Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrat, was der Vogelgeist sieht.

Greywolf war der Mittler gewesen, von dem Akesuk gesprochen hatte. Greywolf hatte ihm seinen Traum erklart, und er hatte ihn richtig gedeutet. Der Eisberg war geschmolzen, aber Anawaks Weg fuhrte nicht in die Tiefe, sondern ans Licht.

Er fuhrte in die Welt der Lebenden.

Zu Crowe.

Anawak schrak zusammen. Naturlich! Wie hatte er so beschaftigt sein konnen mit seiner heldenhaften Aufopferung, dass ihm entgangen war, welche Aufgabe an Bord der Independence auf ihn wartete?

»Und jetzt?«, fragte Johanson.

»Plan B.«

»Soll hei?en?«

»Ich muss nochmal nach oben.«

»Bist du verruckt? Wozu?«

»Ich will Sam finden. Und Murray.«

»Da ist niemand mehr«, sagte Johanson. »Das Schiff durfte vollstandig evakuiert sein. Sie waren beide im CIC, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Wahrscheinlich sind sie gleich als Erste rausgeflogen worden.«

»Nein.« Anawak schuttelte den Kopf. »Zumindest nicht Sam. Ich habe sie um Hilfe rufen horen.« »Was? Wann?«

»Bevor ich zu euch runterkam. — Sigur, ich will dir nicht mit meinen Problemen auf die Nerven gehen, aber ich habe ein paar Mal zu oft weggesehen im Leben. Es hat sich einiges geandert. So bin ich nicht mehr. Verstehst du? Ich kann das nicht ignorieren.«

Johanson lachelte.

»Nein. Das kannst du nicht.«

»Pass auf! Ich unternehme einen einzigen Versuch. In der Zeit lasst du Deepflight 3 herunter und machst es startklar. Sofern ich Sam nicht innerhalb der nachsten paar Minuten finde, komme ich zuruck, und wir hauen hier ab.«

»Und falls du sie findest?«

»Haben wir immer noch Deepflight 4, um uns alle rauszubringen.«

»In Ordnung.«

»Wirklich in Ordnung?«

»Naturlich.« Johanson breitet die Hande aus. »Worauf wartest du noch?«

Anawak zogerte. Er biss sich auf die Lippen. »Und wenn ich in funf Minuten nicht hier bin, verschwindest du ohne mich. Klar?«

»Ich werde warten.«

»Nein. Du wartest funf Minuten. Maximal.«

Sie umarmten sich. Anawak lief den Pier hinab. Wo der Tunnel zum Labortrakt begann, war alles uberflutet, aber noch schien sich die Independence in einigerma?en stabiler Lage zu halten. Das Schiff hatte sich wahrend der letzten Minuten nicht weiter nach vorn geneigt.

Wie lange noch, dachte Anawak. Wasser schwappte gegen seine Knochel. Er ging tiefer hinein, kraulte ein Stuck, bekam Boden unter die Fu?e und watete ein paar Meter, bevor es wieder abschussig wurde. Naher zur Hangarrampe neigte sich die Decke dem Wasserspiegel zu, aber es blieben immer noch einige Meter Luft. Anawak schwamm an der verschlossenen Labortur vorbei bis zum Knick und spahte hinauf. Wahrend Teile der Rampe inzwischen ebenen Boden bildeten, waren andere sehr steil geworden. Der Abschnitt zum Hangardeck ragte duster empor. Hoch oben hing eine dunkle Rauchglocke. Er wurde auf allen vieren hinaufkriechen mussen. Ihm war kalt, trotz des Neoprenanzugs. Selbst wenn sie es schafften, mit dem Tauchboot wegzukommen, war das noch keine Garantie dafur, die Sache zu uberleben.

Doch. Er musste uberleben! Er musste Karen Weaver wiedersehen.

Entschlossen machte er sich an den Aufstieg.

Es ging einfacher, als er befurchtet hatte. Der Stahl der Rampe war geriffelt, um den Fahrzeugen und den marschierenden Marines, fur die sie gedacht war, Halt zu bieten. Anawaks Finger klammerten sich ins Relief. Stuck fur Stuck zog er sich hoch, verkeilte die Stiefel in den Streben, packte zu. Nach oben hin erhohte sich die Temperatur, und er fror weniger. Dafur legte sich klebriger Rauch auf seine Lungen und saugte das letzte bisschen Atemluft heraus. Je hoher er kam, desto undurchdringlicher wurden die Rauchschwaden. Vom Flugdeck drang wieder das brullende Gerausch an seine Ohren.

Crowe hatte um Hilfe gerufen, als es bereits brannte. Wenn sie den Ausbruch des Feuers uberlebt hatte, lebte sie vielleicht immer noch.

