Du bist ein Partikel.

Ein Partikel in der Vielfalt. Keinem anderen Menschen gleichst du vollstandig, wie keine Zelle einer anderen in jedem Detail gleicht. Irgendetwas ist immer anders. So musst du die Welt betrachten. Als Spannbreite von Ahnlichkeiten. Ist es nicht trostlich, dich als Partikel begreifen zu durfen, wenn dir dafur Einzigartigkeit zugestanden wird?

Du bist ein Partikel in Raum und Zeit.

Der Tiefenmesser blinkt auf.

Zweitausend Meter.

Siebzehn Minuten. Seit siebzehn Minuten bin ich unterwegs. Das sagt dir diese Uhr?

Ja.

Um die Welt zu begreifen, musst du eine andere Zeit entdecken. Du musstest dich erinnern, aber das kannst du nicht. Der Mensch ist seit zwei Millionen Jahren kurzsichtig. Homo sapiens hat die gro?te Zeitspanne im Verlauf seiner Evolution mit Jagen und Sammeln verbracht. Das hat sein Gehirn geformt, wie es heute ist. Die Zukunft unserer Vorfahren war immer nur das unmittelbar Folgende, alles daruber Hinausgehende so verschwommen wie lange Zuruckliegendes. Wir lebten im Augenblick, primar interessiert an Fortpflanzung. Schlimme Katastrophen gerieten in Vergessenheit oder hielten Einzug in die Mythologie. Die Verdrangung war ein Geschenk der Evolution, aber heute ist sie zu unserem Fluch geworden. Immer noch uberschaut unser Geist keinen Zeithorizont, der mehr als ein paar Jahre in die Vergangenheit und in die Zukunft reicht. Wenige Generationen, und wir verdrangen, ignorieren, vergessen. Au?erstande, uns Vergangenes zu merken und daraus zu lernen, sind wir unfahig, die Zukunft zu betrachten.

Menschen sind nicht geschaffen, das Ganze zu sehen und ihren Platz darin. Wir teilen nicht die Erinnerung der Welt.

Blodsinn! Die Welt erinnert sich nicht. Menschen erinnern sich, aber nicht die Welt. Das mit der Welterinnerung ist esoterischer Quatsch.

Meinst du? Die Yrr erinnern sich an alles. Sie sind die Erinnerung.

Weaver fuhlt sich schwummrig.

Sie uberpruft die Sauerstoffzufuhr. Allmahlich schlagen ihre Gedanken Purzelbaume. Diese Tauchfahrt scheint zu einem halluzinogenen Trip zu werden. Ihre Gedanken verteilen sich im Dunkel der Gronlandischen See in alle Richtungen.

Wo bleiben die Yrr?

Sie sind hier.

Wo?

Du wirst sie sehen.

Du bist ein Partikel in der Zeit.

Durch stille Dunkelheit sinkst du hinab mit unzahligen deinesgleichen, ein kalter, salziger Wasserpartikel, mude und schwer geworden nach der warmezehrenden Reise von den Tropen hinauf in diese unwirtliche Region, bis ihr euch im Gronlandischen und Norwegischen Tiefseebecken gesammelt habt, in einem gro?en Pool eiskalten, schweren Wassers. Von dort schwappst du uber den untermeerischen Gebirgszug zwischen Gronland, Island und Schottland ins Atlantische Becken. Endlos geht es uber Lavahaufen und Sedimentablagerungen in den Abgrund. Ihr seid ein machtiger Strom, du und die anderen, und bei Neufundland werdet ihr zudem verstarkt durch Wassermassen aus der Labradorsee, die weniger dicht und kalt sind. In Hohe der Bermudas nahern sich kreisrunde Ufos quer uber den Ozean aus dem Mittelmeer, warme, extrem salzige Wasserwirbel, die aus der Stra?e von Gibraltar rubergeflogen kommen und zu euch sto?en. Mittelmeer, Labrador, Gronland, all diese Wasser vermischen sich, und ihr strebt weiter nach Suden, tief unten im Meer.

Du wirst Zeuge, wie sich die Erde selbst erschafft.

