»Nicht erschrecken«, sagte er. »Es ist kalt, aber du kannst es unbesorgt in die Hand nehmen.«

»Es stinkt«, sagte das Madchen laut.

Einige der Schuler lachten.

»Richtig. Es stinkt nach faulen Eiern. Das ist das Gas. Es entweicht.« Er zerbrach den Brocken in weitere Stucke und verteilte sie. »Ihr seht, was passiert. Die Schmutzstreifen im Eis sind Sedimentpartikel. In wenigen Sekunden wird nichts mehr ubrig sein als diese paar Krumel und eine Wasserpfutze. Das Eis schmilzt, und die Methanmolekule brechen aus ihren Kafigen hervor und verfluchtigen sich. Man kann es auch so beschreiben: Was eben noch ein stabiles Stuck Meeresboden war, verwandelt sich binnen kurzester Zeit in nichts. Das ist es, was ich euch zeigen wollte.«

Er machte eine Pause. Die Schuler hatten ihre ganze Konzentration auf die zischenden, kleiner werdenden Brocken gelenkt. Anzugliche Kommentare uber den Gestank gingen hin und her. Bohrmann wartete, bis sich die Brocken aufgelost hatten, dann fuhr er fort:

»Soeben ist aber noch etwas passiert, das ihr nicht sehen konntet. Und es ist entscheidend fur den berechtigten Respekt, den wir vor Hydraten haben. Ich sagte vorhin, dass die Eiskafige in der Lage sind, Methan zu komprimieren. Aus jedem Kubikzentimeter Hydrat, den ihr in Handen hattet, sind soeben 165 Kubikzentimeter Methan freigesetzt worden. Wenn das Hydrat schmilzt, verhundertfunfundsechzigfacht sich also das Volumen. Und zwar schlagartig. Was bleibt, ist die Pfutze in eurer Hand. Du kannst die Zungenspitze hineinhalten«, sagte Bohrmann zu dem Madchen. »Sag uns, wie es schmeckt.«

Die Schulerin sah ihn skeptisch an.

»In das stinkende Zeug?«

»Es stinkt nicht mehr. Das Gas hat sich verfluchtigt.

Aber wenn du dich nicht traust, werde ich es eben tun.« Gekicher. Das Madchen senkte langsam den Kopf und leckte an der Wasserlache.

»Su?wasser«, rief sie uberrascht.

»Richtig. Wenn Wasser gefriert, wird das Salz sozusagen ausgesondert. Darum ist die komplette Antarktis das gro?te Su?wasserreservoir der Welt. Eisberge bestehen aus Su?wasser.« Bohrmann verschloss den Druckbehalter mit dem flussigen Stickstoff und schob ihn wieder zuruck ins Regal. »Was ihr gerade erlebt habt, ist der Grund, warum die Forderung von Methanhydrat sehr zwiespaltig gesehen wird. Wenn unser Eingreifen dazu fuhrt, dass die Hydrate instabil werden, sind vielleicht Kettenreaktionen die Folge. Was wurde geschehen, wenn der Mortel verpufft, der die Kontinentalabhange zusammenhalt? Welche Auswirkungen hatte es auf das Weltklima, wenn das Tiefseemethan in die Atmosphare entweicht? Methan ist ein Treibhausgas, es konnte die Atmosphare weiter aufheizen, dann werden wiederum die Meere warmer und so weiter, und so fort. Uber alle diese Fragen machen wir uns hier Gedanken.«

»Warum versucht man es denn uberhaupt zu fordern?«, fragte ein anderer Schuler. »Warum lasst man es nicht einfach unten?«

»Weil es die Energieprobleme losen konnte«, rief das Madchen und schob sich ein weiteres Stuck nach vorn. »Das haben sie uber die Japaner geschrieben. Die Japaner haben keine eigenen Rohstoffe, sie mussen alles importieren. Methan wurde ihre Probleme losen.«

»Das ist Blodsinn«, erwiderte der Junge. »Wenn es mehr Probleme macht, als welche aus der Welt zu schaffen, lost es gar nichts.«

Johanson begann zu grinsen.