Keuchend zog er sich die letzten paar Meter hoch und stellte zu seiner Uberraschung fest, dass die Sicht im Hangar besser war als auf der Rampe. Im Tunnel sammelte sich der Rauch, hier sorgten die Durchgange der Au?enlifts fur Zirkulation. Sie brachten den Qualm ins Innere und lie?en ihn zugleich wieder entweichen. Es war hei? und stickig wie in einem Backofen. Anawak presste den Jackenarmel vor Mund und Nase und rannte ins Hangardeck hinein.

»Sam!«, schrie er.

Keine Antwort. Was hatte er erwartet? Dass sie mit ausgestreckten Armen auf ihn zugelaufen kam?

»Sam Crowe! Samantha Crowe!«

Er musste wahnsinnig sein.

Aber besser wahnsinnig als zu Lebzeiten tot. Greywolf hatte Recht gehabt. Er war wie ein lebender Toter durch die Welt gegangen. Diese Art Wahnsinn hier hatte tausendmal mehr zu bieten.

»Sam!«

Welldeck

Johanson war allein.

Er zweifelte nicht daran, dass Floyd Anderson ihm ein paar Rippen gebrochen hatte. Zumindest fuhlte es sich ganz so an. Jede Bewegung schmerzte hollisch. Als sie Rubins Leiche geborgen und ins Tauchboot verfrachtet hatten, hatte er mehrfach laut schreien konnen, aber er hatte die Zahne zusammengebissen, um nicht zum Problem zu werden.

Allmahlich fuhlte er seine Krafte nachlassen.

Er dachte an den Bordeaux in seiner Kabine. Was fur eine Schande! Gerade jetzt hatte ihm ein Glas davon geschmeckt. Es hatte zwar nicht die Rippenbruche geheilt, aber der ganzen leidigen Angelegenheit eine ertraglichere Note verliehen. Eben recht, um mit sich selber anzusto?en, denn au?er ihm schien kein Genie?er mehr am Leben zu sein. Uberhaupt hatte von den vielen wunderbaren und widerwartigen Menschen, die er in den letzten Wochen kennen gelernt hatte, kaum einer seinen ausgepragten Sinn fur das Schone geteilt.

Wahrscheinlich war er doch ein Dinosaurier.

Ein Saurus Exquisitus, dachte er, wahrend er das Deepflight 3 auf Pierhohe absenkte.

Das gefiel ihm. Saurus Exquisitus. Genau das war er. Ein Fossil, das es genoss, Fossil zu sein. Fasziniert von Zukunft und Vergangenheit, die sich allzu oft mischten, sodass man oft gar nicht mehr wusste, in welchem Zeitalter man gerade lebte, weil Vergangenes und Zukunftiges gleicherma?en die Phantasie beflugelte.

Bohrmann …

Der Deutsche hatte einen guten Bordeaux zu schatzen gewusst. Sonst niemand. Sue Oliviera hatte Spa? daran gefunden, aber ebenso gut hatte er ihr etwas halbwegs Trinkbares aus dem Supermarkt vorsetzen konnen. Wer aus dem Chateau-Disaster-Team war schon kultiviert genug, einen trinkreifen Pomerol zu schatzen, au?er vielleicht …

Judith Li.

Er versuchte, ein letztes Mal den Schmerz in seinen Rippen zu ignorieren, sprang auf das Deepflight, stohnte und blieb mit zitternden Knien in der Aufrechten. Dann hockte er sich hin, offnete die Klappe mit der Verschlussmechanik und entriegelte die Hauben.

Langsam fuhren sie hoch und stellten sich senkrecht. Die beiden Rohren lagen offen vor ihm.

»Alles einsteigen«, trompetete er.

Bizarr! Einsam balancierte er im schrag stehenden Welldeck auf einem Tauchboot. An was fur Gestade einen das Leben doch verschlug. Judith Li?

Eher hatte er die Flaschen in die Gronlandische See entleert. Man konnte dem Schonen auch gerecht werden, indem man es bestimmten Menschen vorenthielt.

Li

Au?er Atem erreichte sie das Hangardeck.

Alles war verdunkelt von schwarzem Rauch. Sie versuchte etwas in den Schwaden zu erkennen und meinte, weit hinten eine Gestalt zu erblicken, die dort auf— und ablief.

Dann horte sie es: »Sam! Sam Crowe!«

War das Anawak, der schrie?

Einen Moment lang zogerte sie. Aber was brachte es jetzt noch, Anawak auszuschalten? Jeden Augenblick konnten die letzten Schotts im Bug nachgeben. Das Schiff konnte auseinander brechen. Wenn es einmal so weit war, wurden die Independence sinken wie ein Stein.