Lange konnte es nicht mehr dauern.

Plotzlich sah sie den Torpedo.

Er war hinter einem offenen Durchgang hervorgekollert. Li stie? ein Triumphgeheul aus. Sie sprang hinzu, packte die Rohre und rannte den Flur hinauf zum Niedergang. Peaks Leiche hing halb darin. Sie zerrte den schweren Korper heraus und kletterte die Stiege hinab, sprang die letzten zwei Meter und hielt sich am Gelander fest, um nicht der Lange nach hinzuschlagen.

Dort lag der zweite Torpedo.

Jetzt geriet sie in Hochstimmung. Der Rest wurde ein Kinderspiel sein. Sie lief weiter und stellte fest, dass es so kinderleicht nicht war, weil einige der Niedergange durch Gegenstande blockiert waren. Sie frei zu raumen, wurde zu lange dauern.

Wie kam sie hier heraus?

Sie musste zuruck. Wieder nach oben und raus aufs Hangardeck, um den Weg uber die Rampe zu nehmen.

Rasch, die beiden Torpedos an sich gedruckt wie ihren kostbarsten Besitz, machte sie sich an den Aufstieg.

Anawak

Rubin war ein schwerer Brocken. Nachdem sie in ihre Neoprenanzuge geschlupft waren — Johanson unter Achzen und Stohnen —, schleppten sie ihn mit vereinten Kraften den Steuerbordpier hoch. Das Deck bot einen absurden Anblick. Zu beiden Seiten ragten die Piers wie Sprungschanzen in die Hohe. Der Plankenboden wurde sichtbar, wo er gegen das Heckschott stie?. Inzwischen hatte ein gro?er Teil des Beckenwassers die vier vertauten Zodiacs hoch gedruckt und war in den Gang zum Laboratorium geflossen. Anawak lauschte dem Achzen des Stahls und fragte sich, wie lange die Konstruktion der Belastung noch standhalten mochte.

Schrag hingen die drei Tauchboote von der Decke. Deepflight 2 war an die Stelle des verloren gegangenen Deepflight 1 geruckt, die beiden anderen Boote hatten aufgeschlossen.

»Mit welchem will Li runter?«, fragte Anawak.

»Deepflight 3«, sagte Weaver.

Sie nahmen die Funktionen des Kontrollpults in Augenschein und probierten nacheinander verschiedene Schalter. Nichts tat sich.

»Es muss funktionieren.« Anawaks Blick wanderte uber die Konsole. »Roscovitz hat gesagt, das Welldeck verfuge uber einen eigenen, unabhangigen Stromkreis.« Er beugte sich tiefer uber das Pult und las die Aufschriften genauer. »Da ist es. Das ist die Funktion, um sie runterzulassen. Gut, ich will Deepflight 3. Dann kann Li nichts mehr damit anrichten, wenn sie hier noch erscheint.«

Weaver setzte den Hebezug in Gang, aber statt des mittleren Tauchboots senkte sich das vordere ab.

»Kannst du nicht Deepflight 3 …? «

»Doch, es gibt wahrscheinlich einen Trick, aber ich kenne ihn nicht. Bei mir kommen sie nacheinander runter.«

»Spielt keine Rolle«, sagte Johanson nervos. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Nimm Deepflight 2.«

Sie warteten, bis das Boot auf Pierhohe schwebte. Weaver sprang hinuber und offnete die Hauben der beiden Liegerohren. Rubins Korper schien unglaublich schwer geworden zu sein, als sie ihn auf das Boot zerrten, durchzogen von Nasse und dem Zeug, das sie hineingespritzt hatten. Sein Kopf baumelte hin und her, die Augen starrten milchig ins Nichts. Gemeinsam zerrten und schoben sie die Leiche, bis Rubin in die Rohre des Copiloten plumpste.

Jetzt also war es so weit.

Sein Traum vom Eisberg. Er hatte gewusst, dass es ihn irgendwann nach unten ziehen wurde. Der Eisberg wurde schmelzen, und er wurde hinabsinken zum Grund des unbekannten Ozeans …

Um wen zu treffen?

Weaver

»Du fahrst nicht, Leon.«

Anawak hob uberrascht den Kopf. »Wie meinst du das?«

»So, wie ich’s sage.« Einer von Rubins Fu?en schaute noch raus. Weaver trat dagegen. Sie fand es schrecklich, so rude mit dem Toten umzugehen, auch wenn Rubin ein Verrater gewesen war. Aber Pietat konnten sie sich im Augenblick nicht leisten. »Ich werde runtergehen.«

»Was? Wieso auf einmal?«

»Weil es richtiger ist.«

»Nein, auf keinen Fall.« Er fasste sie bei den Schultern.

