Anawak drehte die abgerissenen Muscheln in der Handflache.
Das Ruder war von Zebramuscheln befallen. Alles sah ganz danach aus. Aber konnte das sein? Zebramuscheln zerstorten vornehmlich Su?wassersysteme. Zwar uberlebten und gediehen sie auch in Salzwasser, aber das erklarte nicht, wie sie auf offener See, wo nichts als kilometertiefes Wasser war, ein fahrendes Schiff hatten entern konnen. Oder hatten sie schon im Hafen angedockt?
Das Schiff war aus Japan gekommen. Hatte Japan Probleme mit Zebramuscheln?
Seitlich unter ihm, zwischen Ruder und Heck, ragten zwei geschwungene Flugel aus dem truben Nichts, geisterhaft, unwirklich in ihren Ausma?en. Anawak lie? sich weiter sinken und schlug mit den Flossen, bis er die Rander eines der Flugel umfassen konnte. Ein Gefuhl des Unbehagens uberkam ihn. Der gesamte Propeller ma? viereinhalb Meter im Durchmesser. Ein Gebilde aus gegossenem Stahl, das uber acht Tonnen wog. Kurz stellte er sich vor, wie es sein musste, wenn sich die Schraube auf Hochtouren drehte. Es schien kaum vorstellbar, dass irgendetwas dieses Riesending auch nur ankratzen konnte. Was ihm zu nahe kam, musste unweigerlich zerschreddert werden.
Doch die Muscheln sa?en auch am Propeller.
Eine Schlussfolgerung drangte sich Anawak auf, die ihm nicht gefiel. Langsam hangelte er sich an den Randern zur Mitte des Propellers hin. Seine Finger beruhrten etwas Glitschiges. Brocken einer hellen Substanz losten sich und trudelten ihm entgegen. Er griff danach, bekam einen zu fassen und hielt ihn dicht vor seine Maske.
Gallertig. Gummiartig.
Das Zeug sah aus wie Gewebe.
Anawak drehte das zerfaserte Ding hin und her. Er lie? es in der Sammelbox verschwinden und tastete sich weiter vor. Einer der Taucher naherte sich ihm von der gegenuberliegenden Seite. Mit der Lampe uber seiner Maske wirkte er wie ein Alien. Er machte das Zeichen fur Herkommen. Anawak stie? sich ab und schwamm zwischen Ruderschacht und Schraube zu ihm hinuber. Langsam lie? er sich tiefer sinken, bis seine Flossen gegen die Kurbelwelle stie?en, an deren Ende der Propeller sa?.
Hier war mehr von dem schleimigen Zeug. Es hatte sich wie ein Uberzug um die Welle gewickelt. Die Taucher versuchten, die Fetzen davon herunterzuziehen. Anawak half ihnen. Sie muhten sich vergebens. Das meiste war so eng mit der Schraube verbunden, dass es sich mit blo?en Handen nicht ablosen lie?.
Roberts’ Worte gingen ihm durch den Kopf. Die Wale hatten versucht, die Schlepper abzudrangen. Absurd.
Was wollte ein Wal, der das Andockmanover eines Schleppers sabotierte? Dass die Barrier Queen sank? Bei starkerem Seegang hatte die Gefahr bestanden, manovrierunfahig, wie der Frachter war. Irgendwann waren die Wellen wieder hoher geworden. Wollten die Tiere verhindern, dass die Barrier Queen bis dahin sichere Gewasser aufsuchen konnte?
Er warf einen Blick aufs Finimeter.
Noch reichlich Sauerstoff. Mit ausgestrecktem Daumen zeigte er den beiden Tauchern an, dass er den Rumpf inspizieren wolle. Sie gaben das O. K.-Zeichen. Gemeinsam lie?en sie die Schraube hinter sich und schwammen die Bordwand entlang, Anawak zuunterst, dort, wo sich der Rumpf zum Kiel hin bog. Das Licht seines Helmstrahlers wanderte uber die stahlerne Au?enhaut. Der Anstrich sah ziemlich neu aus, nur an wenigen Stellen waren Kratzer oder Verfarbungen zu erkennen. Er sank weiter dem Grund entgegen, und es wurde noch dammriger.
Unwillkurlich sah Anawak nach oben. Zwei diffuse Lichtflecken zeigten ihm an, wo die Taucher die Seitenwand absuchten.
Was sollte passieren? Er wusste schlie?lich, wo er war. Dennoch hatte sich ein qualender Druck auf seine Brust gelegt. Er paddelte mit den Fu?en und schwebte entlang des Rumpfs. Nichts war zu sehen, was auf eine Beschadigung hindeutete.
Im nachsten Moment wurde der Schein seiner Helmlampe schwacher. Anawaks Rechte fuhr hoch. Dann erkannte er, dass es nicht an der Lampe lag, sondern an dem, was sie beleuchtete. Der Schiffsanstrich hatte das Licht gleichma?ig zuruckgeworfen. Nun wurde es plotzlich verschluckt von der dunklen, schartigen Masse der Muscheln, unter der die Hulle der Barrier Queen teilweise verschwunden war.
Wo kamen diese Unmengen von Muscheln her?
Anawak uberlegte, zu den Tauchern aufzuschlie?en. Dann entschied er sich anders und lie? sich noch tiefer unter den Rumpf sinken. Zum Kiel hin nahm der Muschelbewuchs zu. Falls die Unterseite der Barrier Queen uberall in gleicher Weise bewachsen war, musste hier ein erhebliches Gewicht zusammengekommen sein. Unmoglich, dass niemand den Zustand des Schiffes bemerkt haben sollte. Solche Massen reichten aus, um einen Frachter auf hoher See erheblich zu verlangsamen.
