Wach auf, Karen.
Ich bin wach.
Ja, sicher, du bist wach und hoch konzentriert, aber du traumst den falschen Traum. Die ganze Menschheit ist in einem Wachtraum gefangen von einer Welt, die es nicht gibt. Wir ertraumen uns einen Kosmos der taxonomischen Tabellen und statistischen Mittelwerte, au?erstande, die objektive Natur wahrzunehmen. Das unserem Blick entzogene Ineinander und Miteinander, das untrennbar Verflochtene, versuchen wir zu entflechten, indem wir es zu einem Nacheinander und Ubereinander ordnen, an dessen Spitze wir uns selber setzen. Wir verstandigen uns uber Idole und Ausschnitte, erklaren sie zur Wirklichkeit, schaffen Abfolgen und Hierarchien, verzerren Raum und Zeit. Immer mussen wir etwas sehen, um es zu verstehen, aber im Moment, da wir es sichtbar machen, entziehen wir es unserem Verstandnis. Der sehende Mensch ist blind, Karen. Schau in die Dunkelheit. Der Urgrund allen Lebens ist dunkel.
Das Dunkle ist bedrohlich. Keineswegs! Es entzieht uns die Koordinaten unserer sichtbaren Existenz. Ist das so schlimm? Die Natur ist objektiv und voller Vielfalt! Erst durch die Brille der Voreingenommenheit verarmt sie, weil wir nach Gefallen oder Missfallen urteilen. Immerzu erblicken wir uns selbst im grellen Flimmern. Zeigen all diese Darstellungen auf unseren Computer— und Fernsehbildschirmen die wirkliche Welt? Ergibt die Aufsummierung aller Eindrucke Vielfalt, solange wir uns uber Prototypen verstandigen mussen wie »die Katze« und »die Farbe Gelb«? Es ist zweifellos etwas Wunderbares, wie das menschliche Hirn dem Variantenreichtum solche Mittelwerte abtrotzt, ein prachtiger Trick, um die Verstandigung uber das Unmogliche moglich zu machen, aber der Preis ist die Abstraktion. Am Ende steht eine idealisierte Welt, in der Millionen Frauen versuchen, wie zehn Supermodels auszusehen, Familien eins Komma zwei Kinder haben und ein Chinese im Schnitt 63 Jahre alt und l Meter 70 gro? wird. Vor lauter Versessenheit auf Normen ubersehen wir, dass die Normalitat im Abnormalen liegt, in der Abweichung. Die Geschichte der Statistik ist eine Geschichte der Missverstandnisse. Sie hat uns geholfen, Uberblick zu gewinnen, aber sie leugnet die Variation. Sie hat uns der Welt entfremdet.
Und einander dafur naher gebracht.
Meinst du wirklich?
Haben wir nicht versucht, mit den Yrr einen Weg der Verstandigung zu finden? Ist es nicht sogar gelungen? Wir haben die Mathematik als Basis entdeckt.
Vorsicht! Das ist etwas vollig anderes. Es gibt keinen Variantenspielraum in der Berechnung des pythagoreischen Quadrats. Die Lichtgeschwindigkeit bleibt immer die Lichtgeschwindigkeit. Mathematische Formeln sind unverruckbar, solange sie denselben physikalischen Raum beschreiben. Mathematik lasst keinerlei Wertung zu. Die mathematische Formel ist nichts, das in einer Hohle oder auf einem Baum lebt, das man streicheln kann oder das die Zahne fletscht, wenn man ihm zu nahe kommt. Es gibt kein durchschnittliches Gravitationsgesetz unter vielen ahnlichen, sondern nur das eine. Sicher, uber die Mathematik haben wir einen Austausch zuwege gebracht, aber verstehen wir einander deswegen? Hat die Mathematik die Menschen einander naher gebracht? Die Etikettierung der Welt folgt den Besonderheiten der jeweiligen Kulturgeschichte, und jeder Kulturkreis sieht die Welt ganz anders. Die Inuit kennen kein einziges Wort fur Schnee, aber Hunderte fur Schneearten. Das Volk der Dani auf Neuguinea kennt keine Bezeichnungen fur Farben.
Was siehst du?
Weaver starrt in die Dunkelheit. Das Tauchboot zieht ruhig seine Bahn, immer noch um 60 Grad geneigt, 12 Knoten schnell. Eintausendfunfhundert Meter hat sie schon zuruckgelegt. Nicht mal ein Achzen oder Knacken ist von der Verschalung des Deepflight zu horen. In der Nachbarrohre liegt Mick Rubin. Sie versucht, moglichst wenig an ihn zu denken. Es ist merkwurdig, mit einem Toten durch die Nacht zu fliegen.
Ein toter Botschafter, auf dem alle Hoffnungen ruhen.
Plotzlich ein Aufblitzen.
