»Mit der Fluke zerschmettert. Die meiste Kraft steckt im Schwanz.« Anawak uberlegte. »Ein Mann kam dabei ums Leben. Aber er starb an Herzschwache, glaube ich. Als er ins Wasser sturzte.«

»Was waren das fur Wale?«

»Keiner wei? es. Die Tiere waren zu schnell verschwunden. Au?erdem, wenn so was passiert, beobachtet jeder etwas anderes.« Anawak sah hinuber zu der machtigen Barrier Queen. Sie lag scheinbar unversehrt da. »Ich kann mir jedenfalls keinen Walangriff auf dieses Schiff vorstellen.«

Roberts folgte seinem Blick.

»Die Schlepper wurden angegriffen«, sagte er. »Nicht die Barrier Queen. Sie wurden seitlich gerammt. Offenbar geschah es, um die Schiffe umzuwerfen, aber das hat nicht hingehauen. Dann, um sie davon abzuhalten, die Leine zu werfen, und dann …«

»Angegriffen?«

»Ja.«

»Vergessen Sie’s.« Anawak winkte ab. »Ein Wal kann etwas umwerfen das kleiner oder genauso gro? ist wie er selber. Nichts Gro?eres. Und er wird nichts Gro?eres angreifen, wenn er nicht dazu gezwungen ist.«

»Die Mannschaft schwort Stein und Bein, dass es so gewesen ist. Die Wale haben …«

»Was fur Wale?«

»Gott, was fur Wale? Wie sagten Sie eben noch auf dieselbe Frage? Jeder sieht was anderes.«

Anawak furchte die Stirn. »Gut, spielen wir’s durch. Unterstellen wir das Maximum. Dass die Schlepper von Blauwalen attackiert wurden. Balaenoptera musculus wird bis zu 33 Meter lang und 120 Tonnen schwer. Immerhin das gro?te Tier, das je auf Erden gelebt hat. Nehmen wir an, ein Blauwal versucht, ein Boot zu versenken, das genauso lang ist wie er selber. Er muss mindestens ebenso schnell sein, besser noch schneller. Aber gut, 50 bis 60 Stundenkilometer schafft er auf kurzen Strecken spielend. Er ist stromlinienformig gebaut und muss kaum Reibungswiderstande uberwinden. Aber welchen Impuls kann er entwickeln? Und wie viel Gegenimpuls entwickelt das Boot? Einfach gesagt, wer drangt wen ab, wenn die Leute an Bord gegensteuern?«

»120 Tonnen sind eine Menge Gewicht.«

Anawak wies mit einer Kopfbewegung auf den Lieferwagen. »Konnen Sie den hochheben?«

»Was? Den Wagen? Naturlich nicht.«

»Und das, obwohl Sie sich dabei abstutzen konnten. Ein schwimmender Korper kann das nicht. Sie heben nun mal nichts, was schwerer ist als Sie selber, ganz gleich, ob Sie ein Wal sind oder ein Mensch. An den Massegleichungen kommen Sie nicht vorbei. Aber vor allem mussen Sie das Gewicht des Wals gegen das des verdrangten Wassers aufrechnen. Da bleibt nicht viel. Nur Vortriebskraft aus der Fluke. Moglich, dass er das Schiff damit in eine neue Bahn lenkt. Vielleicht gleitet er aber im Sto?winkel sofort wieder ab. Es ist ein bisschen wie beim Billard, verstehen Sie?«

Roberts rieb sich das Kinn. »Einige meinen, es seien Buckelwale gewesen. Andere sprachen von Finnwalen, und die an Bord der Barrier Queen glauben Pottwale gesehen zu haben …« »Drei Spezies, die unterschiedlicher nicht sein konnten.« Roberts zogerte. »Mister Anawak, ich bin ein nuchtern denkender Mann. Mir drangt sich die Idee auf, dass die Schlepper einfach in eine Herde gerieten. Vielleicht haben nicht die Wale die Schiffe gerammt, sondern umgekehrt. Vielleicht hat sich die Besatzung dumm angestellt. Aber fest steht, dass die Tiere den kleinen Schlepper versenkt haben.«

Anawak starrte Roberts fassungslos an. »Als die Trosse gespannt war«, fuhr Roberts fort, »zwischen dem Bug der Barrier Queen und dem Heck des Schleppers. Eine straff gespannte Eisenkette. Mehrere Tiere kamen aus dem Wasser gesprungen und warfen sich darauf. In diesem Fall gab es kein verdrangtes Volumen abzuziehen, und die Seeleute sagen, es hatte sich um recht gro?e Exemplare gehandelt.« Er machte eine Pause. »Der Schlepper wurde herumgerissen und kenterte. Er hat sich uberschlagen.«

»Um Himmels willen. Und die Besatzung?«

»Zwei Vermisste. Die anderen konnten gerettet werden.