Er war jetzt weit genug unter dem Kiel, dass er sich auf den Rucken legen musste. Wenige Meter unter ihm begann die Schlammwuste des Hafenbeckens. Das Wasser war hier so trube, dass er kaum noch etwas sah, nur die wuchernden Muschelberge direkt uber sich. Mit schnellen Flossenschlagen schwamm er weiter Richtung Vorschiff, als der Bewuchs ebenso plotzlich endete, wie er begonnen hatte. Erst jetzt erkannte Anawak, wie massiv die Wucherungen wirklich waren. Beinahe zwei Meter dick hingen sie unter der Barrier Queen.
Was war das?
Am Rand der Wucherungen klaffte ein Spalt.
Anawak hing unentschlossen davor. Dann griff er zum Schienbein, wo in einer Halterung ein Messer steckte, zog es hervor und stach in den Muschelberg hinein.
Die Kruste platzte auf.
Etwas schoss zuckend heran, klatschte gegen sein Gesicht und riss ihm beinahe den Lungenautomaten aus dem Mund. Anawak prallte zuruck. Sein Kopf knallte gegen den Schiffsrumpf. Grelles Licht explodierte vor seinen Augen. Er wollte aufsteigen, aber uber ihm war immer noch der Kiel. Mit hektischen Flossenschlagen versuchte er wegzukommen von den Muscheln. Er drehte sich um und sah sich einem weiteren Berg aus harten kleinen Schalen gegenuber. Seine Rander schienen mit etwas Gallertigem an den Rumpf geklebt. Ubelkeit stieg in ihm hoch. Er zwang sich zur Ruhe und versuchte, in den umherschwirrenden Partikeln etwas von dem Ding zu erkennen, das ihn attackiert hatte.
Es war verschwunden. Nichts war mehr zu sehen au?er den bizarr verklumpten Muschelkrusten.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Rechte etwas umklammert hielt. Das Messer. Er hatte es nicht losgelassen. Etwas baumelte von der Klinge, ein Fetzen milchig transparenter Masse. Anawak packte sie zu den Gewebebrocken im Sammelbehalter. Dann sah er zu, dass er wegkam. Sein Bedarf an Abenteuern war furs Erste gedeckt. Mit kontrollierten Bewegungen, darauf bedacht, seinen pochenden Herzschlag zu verlangsamen, stieg er auf, bis er seitlich der Schiffswand trieb und in der Ferne schwach den Lichtschein der beiden Taucher sah. Er hielt darauf zu. Auch sie waren auf Wucherungen gesto?en. Einer von ihnen loste mit seinem Messer einzelne Tiere aus dem Bewuchs. Anawak schaute gespannt zu. Jeden Augenblick erwartete er, etwas daraus hervorschnellen zu sehen, aber nichts geschah.
Der zweite Taucher reckte den Daumen hoch, und sie stiegen langsam zur Oberflache. Es wurde heller. Selbst auf dem letzten Meter war das Wasser noch trube, dann plotzlich hatte alles wieder Farbe und Kontur. Anawak blinzelte ins Sonnenlicht. Er zog die Maske vom Gesicht und atmete dankbar die frische Luft ein.
Am Pier standen Roberts und die anderen.
»Was ist los da unten?« Der Manager beugte sich vor.
»Was gefunden?«
Anawak hustete und spuckte Hafenwasser aus.
»Das kann man wohl sagen!«
Sie standen um das Heck des Lieferwagens versammelt. Anawak war mit den Tauchern ubereingekommen, die Rolle des Berichterstatters zu ubernehmen.
»Muscheln, die ein Ruder blockieren?«, fragte Roberts unglaubig.
»Ja. Zebramuscheln.«
»Wie passiert denn so was, um Himmels willen?«
»Gute Frage.« Anawak offnete den Probenbehalter an seinem Gurtel und lie? den Gallertfetzen vorsichtig in einen gro?eren Behalter mit Seewasser gleiten. Der Zustand des Gewebes bereitete ihm Sorgen. Es sah aus, als habe der Zerfall bereits eingesetzt. »Ich kann nur mutma?en, aber fur mich hat es sich so zugetragen: Der Steuermann legt 5° Ruder. Aber das Ruder bewegt sich nicht. Es ist blockiert von den Muscheln, die sich uberall festgesetzt haben. Grundsatzlich ist es nicht sonderlich schwer, eine Rudermaschine lahm zu legen, das wissen Sie besser als ich. Nur dass der Fall so gut wie niemals eintritt. Das wei? auch der Steuermann, weshalb er gar nicht auf die Idee kommt, etwas konne das Ruder blockieren. Er denkt, er habe zu wenig Ruder gegeben, also legt er nach, aber immer noch bewegt sich das Ruder nicht. Tatsachlich arbeitet die Rudermaschine auf Hochtouren. Sie versucht, dem Befehl Folge zu leisten. Schlie?lich geht der Mann am Steuer aufs Ganze, und endlich lost sich das Blatt. Wahrend es sich dreht, werden die Muscheln in den Zwischenraumen zermahlen, aber sie losen sich nicht. Der Muschelbrei blockiert das Ruder weiter wie Sand im Getriebe. Es frisst sich fest und kann nicht mehr zuruck.« Er strich sich das nasse Haar aus der Stirn und sah Roberts an. »Aber das ist nicht das eigentlich Beunruhigende.«