Evakuierung

Im Gegensatz zu den meisten Menschen auf der Independence wusste Crowe ziemlich genau, was geschehen war. Die Rumpfkameras hatten den Aufstieg der leuchtenden Kugel auf die Monitore ubertragen. Der Ball hatte aus Gallerte bestanden, so viel stand fest, und als er geplatzt war, hatte sich Gas aus seinem Innern ausgedehnt. Methangas moglicherweise. Inmitten der wild trudelnden Blasen hatte sie einen Umriss zu erkennen geglaubt, der ihr bekannt vorkam: Es war ein Tauchboot gewesen, das da auf die Independence zugerast kam.

Ein Deepflight, bestuckt mit Torpedos.

Unmittelbar nach der Explosion war die Holle ausgebrochen. Shankar war mit dem Schadel gegen die Konsole geprallt und blutete heftig. Crowe hatte ihm aufgeholfen, dann waren Soldaten und Techniker ins CIC gesturmt und hatten sie nach drau?en bugsiert. Der heisere Intervallton des Alarms trieb sie vorwarts. In den Niedergangen drangten sich die Menschen, aber noch schien die Mannschaft der Independence die Situation unter Kontrolle zu haben. Ein Offizier nahm sie in Empfang und lief mit ihnen zu einer heckwarts gelegenen Treppe, die nach oben fuhrte.

»Durch die Insel raus aufs Flugdeck«, sagte er. »Nicht stehen bleiben. Anweisungen abwarten.«

Crowe schob den benommenen Shankar die Treppe hinauf. Sie war klein und zierlich und Shankar gro? und schwer, aber sie nahm all ihre Kraft zusammen.

»Beweg dich, Murray!«, keuchte sie.

Shankars Hande umfassten zitternd die Sprossen. Er zog sich unter Muhen nach oben. »Ich hatte mir eine Kontaktaufnahme immer anders vorgestellt«, hustete er.

»Du hast eben die falschen Filme gesehen.«

Eine Zigarette fehlte ihr jetzt zur Beruhigung. Bekummert dachte sie an die eine, die sie erst Sekunden vor der Explosion angesteckt hatte. Sie lag qualmend im CIC. So eine Schande. Was hatte sie fur eine Zigarette gegeben! Noch einmal eine rauchen, bevor hier alle den Loffel abgaben. Irgendetwas sagte ihr, dass ihre Uberlebenschancen nicht besonders hoch waren.

Nein, fuhr es ihr durch den Kopf. Blodsinn! Wir sind ja gar nicht auf Rettungsboote angewiesen.

Wir haben die Helikopter!

Erleichterung durchflutete sie. Shankar hatte das obere Ende des Niedergangs erreicht. Hande streckten sich ihm entgegen. Crowe folgte ihm und fragte sich, ob sie nicht soeben genau die Art von Kontakt erlebten, in der die menschliche Rasse so bewandert war — aggressiv, unbarmherzig, todlich.

Soldaten zogen sie ins Innere der Insel.

Hey, Miss Alien, dachte sie. Immer noch fasziniert von der Moglichkeit intelligenten Lebens im All?

»Haben Sie eine Zigarette?«, fragte sie einen der Soldaten.

Der Mann starrte sie an.

»Sind Sie noch bei Trost? Machen Sie, dass Sie nach drau?en kommen!«

Buchanan

Auf der Brucke stand Buchanan mit dem Zweiten Offizier und dem Steuermann zusammen, lie? sich fortwahrend auf den neuesten Stand bringen und gab Anweisungen. Er blieb ruhig und besonnen. Wie es aussah, hatte die Explosion einen Teil der Laderaume und des Maschinenraums zerstort. Mit den Laderaumen hatten sie leben konnen, aber im Maschinenraum war es offenbar zu einer Kettenreaktion in den Kraftstoff-und Flussigkeitssystemen gekommen. Weitere Explosionen waren die Folge. Nacheinander fielen samtliche Systeme aus. Der Elektrizitatsbedarf des Schiffes wurde durch eine ganze Serie motorgetriebener Stromaggregate abgedeckt. Neben den beiden LM-2500-Gasturbinen versorgten sechs Dieselelektronik-Generatoren die Independence mit Energie, die sich gerade der Reihe nach verabschiedeten. Tief in den Katakomben unter den Fahrzeug— und Frachtdecks herrschte vermutlich kein Leben mehr. Buchanan hatte die Maschinenraumcrew im Moment, da er die Anweisung zum Schlie?en der Schotts gegeben hatte, dem Tode preisgegeben, aber er konnte sich jetzt nicht den Luxus leisten, daruber nachzudenken. Sie mussten das Schiff evakuieren. Er wagte keine Aussage zu treffen, wie lange es da unten noch einigerma?en stabil blieb. Der Aufschlag war mittschiffs erfolgt. Dennoch hatten sie nicht verhindern konnen, dass ein Teil der bugwarts gelegenen Frachtraume uberflutet wurde, sodass die Independence nun nach vorn wegsackte.

