gurgelte es. Johanson lehnte schwer atmend neben ihr.

»Mach schon«, sagte er.

Weaver sah das rote Emergency-Symbol uber dem Tastenfeld blinken. Li hatte es tatsachlich geschafft, noch im Herauslaufen die Notverriegelung zu betatigen und das Labor hermetisch abzuriegeln. Sie druckte die Zahlenkombination, und die Tur glitt auf. Wasser schwappte ihnen entgegen und umfloss ihre Beine. Es schoss aus dem hell erleuchteten Raum, aber anstatt die Rampe herunterzuflie?en, sammelte es sich um ihre Knochel und stieg. Plotzlich wusste Weaver auch, warum. Die Independence hing so schief, dass es nicht uber die Rampe zum Welldeck abflie?en konnte. Wahrscheinlich hatte sich dieser Teil der Rampe infolge der Neigung schon in ebenen Boden verwandelt.

Sie wich zuruck. »Wir mussen aufpassen«, sagte sie. »Das Zeug konnte nach drau?en gelangt sein.« Johanson warf einen Blick ins Innere. In unmittelbarer Nahe des zerborstenen Tanks sah er zwei leblose Korper treiben. Mit vorsichtigen Schritten watete er durch den Sog des ausstromenden Wassers in die gro?e Halle. Weaver folgte ihm. Ihr erster Blick galt den Containern des Hochsicherheitslaboratoriums, aber sie waren augenscheinlich unversehrt. Sie verspurte Erleichterung. Eine Verseuchung mit Pfiesterien war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Zum Heck hin stieg der Boden sanft aus dem Wasser.

Dafur stand es zur anderen Seite umso hoher. »Sie sind alle tot«, flusterte Weaver. Johanson kniff die Augen zusammen. »Da!« Ein Stuck neben den Soldaten trieb ein weiterer Korper. Es war Rubin. Weaver schluckte ihren Abscheu und ihre Angst herunter. »Einen davon brauchen wir«, sagte sie. »Welchen, ist egal.« »Dafur mussen wir tiefer rein.« »Ja. Nicht zu andern.« Sie setzte sich in Bewegung. »Karen, pass auf!« Das war Johanson. Sie wollte sich umdrehen, als etwas von hinten gegen sie prallte. Ihre Fu?e rutschten weg. Mit einem Aufschrei landete sie im Wasser, kam prustend hoch und drehte sich auf den Rucken.

Einer der Soldaten stand dort und hielt sie und Johanson mit einem massigen, schwarzen Gewehr in Schach.

»Oh nein«, sagte er gedehnt. »Oooh, nein.«

Sein Blick spiegelte eine Mischung aus Todesangst und einsetzendem Wahnsinn. Weaver richtete sich langsam auf und hob die Hande, sodass er ihre Handflachen sehen konnte.

»Oh nein«, wiederholte der Mann.

Er war sehr jung. Weaver schatzte ihn auf neunzehn. Das Gewehr in seinen Handen zitterte. Er wich einen Schritt zuruck und lie? seine Blicke zwischen ihr und Johanson hin— und herwandern.

»Hey«, sagte Johanson. »Wir wollen Ihnen helfen.«

»Ihr habt uns eingeschlossen«, sagte der Soldat. Es klang weinerlich, als sei er kurz davor loszuschreien.

»Das waren nicht wir«, sagte Weaver.

»Ihr habt uns mit … mit diesem … Ihr habt uns damit allein gelassen.«

Das fehlte noch. Die Independence sank, sie mussten Li aufhalten, irgendwie an einen der Toten kommen, um den Plan durchzufuhren, und jetzt bekamen sie es auch noch mit diesem in Panik geratenen Jungen zu tun.

»Wie hei?en Sie?«, fragte Johanson unvermittelt.

»Was?« Die Augen des Soldaten flackerten. Dann riss er das Gewehr hoch und richtete es auf Johanson.

»Nein!«, schrie Weaver.

Johanson hob die Hand zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er sah in die Mundung der Waffe und senkte seine Stimme.

»Bitte sagen Sie uns Ihren Namen.«

Der Soldat zogerte.

»Es ist wichtig, dass wir Ihren Namen kennen«, wiederholte Johanson im Tonfall des freundlichen Herrn Pfarrers.

