»Sehr loblich.«

Sahling grinste. »Fur Funfzehnjahrige ist ein Horsaal von einem Klassenzimmer nicht zu unterscheiden. Also sind wir mit denen durch das Institut gestreift, und sie durften uberall reinschauen und fast alles anpacken. Die Lithothek haben wir bis zuletzt aufgespart. Gerhard erzahlt ihnen dort die Gutenachtgeschichte.«

»Woruber?«

»Methanhydrate.«

Sahling offnete eine Schiebetur. Auf der anderen Seite setzte sich die Brucke fort. Sie traten hinaus. Die Lithothek besa? die Gro?e eines mittleren Flugzeughangars. Zum Quai hin war das Gebaude offen, und Johanson erhaschte einen Blick auf ein ziemlich gro?es Schiff. Kisten und Geratschaften stapelten sich entlang der Wande.

»Hier werden Proben zwischengelagert«, erklarte Sahling. »Vornehmlich Sedimentkerne und Seewasserproben. Archivierte Erdgeschichte. Wir sind angemessen stolz drauf.«

Er hob kurz die Hand. Unten gru?te ein hoch gewachsener Mann zuruck und widmete sich wieder einer Gruppe Halbwuchsiger, die sich neugierig um ihn scharte. Johanson lehnte sich ans Bruckengelander und lauschte der Stimme, die zu ihnen heraufdrang.

»… einer der aufregendsten Momente, die wir je erlebt haben«, sagte Dr. Gerhard Bohrmann gerade. »Der Greifer hatte in beinahe achthundert Metern Tiefe einige Zentner Sediment herausgebrochen, durchsetzt mit einer wei?en Substanz, und schuttete die Brocken aufs Arbeitsdeck. Beziehungsweise das, was oben noch ankam.«

»Das war im Pazifik«, erlauterte Sahling leise. »1996 auf der Sonne, etwa hundert Kilometer vor Oregon.«

»Wir mussten schnell sein. Methanhydrat ist namlich ein ziemlich instabiles und unzuverlassiges Zeug«, fuhr Bohrmann fort. »Ich schatze, ihr wisst nicht sonderlich viel daruber, also werde ich versuchen, es so zu erklaren, dass keiner vor Langeweile einschlaft. — Was geschieht tief unten im Meer? Unter anderem entsteht Gas. Biogenes Methan zum Beispiel bildet sich seit Jahrmillionen beim Abbau von Tier— und Pflanzenresten, wenn Algen, Plankton und Fische verwesen und jede Menge organischer Kohlenstoff freigesetzt wird. Den Abbau besorgen vorzugsweise Bakterien. Nun ist es so, dass in der Tiefsee niedrige Temperaturen und ein au?erordentlicher Druck herrschen. Alle zehn Meter nimmt der Wasserdruck um ein Bar zu. Flaschentaucher kommen 50 Meter tief, maximal 70, aber das war’s dann auch. Angeblich liegt der Tieftauchrekord mit Pressluft bei 140 Metern, was ich niemandem empfehlen wurde. Solche Versuche enden meist todlich. Und wir reden hier von Tiefen ab funfhundert Metern! Da geht die Physik ganz eigene Wege. Wenn zum Beispiel Methan in gro?en Konzentrationen aus dem Erdinnern zum Meeresboden aufsteigt, geschieht dort unten etwas Au?ergewohnliches. Das Gas verbindet sich mit dem kalten Tiefenwasser zu Eis. Ihr werdet in Zeitungen hin und wieder den Begriff Methaneis lesen. Das ist nicht ganz korrekt. Es ist nicht das Methan, das gefriert, sondern das umgebende Wasser. Die Wassermolekule kristallisieren zu winzigen, kafigartigen Strukturen, in deren Innern sich jeweils ein Methanmolekul befindet. Sie komprimieren das Gas und drucken es auf kleinstem Raum zusammen.«

Einer der Schuler hob zogerlich die Hand.

»Du hast eine Frage?«

Der Junge druckste herum.

»Funfhundert Meter sind nicht gerade tief, oder?«, sagte er schlie?lich.

Bohrmann betrachtete ihn einige Sekunden schweigend.

»Du bist nicht sonderlich beeindruckt, was?«

»Doch, schon. Ich dachte nur … na ja, Jacques Picard war mit einem Tauchboot im Marianengraben, und das war elftausend Meter tief. Ich meine, das ist wirklich tief! Warum kommt dieses Eis da unten nicht vor?«

»Hut ab, du hast die Geschichte der bemannten Tauchfahrt studiert. Was glaubst du denn personlich?«

Der Junge uberlegte. Er zog die Schultern hoch.

»Ist doch klar«, antwortete ein Madchen an seiner statt.

