Doch niemals wird von einem toten Yrr ein pheromonischer Kontakt ausgehen wie von diesem Stuck Fleisch in Menschengestalt, das ein Feind ist, das offenbar tot ist und doch beides nicht ist.
Karen, lass die Spinne in Ruhe.
Karen ist klein und hat ein Buch zur Hand genommen, um eine Spinne totzuschlagen, die ebenfalls klein ist, aber den unverzeihlichen Fehler begangen hat, als Spinne auf die Welt zu kommen.
Warum?
Die Spinne ist hasslich.
Das liegt im Auge des Betrachters. Wieso findest du die Spinne hasslich? Blode Frage. Warum ist eine Spinne hasslich? Weil sie es nun mal ist.
Nichts schaut einen da mit kullerrunden Babyaugen an, nichts daran ist su? und zum Liebhaben, man kann sie nicht streicheln, sie sieht fremdartig aus und bose und so, dass sie weggehort.
Das Buch saust hinunter, und die Spinne ist Matsch.
Spater, sehr bald schon, wird Karen diese Tat bitterlich bereuen, als sie vor dem Fernseher sitzt und eine weitere Folge von Biene Maja guckt. Dass Bienen okay sind, hat sie gelernt. In dieser Folge kommt auch eine Spinne vor, die mit ihren acht Beinen und dem starren Blick den sofortigen Gebrauch des Buches rechtfertigen wurde. Aber plotzlich offnet die Spinne einen schmalen, lippenlosen Mund und spricht mit einer quiekigen, entzuckenden Kinderstimme. Sie sto?t keine wilden Drohungen aus, wie es kleine Madchen von Spinnen erwarten wurden, sondern entpuppt sich als das personifizierte Gute, liebreizend und su?.
Plotzlich kann sie sich nicht mehr vorstellen, eine Spinne zu erschlagen. Schlimmer noch, die eine wird ihr im Traum erscheinen und sie mit dieser Kinderstimme anklagen, und es wird ganz und gar schrecklich werden, und Karen fangt an zu heulen.
Damals hat sie Respekt gelernt.
Sie hat gelernt, was Jahre spater an Bord der Independence zu einer Idee reift. Wie man es anstellen konnte, dass eine hochintelligente Spezies eine andere unter volliger Umgehung des Intellekts uberlistet, um einen Aufschub zu erwirken, vielleicht sogar etwas wie gegenseitiges Verstehen. Und dass der Mensch — gewohnt, Noten fur Hoherentwicklung nach dem Grad der Menschenahnlichkeit zu verteilen — sich so weit aufgibt, dass er versucht, Yrr-ahnlich zu werden.
Welch eine Zumutung fur die Krone der Schopfung!
Je nachdem, wen man darunter versteht.
Uber ihr schwebt der wei?e, denkende Mond.
Und sinkt tiefer.
Die Tentakel rollen Rubin ein, bis er wieder sichtbar wird als von Gallerte mumifizierter Torso, ziehen ihn ins Innere. Machtvoll schwebt die Konigin auf das Deepflight hernieder, um ein Vielfaches gro?er als das Tauchboot. Plotzlich ist die ozeanische Schwarze verschwunden. Der Leib der Konigin beginnt das Gefahrt zu umschlie?en. Alles ist erleuchtet. Um Weaver herum pulsiert wei?es Licht. Die Konigin nimmt das Tauchboot in sich auf und einverleibt es ihren Gedanken.
Weaver fuhlt die Angst zuruckkehren. Die Luft bleibt ihr weg. Sie widersteht dem Impuls, die Propeller zu starten, obwohl sie nichts sehnlicher will, als hier rauszukommen. Der Zauber ist verflogen und weicht realer Bedrohung, aber sie wei?, dass die Propeller in dieser festen, flexiblen Gallerte kaum mehr bewirken werden, als das Wesen zu verargern. Vielleicht werden sie es auch amusieren oder gleichgultig lassen, aber auf alle Falle ist es besser, gar nicht erst an Flucht zu denken.
Sie spurt, wie das Boot angehoben wird.
Kann das Wesen sie sehen?
Weaver hat keine Vorstellung davon, wie das gehen soll.
Das Kollektiv hat keine Augen, aber ist es auszuschlie?en?
Sie hatten so viel mehr Zeit gebraucht an Bord der Independence.
Instandig hofft sie, dass das Wesen sie irgendwie sehen oder auf andere Weise durch die Glaskuppel wahrnehmen kann. Und dass die Konigin nicht der Verlockung erliegt, die Rohre zu offnen, um Weaver zu betasten. Es ware ein vielleicht gut gemeinter, aber ziemlich finaler Versuch der Kontaktaufnahme.
Das wird sie nicht tun. Sie ist intelligent.
Sie?
Wie schnell man doch in menschliche Denkweisen verfallt.
