Alles ist erleuchtet.

Rubins sich drehender Korper wird erfasst von Gallerte und gegen das fliehende Tauchboot gedruckt. Auch von der anderen Seite kommt der Organismus, von allen Seiten zugleich, von oben und unten. Er schmiegt sich um das Boot und Rubin, verfestigt sich, und Weaver schreit in Todesangst auf …

Das Boot ist frei.

Fast ebenso schnell, wie die Yrr herangerast sind, haben sie sich wieder vom Boot zuruckgezogen. Weit zuruckgezogen. Wenn es uberhaupt irgendeine Begrifflichkeit gibt, die das Verhalten des Kollektivs in diesem Moment beschreiben konnte, wurde man wohl sagen: zutiefst entsetzt.

Weaver hort sich wimmern.

Das Meer um sie herum ist immer noch blau.

Verschwommene Lichter jagen einander in der gewaltigen Gallertmasse, die das Boot umgibt wie ein geschlossener, endlos hinaufreichender Wall. Sie wendet den Kopf und erblickt Rubins zerstortes Gesicht, schwach beleuchtet von den Instrumenten der Konsole. Es ist von dem kontraktierenden Gewebe seitlich gegen die Sichtkuppel ihrer Rohre gedruckt worden und starrt aus dunklen Hohlen ins Innere. Seine Augapfel haben sich unter dem hydrostatischen Druck aufgelost. Schwarze Flussigkeit sickert an ihrer statt hervor, dann lost sich der Korper des Toten langsam und fallt zuruck in die Nacht. Wieder ist er nur ein Schatten vor dem erleuchteten Hintergrund, mit seltsam trudelnden Bewegungen, als vollfuhre er zu Ehren heidnischer Gottheiten einen unbeholfenen, unendlich langsamen Tanz.

Weaver hyperventiliert, zwingt sich zur Ruhe. Unter anderen Umstanden ware ihr langst schlecht geworden, aber fur Befindlichkeiten hat sie jetzt keine Zeit.

Der Ring zieht sich weiter zuruck und wolbt sich an den Randern hoch. Von unten wachst Schwarze nach. Wellen durchlaufen den Saum des Organismus. Nach allen Seiten krauselt er sich hoher und hoher, und die Leiche des Biologen verschmilzt mit der Dunkelheit. Gleichzeitig senken sich schlanke, spitz zulaufende Tentakel aus der Hohe herab, lang wie Urwaldlianen. Sie bewegen sich koordiniert und zielstrebig, finden Rubin und beginnen ihn abzutasten. Weaver kann seinen Korper nicht sehen, aber das Sonar zeigt ihn an, und die tastenden, vorsichtigen Bewegungen der Fuhler lassen auf menschliche Umrisse schlie?en.

Dunnere, feinere Fuhler entwachsen den Spitzen und beschaftigen sich ausgiebig mit einzelnen Korperpartien, bevor sie weiterwandern. Mitunter halten sie still oder verzweigen sich. Manchmal gleiten sie ubereinander, als fanden sie sich zu einer lautlosen Beratung. Im Gegensatz zu allem, was sie bisher von den Yrr gesehen hat, leuchten diese Fuhler in changierendem Wei?. Das Ganze mutet choreographisch an, ein stummes Ballett, und plotzlich hort Weaver von fern die Musik ihrer Kindheit: Debussys La plus que lente, den mehr als langsamen Walzer, das Lieblingsstuck ihres Vaters. Sie ist verblufft und entzuckt, und alle Angst fallt von ihr ab. Naturlich spielt niemand hier unten La plus que lente, aber es wurde passen, denn dieses erkundende Spiel ist von lahmender Schonheit, und nichts anderes kann sie in diesem Moment erkennen als …

Schonheit.

Sie hat ihre Eltern wieder gefunden inmitten von Schonheit.

Weaver legt den Kopf in den Nacken.

Uber ihr wolbt sich eine blau schimmernde Glocke von gigantischen Dimensionen, hoch wie eine Himmelskuppel.

Weaver verehrt keinen Gott, aber sie muss es sich ins Gedachtnis rufen, um nicht in murmelndes Beten zu verfallen. Sie erinnert sich an Crowes Worte, die von den allzu irdischen Au?erirdischen gesprochen hat, von menschlicher Nabelschau in der Darstellung des Andersartigen, anstatt kuhneren Visionen Raum zu geben. Vielleicht wurde Crowe eben diese Reinheit des Lichts bemangeln und sich eine weniger symboltrachtige Beleuchtung wunschen als ausgerechnet heiliges Wei?. Aber das hier ist mit nichts vergleichbar. Wei? ist es einzig darum, weil Biolumineszenz oft wei?es Licht erzeugt, ebenso wie blaues, grunes oder rotes. Kein Gott offenbart sich hier, sondern lediglich der angeregte Zustand leuchtfahiger Einzeller. Und ganz davon abgesehen — welcher dem Menschen nahe stehende Gott wurde sich in Tentakeln manifestieren?