»Karen, das kann todlich ausgehen, das ist …«

»Ich wei?, wie es ausgehen kann«, sagte sie leise. »Wir haben alle keine sonderlich gro?e Chance, aber eure ist gro?er. Ihr nehmt die Boote und wunscht mir Gluck, okay?«

»Karen! Warum?«

»Du willst unbedingt Grunde horen, was?«

Anawak starrte sie an.

»Darf ich kurz anmerken, dass wir Zeit verlieren«, drangte Johanson. »Warum bleibt ihr nicht beide oben, und ich gehe?«

»Nein.« Weaver sah Anawak unverwandt an. »Leon wei?, dass ich Recht habe. Ein Deepflight steuere ich mit links, darin bin ich euch beiden uberlegen. Ich war mit der Alvin am Atlantischen Rucken, Tausende von Kilometern tief. Ich kenne mich besser mit Tauchbooten aus als jeder andere hier, und …«

»Unsinn«, rief Anawak. »Ich kann das Ding ebenso gut fliegen.«

»… au?erdem ist das da unten meine Welt. Die tiefe blaue See, Leon. Seit ich klein war. — Seit meinem zehnten Lebensjahr.«

Er offnete den Mund, um etwas zu erwidern. Weaver legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und schuttelte den Kopf.

»Ich fliege.«

»Du fliegst«, flusterte er.

»Okay.« Sie schaute sich um. »Ihr offnet die Schleuse und lasst mich runter. Keine Ahnung, was passiert, wenn der Durchlass einmal offen ist. Vielleicht werden uns die Yrr direkt angreifen, vielleicht passiert gar nichts. Denken wir positiv. Nachdem ich mich ausgeklinkt habe, wartet ihr eine Minute, sofern die Lage es erlaubt, und flieht mit dem zweiten Boot. Kommt mir nicht nach. Bleibt einfach dicht unter den Wellen und seht zu, dass ihr Abstand zum Schiff gewinnt. Ich werde vielleicht sehr tief tauchen mussen. Spater dann …« Sie machte eine Pause. »Na ja, irgendjemand wird uns schon auffischen, oder? Die Dinger haben Satellitensender an Bord.«

»Mit zwolf Knoten brauchst du zwei Tage und zwei Nachte bis Gronland oder Svalbard«, sagte Johanson. »Dafur reicht nicht mal der Sprit.«

»Wird schon schief gehen.«

Sie fuhlte ihr Herz schwer werden. Schnell druckte sie Johanson an sich. Sie dachte daran, wie sie gemeinsam dem Tsunami auf den Shetlands entgangen waren.

Sie wurden sich wieder sehen!

»Tapferes Madchen«, sagte Johanson.

Dann nahm sie Anawaks Gesicht in beide Hande und gab ihm einen langen, festen Kuss auf den Mund. Am liebsten hatte sie ihn nie wieder losgelassen. Sie hatten so wenig miteinander gesprochen, so wenig von dem getan, was das Beste fur sie beide war …

Jetzt blo? nicht sentimental werden.

»Mach’s gut«, sagte Anawak leise. »Spatestens in ein paar Tagen sind wir wieder zusammen.«

Mit einem Sprung war sie in der Pilotenrohre. Das Deepflight schwankte leicht. Sie legte sich auf den Bauch, kroch in die richtige Position und betatigte die Verriegelung. Langsam sanken die beiden Kuppeln herab und schlossen sich. Sie uberflog die Instrumente. Alles sah intakt aus.

Weaver reckte den Daumen.

Die Welt der Lebenden

Johanson trat ans Kontrollpult, offnete die Schleuse und setzte das Boot in Bewegung. Sie sahen zu, wie das Deepflight absank und die Stahlschotts auseinander fuhren. Dunkle See erschien. Nichts bahnte sich seinen Weg ins Innere. Weaver entriegelte von innen die Arretierung, um das Boot freizugeben. Es klatschte auf und versank. Eingeschlossene Luft schimmerte in den Glaskuppeln. Nacheinander verblassten die Farben, begannen die Umrisse zu verschwimmen, bis das Boot nur noch ein Schatten war.

Dann verschwand es.

Anawak fuhlte einen Stich.

Die Heldenrollen in dieser Geschichte sind bereits verteilt, und es sind Rollen fur Tote. Du gehorst in die Welt der Lebenden.

Greywolf!