»MacMillan. Ich bin … ich hei?e MacMillan.«

Allmahlich begriff Weaver, was Johanson vorhatte. Der erste Weg, jemanden in die Normalitat zuruckzuholen, bestand darin, ihm ins Gedachtnis zu rufen, wer er war.

»Gut, MacMillan, sehr gut. Horen Sie, wir brauchen Ihre Hilfe. Dieses Schiff sinkt. Wir mussen ein Experiment durchfuhren, das uns alle retten konnte …«

»Uns alle?«

»Haben Sie Familie, MacMillan?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Wo lebt Ihre Familie?«

»Boston.« Die Gesichtszuge des Jungen verzogen sich. Er begann zu weinen. »Aber Boston ist …«

»Ich wei?«, sagte Johanson eindringlich. »Horen Sie, wir konnen noch etwas tun, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Auch in Boston. Aber dafur brauchen wir Ihre Hilfe. Wir brauchen sie jetzt! Jede Sekunde, die wir verlieren, kostet Ihre Familie vielleicht die letzte Chance.«

»Bitte«, sagte Weaver. »Helfen Sie uns.«

Der Soldat lie? seine Blicke weiter zwischen ihr und Johanson hin— und herwandern. Er schniefte laut. Dann lie? er das Gewehr sinken.

»Sie bringen uns hier raus?«, fragte er.

»Ja.« Weaver nickte. »Versprochen.«

Mein Gott, was redest du, dachte sie. Gar nichts kannst du versprechen. Uberhaupt nichts.

Li

Das geheime Labor war erstaunlich intakt. Es lag hoher als das regulare. Der Boden war ubersat mit Scherben, aber ansonsten schien alles an seinem Platz.

Einige Monitore flackerten vor sich hin.

»Wo hat er blo? die Rohren«, uberlegte Li.

Sie steckte ihre Waffe zuruck ins Halfter und sah sich um. Der Raum war verlassen. In dem kleinen Hochdrucktank erwartete sie blaues Schimmern zu sehen, aber dann fiel ihr ein, dass Rubin erwahnt hatte, er hatte das Gift erfolgreich getestet. Sie spahte durch eines der Bullaugen. Nichts. Kein Organismus, kein Leuchten.

Peak wanderte zwischen den Labortischen und Schranken umher.

»Hier«, rief er.

Li eilte zu ihm. Ein Gestell war umgefallen. Mehrere schlanke, torpedoformige Rohren lagen kreuz und quer ubereinander, jede knapp einen Meter lang. Sie hoben die Rohren nacheinander auf. Zwei waren deutlich schwerer als die anderen, und plotzlich sah Li auch die Kennzeichnungen. Rubin hatte sie mit einem wasserfesten Marker auf die Seiten geschrieben.

»Sal«, sagte sie fasziniert. »Wir halten die neue Weltordnung in Handen.«

»Schon.« Peak sah sich nervos um. Ein Reagenzglas rollte von einem Tisch und zerbrach mit leisem Klirren. Immer noch drohnte der Alarm durch das Schiff. »Dann lassen Sie uns die neue Weltordnung schleunigst hier rausbringen.«

Li lachte laut auf. Sie reichte Peak eine der Rohren, nahm die andere und lief aus dem Labor auf den Gang hinaus.

»In funf Minuten werde ich diese Anma?ung der Schopfung in den Orkus schicken, Sal, darauf konnen Sie sich verlassen!«

»Mit wem wollen Sie runtergehen? Glauben Sie, dass Mick noch lebt?«

»Mir ist schei?egal, ob er lebt.«

»Ich konnte Sie begleiten.«

»Danke, Sal, zu gro?zugig. Was wollen Sie tun? Mir da unten die Ohren voll heulen, weil ich mir erlauben konnte, blauen Schleim zu toten?«

»Das ist was anderes, und das wissen Sie genau! Es ist ein verdammter Unterschied, ob …«

Sie erreichten den Niedergang. Von der anderen Seite naherte sich jemand. Er rannte ihnen entgegen, den Kopf gesenkt.

»Leon!«

Anawak schaute auf, erkannte sie und blieb abrupt stehen. Sie waren einander sehr nahe, nur der Niedergang lag zwischen ihnen.