Es war zu viel Wasser im Rumpf. Unter enormem Druck wurde es sich seinen Weg in die Bugspitze bahnen und die Schotts zum nachsthoheren Level aufbrechen. Wenn dann noch die achterlichen Schotts nachgaben, drohte das gesamte Schiff voll zu laufen.

Buchanan gab sich keinen Illusionen daruber hin, dass es geschehen wurde. Es stellte sich lediglich die Frage nach dem Wann. Die Meisterung dieser Krise hing einzig an ihm und seiner Fahigkeit, die Lage richtig zu bewerten. Augenblicklich schatzte er, dass als Nachstes das Fahrzeugfrachtdeck unter dem Labor dran war und ein Teil der angrenzenden Unterkunfte. Das Einzige, was ihn an der ganzen Sache uberhaupt trostete, war der Umstand, dass keine Marines an Bord waren. Im Kriegsfall hatte er rund 3000 Mann von Bord bekommen mussen. Jetzt waren es eben mal 180, und sie hielten sich in den oberen Levels auf.

Einige der Monitore, die das Big Picture aus dem CIC auf die Brucke ubertrugen, waren ausgefallen. Direkt uber Buchanans Kopf leuchtete das verplombte rote Telefon, das ihn in Ausnahmesituationen direkt mit dem Pentagon verband. Sein Blick wanderte uber die praktisch und logisch angeordneten Kommunikationsgerate, Navigationsinstrumente und Kartentische. Nichts davon half ihnen jetzt noch weiter.

Nutzloser Kram.

Auf dem Dach entwickelte das Landungspersonal hektische Betriebsamkeit. Menschen wurden aus der Insel aufs Flugdeck gefuhrt und in bereitstehende Helikopter gelotst, die mit laufenden Rotoren warteten, alles im Laufschritt. Buchanan sprach kurz mit der Flugleitzentrale und sah wieder durch die grunen Scheiben der Brucke nach drau?en. Ein Helikopter hatte bereits abgehoben und entfernte sich schnell vom Schiff. Es konnte nicht schnell genug gehen. Wenn sich der Bug weiter neigte, verwandelte sich das Flugdeck in eine Rutschbahn. Die Fluggerate waren gut gesichert, aber irgendwann wurde es kritisch werden.

LEVEL 03

Anawak begegnete nicht vielen Menschen. Er furchtete, Li und Peak in die Arme zu laufen, aber die beiden waren offenbar in entgegengesetzte Richtung unterwegs. Atemlos und mit schmerzendem Brustkorb hetzte er den Gang zur Krankenstation entlang.

Das Hospital lag verlassen da. Keine Spur von Angeli und seinem Personal. Er gelangte in verschiedene Raume voller Betten, bevor er endlich einen Raum fur medizinisches Equipment fand. Dort sah es aus wie nach einem Erdbeben. Schranke standen offen, der Boden war bedeckt mit Scherben, die unter seinen Schritten knirschten. Nacheinander zog er alle Schubladen auf und kramte in den trummerubersaten Regalboden, ohne eine einzige Spritze zu finden.

Wo waren die verdammten Spritzen?

Wo waren sie normalerweise, wenn man zum Arzt ging? Immer in irgendwelchen Schubladen. Das wusste er genau. In kleinen, wei? lackierten Schrankchen mit vielen Schubladen.

Tief unter ihm rumorte es. Hohles Stohnen drang zu ihm herauf. Stahl verbog sich.

Anawak hastete in den gegenuberliegenden Raum. Auch dort war alles Mogliche zu Bruch gegangen, doch einige der lackierten Schrankchen schienen fest installiert. Er zog sie auf, sah uberall hinein, warf achtlos den Inhalt hinter sich und fand im letzten endlich, wonach er suchte. Hastig griff er ein Dutzend der steril verpackten Spritzen und verstaute sie in seiner Jacke. Jetzt nichts wie zuruck.

Was fur eine aberwitzige Idee.

Entweder hatte Karen Recht, dann war es ein genialer Plan, oder sie machten sich vollig falsche Vorstellungen von der Realitat. Einerseits plausibel, mutete ihr Vorschlag zugleich undurchfuhrbar und naiv an, zumal vor dem Hintergrund der ausgeklugelten Botschaften, die Crowe in die Tiefe geschickt hatte. Andererseits …