Plotzlich muss Weaver lachen. Als hatte sie damit ein Signal gegeben, wird das wei?e Licht um sie herum durchlassiger. Es scheint sich auf eigentumliche Weise nach allen Seiten zu entfernen, bis sie plotzlich begreift, dass sich das Wesen, das sie Konigin nennt, auflost. Es zerflie?t, dehnt sich aus und umgibt sie fur die Dauer eines wunderbaren Augenblicks wie der Sternenstaub des jungen Universums. Direkt vor der Kuppel tanzen winzige wei?e Punkte. Wenn es Einzeller sind, besitzen sie eine beachtliche Gro?e, fast wie kleine Erbsen.
Dann ist das Deepflight drau?en, und der Mond verschmilzt erneut und schwebt nun unter ihr, getragen von einer endlos ausgreifenden Scheibe aus dunklem Blau. Die Konigin muss das Boot ein betrachtliches Stuck angehoben haben. Auf der Oberflache der Scheibe vollzieht sich etwas, fur das Weaver nur einen Begriff finden kann: Verkehrsgewimmel. Myriaden leuchtender Wesen schweben uber die blaue Sphare hinweg. Chimarenartige Fische, deren Korper in komplexen Mustern erstrahlen, schie?en aus dem Innern der Gallerte, treffen zusammen und sinken wieder in die Masse hinein. Von fern funkelt es wie Feuerwerk, dann ergluhen Kaskaden roter Punkte unmittelbar vor dem Tauchboot, die sich zu immer neuen Anordnungen formen, schneller, als das Auge zu folgen vermag. Wahrend sie herabsinken und sich dem wei?en Zentrum nahern, nehmen sie langsam Gestalt an, doch erst unmittelbar uber der Konigin offenbaren sie ihre wahre Natur, und Weaver wird schwindelig. Es ist kein Schwarm kleiner Fische, wie sie gedacht hat, sondern ein einziges, riesiges Wesen mit zehn Armen und einem langen, schlanken Korper.
Ein Kalmar. Gro? wie ein Autobus.
Die Konigin schickt einen hellen Faden aus und beruhrt die Mitte des Kalmars, und das Wechselspiel der roten Flecken kommt zur Ruhe.
Was geschieht da?
Weaver kann den Blick nicht abwenden. Vor ihren Augen gluhen Planktonschwarme auf wie Schnee, von unten nach oben fallend. Ein Geschwader neongruner Tiefseetintenfische zieht vorbei, mit Augen auf Stielen. Blitze zucken uber das unendliche Blau, die sich verlieren, wo ihr Licht nicht mehr zu Weaver vordringen kann.
Sie schaut und schaut.
Bis mit einem Mal alles zu viel wird.
Plotzlich ertragt sie es nicht mehr. Sie merkt, dass ihr Boot wieder zu sinken beginnt, dem leuchtenden Mond entgegen, dass sie dieser schrecklich schonen, schrecklich fremden Welt ein weiteres Mal zu nahe kommen konnte, diesmal ohne eine Chance, sie wieder zu verlassen.
Nein. Nein!
Rasch schlie?t sie die immer noch offen stehende Rohre und pumpt Druckluft hinein. Das Sonar zeigt hundert Meter uber Grund, abnehmend. Weaver uberpruft Innendruck, Sauerstoff, Treibstoff. Keine Fehlermeldungen. Alle Systeme arbeiten. Sie kippt die Seitenflugel und startet die Propeller. Ihr Unterwasserflugzeug beginnt zu steigen, langsam erst, dann immer schneller, entkommt der fremden Welt am Boden des Gronlandischen Beckens und strebt dem heimatlichen Himmel zu.
Nie zuvor in ihrem Leben hat Weaver in so kurzer Zeit so viele Gefuhlszustande durchgemacht. Plotzlich schie?en ihr tausend Fragen durch den Kopf. Wo sind die Stadte der Yrr? Wo entsteht ihre Biotechnologie? Wie erzeugen sie Scratch? Was hat sie uberhaupt gesehen von der fremden Zivilisation? Was hat man sie sehen lassen? Alles? Oder nichts von allem? War das eine schwimmende Stadt?
Oder nur ein Wachtposten?
Was siehst du? Was hast du gesehen?
Ich wei? es nicht.
Rauf, runter. Auf, ab.
Langweilig.
Die Wellen heben das Deepflight hoch und lassen es wegsacken. Rauf und runter. Auf und ab. Es treibt an der Oberflache, eine ganze Weile, nachdem Weaver vom Grund des Beckens gestartet ist. Ein bisschen fuhlt sie sich wie in einem schizophrenen Fahrstuhl. Auf, ab. Auf, ab. Es sind hohe, aber gleichma?ige Wellen. Selten ein Kamm, der sich bricht, eher eintoniges, in stete Bewegung geratenes, graues Schiefergebirge.