— Konnen Sie sich vorstellen, warum die Tiere so etwas getan haben?«

Gute Frage, dachte Anawak. Tummler und Belugas erkennen sich im Spiegel. Denken sie? Planen sie? Auf eine Weise, die wir auch nur ansatzweise nachvollziehen konnen? Was bewegt sie? Kennen Wale ein Gestern oder Morgen? Welches Interesse sollten sie haben, einen Bergungsschlepper abzudrangen oder zu versenken?

Es sei denn, die Schlepper hatten sie bedroht. Oder ihre Jungen.

Aber wie und womit?

»Das alles passt nicht zu Walen«, sagte er.

Roberts wirkte hilflos. »Das sehe ich auch so. Die Besatzungen sehen es anders. Nun, der gro?e Schlepper wurde auf ahnliche Weise attackiert. Schlie?lich gelang es, die Trosse zu befestigen. Diesmal erfolgte kein weiterer Angriff.«

Anawak starrte grubelnd auf seine Fu?e.

»Ein Zufall«, sagte er. »Ein schrecklicher Zufall.«

»Meinen Sie?«

»Wir waren vermutlich schlauer, wenn wir wussten, was mit dem Ruder geschehen ist.« »Dazu haben wir die Taucher angefordert«, antwortete Roberts. »Sie werden in wenigen Minuten so weit sein.« »Haben die noch eine Reserveausrustung im Wagen?« »Ich denke schon.« Anawak nickte. »Gut. Ich gehe mit runter.«

Hafenwasser war ein Alptraum. Uberall auf der Welt. Eine schmuddelige Bruhe, in der mindestens so viele Schwebstoffe wie Wassermolekule unterwegs zu sein schienen. Der Boden war zumeist bedeckt mit einer meterdicken Schlammschicht, aus der bestandig Partikel und organisches Material hochgewirbelt wurden. Als die See uber Anawak zusammenschlug, fragte er sich einen Moment, wie sie hier uberhaupt irgendetwas finden sollten. Er hatte das Gefuhl, in braunem Nebel zu versinken. Trube gewahrte er die Umrisse der beiden Taucher vor sich, dahinter eine diffuse, dunkle Flache, das Heck der Barrier Queen.

Die Taucher sahen zu ihm heruber und bogen Zeigefinger und Daumen zum O. K.-Zeichen. Anawak antwortete in gleicher Weise. Er lie? Luft aus seiner Weste entweichen und schwebte entlang des Hecks nach unten. Nach wenigen Metern schalteten sie die Helmlampen ein. Das Licht streute stark. Es beleuchtete vornehmlich herumtreibendes Zeug. Ausgesto?ene Luft blubberte und polterte in Anawaks Ohren, wahrend sie tiefer gingen. Aus dem Halbdunkel schalte sich das Ruder heraus, schartig und gefleckt. Es stand schrag. Anawak tastete nach der Konsole mit dem Tiefenmesser. Acht Meter. Vor ihm verschwanden die beiden Taucher seitlich des Ruderblattes. Nur die Lichtkegel ihrer Lampen irrlichterten dahinter weiter.

Anawak naherte sich von der anderen Seite.

Zuerst sah er nur kantige Rander und Schalen, die sich zu bizarren Skulpturen ubereinander stapelten. Dann wurde ihm klar, dass das Ruder von Unmengen gestreifter Muscheln bewachsen war. Er schwamm naher heran. In den Ritzen und Spalten, dort wo das Blatt gegen den Schacht drehte, waren die Organismen zu einem kompakten, splitterigen Brei zermahlen worden. Kein Wunder, dass sich das Ruder nicht mehr hatte zuruckbewegen lassen. Es war festgefressen.

Er lie? sich tiefer sinken. Auch hier war alles voller Muscheln. Vorsichtig griff er in die Masse hinein. Die kleinen, hochstens drei Zentimeter langen Tiere sa?en fest aufeinander. Mit au?erster Vorsicht, um sich an den scharfen Schalen nicht zu schneiden, zog er daran, bis sich einige von ihnen widerstrebend losten. Sie waren halb geoffnet. Aus dem Innern rankten sich zusammengeknauelte Faden, mit denen sie Halt gesucht hatten. Anawak verstaute sie in den Sammelbehaltern an seinem Gurtel und uberlegte.

Er verstand nicht sonderlich viel von Schalentieren. Es gab einige Muschelarten, die einen solchen Byssus besa?en, einen fransigen, klebrigen Fu?. Die bekannteste und beruchtigtste unter ihnen war die Zebramuschel, eingeschleppt aus dem Mittleren Osten. Sie hatte sich wahrend der vergangenen Jahre in amerikanischen und europaischen Okosystemen breit gemacht und begonnen, die einheimische Fauna zu vernichten. Wenn es Zebramuscheln waren, die das Ruder der Barrier Queen uberwucherten, verwunderte es kaum, sie in solch dicken Schichten vorzufinden. Wo immer sie auftraten, breiteten sie sich gleich in unvorstellbaren Massen aus.