Was Weaver beinahe die Sinne raubt, ist die Erkenntnis, dass es kein Zuruck mehr gibt. Der Streit, ob Einzeller Intelligenz entwickeln konnen. Die Frage, ob aus der Selbstorganisation all dieser Zellen auf bewusstes Leben zu schlie?en sei oder vielleicht doch nur auf eine unvermutet hoch entwickelte Form von Mimikri. Die Yrr hatten sogar noch einen draufgelegt, um sich einen Platz im Schauerkabinett der Geschichte zu sichern, als sie tentakelschwingend in den Rumpf der Independence eindrangen, gallertige Monster, gegen die sich Wells’ Marsianer wie Trottel ausnahmen. Das alles verliert jede Bedeutung angesichts des phantastischen, fremdartigen Schauspiels. Was Weaver erblickt, bedarf keines weiteren Beweises fur die Existenz ausgepragter, definitiv nichtmenschlicher Intelligenz.

Ihr Blick verliert sich in dem blauen Gewolbe, bis sie den Scheitelpunkt erreicht, aus dem sich langsam etwas herabsenkt — ein Gebilde, dessen Unterseite die Tentakel entspringen. Es ist von annahernd runder Form und gro? wie ein Mond. Unter der wei?en Oberflache huschen graue Schatten dahin. Komplizierte Muster entstehen fur Sekundenbruchteile, Nuancen von Wei? in Wei?, symmetrisches Aufflammen, blinkende Reihen von Punkten und Linien, kryptische Codes, ein Fest fur jeden Semiotiker. Auf Weaver macht das Wesen den Eindruck eines lebenden Computers, in und auf dem sich Vorgange von ungeheurer Komplexitat vollziehen. Sie sieht dem Ding beim Denken zu, und dann begreift sie, dass es fur das ganze Drumherum mitdenkt, fur die ganze gewaltige Masse, das blaue Firmament, und endlich wird ihr bewusst, was sie da sieht.

Sie hat die Konigin gefunden.

Die Konigin nimmt Kontakt auf.

Weaver wagt kaum zu atmen. Der tonnenschwere Druck hat die Flussigkeiten in Rubin komprimiert, aber zugleich bewirkt er, dass sie den zerstorten Korper verlassen und sich im Wasser verteilen. Uberall dort, wo sie ihm die Losung gespritzt haben, wird konzentriertes Pheromon hinausgeschwemmt, auf das die Yrr instinktiv reagiert haben. Kurz hat die Verschmelzung stattgefunden, umso jaher endete sie. Immer noch ist Weaver unsicher, ob ihr Plan aufgehen wird. Aber wenn sie Recht behalt, muss die Erfahrung das Kollektiv in babylonische Verwirrung gesturzt haben — mit dem Unterschied, dass man in Babylon einander zwar erkannte, jedoch nicht mehr verstand, wahrend das Kollektiv versteht, ohne zu erkennen. Die pheromonische Botschaft wurde nie zuvor von etwas anderem verbreitet und verstanden als von Yrr. Das Kollektiv kann Rubin nicht erkennen. Eindeutig ist er der Feind, dessen Ausrottung man beschlossen hat, doch der Feind sagt: verschmelzen.

Rubin sagt: Ich bin Yrr.

Was mag in der Konigin vorgehen? Durchschaut sie den Trick? Erkennt sie, dass Rubin naturlich kein Yrr-Kollektiv ist, dass seine Zellen fest zusammengewachsen sind, dass ihm die Rezeptoren fehlen? Er wird bei weitem nicht der erste Mensch sein, den die Yrr eingehend untersuchen. Alles, was sie finden, klassifiziert Rubin als Feind. Nach Yrr’scher Logik ist jemand, der nicht Yrr ist, entweder zu ignorieren oder zu bekampfen, aber haben Yrr jemals Yrr bekampft?

Konnen sie sicher sein?

Wenigstens in diesem Punkt hegt Weaver keinen Zweifel, und sie wei?, dass Johanson, Anawak und alle anderen es ebenso gesehen hatten. Die Yrr toten einander nicht. Sie sto?en kranke und defekte Zellen ab, und das Pheromon besorgt den Zelltod, aber das ist nicht viel anders, als wenn ein Korper abgestorbene Hautschuppen absto?t. Man wurde nicht von einem Kampf der Korperzellen gegeneinander sprechen, weil sie zusammen ein einziges Wesen ergeben, und so ist es gewisserma?en auch mit den Yrr. Sie sind unzahlige Milliarden und doch eines. Selbst verschiedene Kollektive mit verschiedenen Koniginnen sind zuletzt ein einziges Wesen mit einem einzigen Gedachtnis, ein weltumspannendes Gehirn, das falsche Entscheidungen treffen mag, jedoch keinerlei moralische Schuld kennt, das Raum fur individuelle Ideen schafft, ohne dass eine einzelne Zelle je Anspruch auf Bevorzugung geltend machen konnte, innerhalb dessen keine Strafen verkundet und keine Kriege gefuhrt werden. Es gibt nur intakte und defekte Yrr, und was defekt ist, stirbt.