Die Yrr?
Nein, etwas anderes. Tintenfische. In einen ganzen Schwarm ist sie geraten. Plotzlich schwebt sie mitten durch ein unterseeisches Las Vegas. In der immer wahrenden Nacht der Tiefsee konnen weder bunte Kleider noch Tanze mogliche Partnerinnen beeindrucken. Wenn die Junggesellen auf der Suche nach einer Begleiterin sind, protzen sie durch Beleuchtung. Ganze Organreihen blinken mit lumineszierenden Bakterien in Photophoren, kleinen durchsichtigen Taschen, die sich verschlie?en und wieder offnen lassen, ein Blinkgewitter, codiertes Tiefseegeschrei. In diesem Fall scheint es weniger darum zu gehen, Weavers Tauchboot den Hof zu machen. Die Blitze dienen der Abschreckung. Verschwinde, sagen sie, und als Weaver nicht verschwindet, offnen die Tiere ihre Photophoren ganz und umschwarmen sie, angetan mit einem gleichma?ig schimmernden Kleid aus Licht. Dazwischen kleinere Organismen, hell mit rotem oder blauem Kern: Medusen.
Dann gesellt sich etwas hinzu, das Weaver nicht sehen kann, aber ihr Sonar erfasst es. Eine gro?e, kompakte Masse. Einen Moment lang denkt sie an ein Kollektiv der Yrr, aber die Kollektive leuchten, und dieses Ding hier ist so schwarz wie das umgebende Meer. Es hat eine langliche Form, wuchtig zur einen und schlank zulaufend zur anderen Seite. Weaver fliegt geradewegs darauf zu. Sie zieht das Deepflight ein Stuck hoch und gleitet uber das Wesen hinweg, und im selben Moment wird ihr klar, was sie da moglicherweise uberflogen hat.
Wale mussen trinken. Eine absurde Vorstellung angesichts eines Lebens unter Wasser, aber die Gefahr, im Ozean zu verdursten, ist fur einen Wal ebenso gro? wie fur einen Schiffbruchigen. Quallen bestehen fast vollstandig aus Wasser, Su?wasser namlich, ebenso wie Tintenfische, die viel lebenswichtige Flussigkeit liefern, und darum taucht der Pottwal nach Tintenfischen und Medusen. Senkrecht sto?t er hinab, in eintausend, zweitausend, mitunter bis zu dreitausend Meter Tiefe, bleibt dort langer als eine Stunde, bis er wieder fur zehn Minuten an die Wasseroberflache zuruckkehrt, um zu atmen, und wieder taucht er ab.
Weaver ist einem Pottwal begegnet. Einem regungslosen Rauber mit guten Augen. Sie durchquert das Reich der Finsternis und der guten Augen. Alle hier unten sehen gut.
Was siehst du? Was siehst du nicht?
Du gehst eine Stra?e entlang. In einiger Entfernung erkennst du einen Mann, der dir entgegenkommt. Noch ein Stuck weiter fuhrt eine Frau einen Hund spazieren. Klick, Momentaufnahme! Beschreibe, wie viele Lebewesen auf der Stra?e unterwegs sind und ihre Entfernung zueinander.
Wir sind vier.
Nein, wir sind mehr. In den Baumen sehe ich drei Vogel, also sind wir sieben. Der Mann ist achtzehn Meter weit entfernt, die Frau funfzehn. Der Hund dreizehneinhalb, er zieht ihr voraus, liegt in seinem Halsband. Die Vogel befinden sich in zehn Meter Hohe und sitzen je einen halben Meter auseinander. — Nein! In Wahrheit tummeln sich auf dieser Stra?e Milliarden Lebewesen. Nur drei davon sind Menschen. Eines ist ein Hund. Au?er den drei Vogeln sitzen noch 57 weitere Vogel in den Baumen, die ich nicht sehe. Die Baume selber sind Lebewesen, in deren Blattwerk und Borke Myriaden von Insekten wohnen. Das Gefieder der Vogel besiedeln Milben, ebenso wie die Poren unserer Haut. Der Hund vereint auf seinem Fell eine halbe Hundertschaft Flohe, vierzehn Zecken, zwei Mucken und in Darm und Magen Tausende winziger Wurmer. Sein Speichel ist gesattigt mit Bakterien. Ahnlich besiedelt sind wir, und die Entfernung all dieser Lebensformen zueinander betragt praktisch null. Sporen, Bakterien und Viren schweben in der Luft, bilden organische Ketten, deren Teil wir sind, verflechten uns alle zu einem einzigen Superorganismus, und ebenso verhalt es sich im Meer.
Was bist du, Karen Weaver?
Ich bin in weitem Umkreis die einzige menschliche Lebensform — sieht man von Rubin ab, der keine Lebensform mehr ist, weil tot.