Dein Weg fuhrt dich entlang des Atlantischen Ruckens, einer jener gewaltigen Hohenrucken, die samtliche Ozeane langs durchziehen. Zusammen so gro? wie alle Kontinente, aneinander gereiht 60000 Kilometer lang, gekront von Reihen um Reihen aktiver und erloschener Vulkane. Mehr als 3000 Meter ragen die Rucken uber dem Meeresboden auf, immer noch fast ebenso viel Wasser haben sie uber sich, und spalten die Erde. Wo ihre Achse sich spreizt, dringt Magma aus unterirdischen Kammern an die Oberflache, aber anstatt explosionsartig zu verdampfen, quillt das flussige Gestein unter dem Druck der kalten Tiefsee in tragen Kissen hervor. Es drangt sich zwischen die Flanken der ozeanischen Rucken und schiebt sie auseinander mit der Beharrlichkeit impertinenter, dicker Kinder — neu geborener Meeresboden, der erst noch seine Form finden muss. Unendlich langsam driften die Hange auseinander. Hei? ist der Boden, wo die Lava das Schwarz der Tiefsee leuchtend rot maandert. Erdbeben schutteln die Schlucht, aus der sie quillt, und die Kammregion zu beiden Seiten. Weiter au?en kuhlen die Hange ab. Alteres Gestein formt dort die Topographie, mit wachsendem Abstand zum Rucken immer alter, kalter und dichter werdend, bis der alte, kalte, schwere Boden zu den endlosen Abyssalen abfallt, den Tiefseeebenen, die sich, gespickt mit Bergen und uberzogen mit Schichten aus lockerem Sediment, dahinwalzen, Forderbander vergangener Zeitalter, nach Westen Amerika zustrebend und ostwarts gen Europa und Afrika, bis sie sich eines Tages unter die Landmassen schieben werden, um tief in den Erdmantel hinabzutauchen und aufzuschmelzen im Brennofen der Asthenosphare, die sie Jahrmillionen spater zuruckschicken wird in die Schluchten der ozeanischen Rucken, als rot gluhende Magma.

Welch ein Kreislauf! Rund um den Erdball wandert der Meeresboden unermudlich dahin, gespalten vom Druck des Erdinnern und gezogen vom Gewicht seiner abtauchenden Bodenplatten. Ein bestandiges Pressen, Ziehen und Zerren, geolithische Geburtswehen und Bestattungszeremonielle, die das Gesicht der Erde formen. Afrika wird sich mit Europa vereinen. Wieder vereinen! Die Kontinente verschieben sich. Aber sie bewegen sich nicht wie Eisbrecher durch sprode Erdkruste, sondern werden passiv auf ihr mitgeschleppt, seit Rodinia, der erste aller Urkontinente, im Prakambrium auseinander gerissen wurde. Nichts anderes geschieht, als dass seine Bruchstucke immer wieder zueinander streben, sich zu Gondwana und zuletzt Pangaa fanden und erneut getrennt wurden, eine versprengte Familie mit einer 165 Millionen Jahre alten Erinnerung an die letzte zusammenhangende Landmasse mit einem einzigen Ozean drum herum, gebunden an die Flie?geschwindigkeit zahflussigen Mantelgesteins, dazu verdammt, einander auf einer Kugel zu suchen.

Du bist ein Partikel.

Du erlebst nur einen Atemzug von alledem. Wahrend sich der atlantische Meeresboden funf Zentimeter weitergeschoben hat, bist du bereits ein Jahr gewandert. Auf dieser Reise siehst du Leben ohne Sonne. Die Lava erkaltet schnell und bildet Verwerfungen und Risse. Meerwasser dringt in den neuen, porosen Boden.

Kilometertief flie?t es hinab bis unmittelbar uber die hei?en Magmakammern im Erdinnern, kehrt zuruck nach oben, gesattigt von Leben spendender Warme und Mineralien, pechschwarz gefarbt von Sulfiden, und schie?t aus haushohen, schornsteinahnlichen Gebilden, kochend hei?, ohne zu kochen. In solcher Tiefe kocht 350 Grad hei?es Wasser nicht, es stromt nur und verteilt seinen Reichtum an Nahrstoffen in die unmittelbare Umgebung, ein hundertmal gro?eres Angebot als in den umliegenden Gewassern. Auf deiner Reise in das unbekannte Universum hast du den ersten Au?enposten fremdartiger Lebensgemeinschaften erreicht, die kein Sonnenlicht brauchen. Um die Schwarzen Raucher siedeln meterlange Wurmer in dichten Bundeln, armlange Muscheln, Heerscharen blinder wei?er Krabben und Fische, vor allem aber — Bakterien. Sie sind Selbstversorger, ebenso wie grune Pflanzen, die sich gewisserma?en von Sonnenlicht ernahren und von denen man alles Leben abhangig glaubte. Doch diese Bakterien brauchen keine Sonne. Sie oxidieren Schwefelwasserstoff. Ihre Lebensquelle ist das Erdinnere. In ausgedehnten Rasen bedecken sie den Boden der Lebensgemeinschaften an den Schwarzen Rauchern und leben in Symbiose mit den Wurmern und den Muscheln und manchen Krebsen, und andere Krebse wiederum und Fische leben von den Muscheln und Wurmern, ohne dass ein einziger Sonnenstrahl erforderlich ware.

Vielleicht sind die altesten Lebensformen des Planeten nicht an der Oberflache entstanden, Karen, sondern hier, in der lichtlosen Tiefsee, und du erblickst den wahren Garten Eden auf deiner Reise durch die atlantische Tiefsee. Ganz sicher sind die Yrr die altere der zwei intelligenten Rassen, deren eine den festen Grund geerbt und ihre Wiege dafur verloren hat.