»Da unten ist zu wenig Leben. Ab tausend Meter Wassertiefe wird zu wenig organische Materie zersetzt, also entsteht zu wenig Methan.«

»Ich wusste es«, murmelte Johanson oben auf der Brucke. »Frauen sind einfach intelligenter.«

Bohrmann lachelte das Madchen freundlich an. »Stimmt. Es gibt naturlich immer Ausnahmen. Und tatsachlich findet man auch in tieferen Bereichen Methanhydrat, selbst noch in drei Kilometern Tiefe, wenn Sedimente mit sehr hohem Gehalt an organischem Material dort eingespult werden. Das ist in manchen Randmeeren der Fall. Ubrigens kartieren wir Hydratkonzentrationen auch in sehr flachem Wasser, wo der Druck eigentlich nicht ausreicht. Aber solange die Temperatur niedrig genug ist, kommt es trotzdem zur Hydratbildung, zum Beispiel am Polarschelf.« Er wandte sich wieder an alle. »Dennoch — die Hauptvorkommen lagern in den Kontinentalabhangen zwischen 500 und 1000 Metern. Komprimiertes Methan. Vor der nordamerikanischen Kuste haben wir kurzlich ein unterseeisches Gebirge untersucht, einen halben Kilometer hoch und funfundzwanzig Kilometer lang, und es besteht zum uberwiegenden Teil aus Methanhydrat. Manches davon sitzt tief im Gestein, anderes liegt offen am Meeresboden. Inzwischen wissen wir dass die Ozeane voll davon sind, aber wir wissen noch mehr: Die unterseeischen Kontinentalabhange werden von Methanhydrat uberhaupt erst zusammengehalten! Das Zeug ist wie Mortel. Wurde man sich das ganze Hydrat auf einen Schlag wegdenken, dann waren die Kontinentalabhange lochrig wie Schweizer Kase. Mit dem Unterschied, dass Schweizer Kase auch mit Lochern seine Form behalt. Die Abhange hingegen wurden in sich zusammensturzen!« Bohrmann lie? die Worte einige Sekunden wirken. »Das ist aber noch nicht alles. Methanhydrate sind, wie gesagt, nur stabil unter sehr hohem Druck in Verbindung mit besonders niedrigen Temperaturen. Das hei?t, nicht alles Methangas gefriert, sondern nur die oberen Schichten. Denn zum Erdinnern hin nehmen die Temperaturen ja wieder zu, und tief im Sediment sitzen gro?e Methanblasen, die nicht gefrieren. Sie bleiben gasformig. Aber weil die gefrorene Schicht wie ein Deckel obendrauf liegt, konnen sie nicht entweichen.«

»Ich habe etwas daruber gelesen«, sagte das Madchen. »Die Japaner versuchen es abzubauen, richtig?«

Johanson war belustigt. Er fuhlte sich an seine Schulzeit erinnert. In jeder Klasse gab es einen, der exzeptionell gut vorbereitet war und immer schon die Halfte von dem wusste, was er eigentlich lernen sollte. Er schatzte, dass dieses Madchen nicht sonderlich beliebt war.

»Nicht nur die Japaner«, erwiderte Bohrmann. »Alle Welt wurde es am liebsten abbauen. Aber das gestaltet sich schwierig. Als wir die Hydratbrocken aus knapp achthundert Metern nach oben holten, losten sich auf halber Hohe Gasblasen aus den Brocken. Was wir schlie?lich an Deck brachten, war immer noch viel, aber nur noch ein Teil dessen, was wir unten rausgebrochen hatten. Ich sagte ja, Methanhydrat wird schnell instabil. Wurde man die Wassertemperatur in funfhundert Meter Tiefe nur um ein Grad erhohen, konnte es geschehen, dass alles dortige Hydrat auf einen Schlag instabil wurde. Also haben wir schnell zugegriffen und die Brocken in Tanks mit flussigem Stickstoff gepackt, wo sie stabil bleiben. Kommt mal ein Stuck hier ruber.«

»Er macht das gut«, bemerkte Johanson, wahrend Bohrmann mit der Schulergruppe zu einem Regal aus grob geschwei?ten Stahlrahmen ging. Behaltnisse unterschiedlicher Gro?e stapelten sich darin. Zuunterst standen vier silberfarbene, tankartige Gebilde. Bohrmann wuchtete eines davon hervor, streifte Handschuhe uber und offnete den Deckel. Es zischte. Wei?er Dampf trat aus dem Innern. Einige der Schuler traten unwillkurlich einen Schritt zuruck.

»Das ist nur der Stickstoff.« Bohrmann griff in den Behalter und forderte ein faustgro?es Stuck zutage, das aussah wie ein verschmutzter Eisklumpen. Nach wenigen Sekunden begann der Klumpen leise zu zischen und zu knacken. Er winkte das Madchen zu sich heran, brach ein Stuck von dem Klumpen ab und reichte es ihr.