»Ihr habt beide Recht.« Bohrmann hob die Hande. »Es konnte die Energieprobleme losen. Das Ganze ist darum auch kein rein wissenschaftliches Thema mehr. Die Energiekonzerne haben die Forschung mit in die Hand genommen. Wir schatzen, dass in marinen Gashydraten doppelt so viel Methan-Kohlenstoff gebunden ist wie in allen bekannten Erdgas-, Erdol— und Kohlevorkommen der Erde zusammen. Alleine auf dem Hydratrucken vor Amerika, einem Areal von immerhin 26000 Quadratkilometern, lagern 35 Gigatonnen davon. Das ist das Hundertfache dessen, was die kompletten Vereinigten Staaten im Jahr an Erdgas verbrauchen!«

»Klingt eindrucksvoll«, sagte Johanson leise zu Sahling. »Ich wusste gar nicht, dass es so viel ist.«

»Es ist noch viel mehr«, antwortete der Biologe. »Ich kann mir die Zahlen nie merken, aber er kennt sie genau.«

Als hatte Bohrmann zugehort, sagte er: »Moglicherweise — wir konnen nur schatzen — lagern uber zehntausend Gigatonnen eingefrorenes Methan im Meer. Hinzu kommen Reservoirs an Land, tief in den Permafrostboden Alaskas und Sibiriens. Nur um euch ein Gefuhl fur Mengen zu geben: Samtliche heute verfugbaren Lagerstatten von Kohle, Erdol und Erdgas machen zusammen gerade mal funftausend Gigatonnen aus, rund die Halfte. Kein Wunder, dass sich die Energiewirtschaft den Kopf daruber zerbricht, wie sie das Hydrat abbauen kann. Ein einziges Prozent davon wurde auf einen Schlag die Brennstoffreserven der USA verdoppeln, und die verbrauchen weltweit mit Abstand das meiste. Aber es ist wie immer und uberall: Die Industrie sieht eine riesige Energiereserve, die Wissenschaft eine Zeitbombe, also versuchen wir uns partnerschaftlich zu einigen, naturlich immer im Interesse der Menschheit. — Tja. Damit sind wir am Ende unserer Expedition angelangt. Danke, dass ihr da wart.« Er schmunzelte. »Will sagen, dass ihr zugehort habt.«

»Und dass ihr was begriffen habt«, murmelte Johanson.

»Hoffentlich«, erganzte Sahling.

»Ich hatte Sie anders in Erinnerung«, sagte Johanson wenige Minuten spater, als er Bohrmann die Hand schuttelte. »Im Internet trugen Sie einen Schnurrbart.«

»Abrasiert.« Bohrmann fasste an seine Oberlippe. »Im Grunde ist es sogar Ihre Schuld.«

»Wie das?«

»Ich habe uber Ihre Wurmer nachgedacht. Heute morgen noch. Ich stand vor dem Spiegel, und der Wurm kroch vor meinem geistigen Auge dahin und vollzog in der Korpermitte eine Drehung, der meine Hand mit dem Rasierer aus unerfindlichen Grunden folgte. Eine Ecke war ab, da habe ich auch den Rest der Wissenschaft geopfert.«

»Ich habe also Ihren Schnurrbart auf dem Gewissen.« Johanson hob die Brauen. »Mal ganz was Neues.«

»Kein Problem. Er wachst nach, sobald wir wieder auf Expedition gehen. Auf See wachsen alle mehr oder weniger zu. Ich wei? auch nicht, warum. Vielleicht brauchen wir die Vorstellung, wie Abenteurer auszusehen, um nicht seekrank zu werden. Kommen Sie, wir gehen ins Labor. Mochten Sie vorher eine Tasse Kaffee? Wir konnten einen Abstecher in die Kantine machen.«

»Nein, ich bin neugierig. Kaffee kann warten. Sie gehen wieder auf Expedition?«

»Im Herbst«, nickte Bohrmann, wahrend sie glaserne Ubergange und Flure durchquerten. »Wir wollen zu den Subduktionszonen der Aleuten und kalte Quellen untersuchen. Sie haben Gluck, mich in Kiel zu erwischen. Ich bin vor vierzehn Tagen aus der Antarktis zuruckgekehrt, nach fast acht Monaten auf See. Einen Tag spater kam Ihr Anruf.«

»Was haben Sie acht Monate in der Antarktis getrieben, wenn ich fragen darf?«

»Uwis ins Eis gebracht.«

»Uwis?«

Bohrmann lachte.

»Uberwinterer. Wissenschaftler und Techniker. Sie haben im Dezember ihre Arbeit in den Stationen aufgenommen. Die Truppe, die augenblicklich unten ist, holt Eisbohrkerne aus vierhundertfunfzig Metern Tiefe. Ist das nicht unglaublich? Dieses alte Eis enthalt die Klimageschichte der letzten siebentausend Jahre!«

Johanson dachte an den Taxifahrer.

»Die meisten Menschen werden davon nicht sonderlich beeindruckt sein«, sagte er. »Sie werden nicht begreifen, wie die Klimageschichte helfen soll, Hungersnote zu uberwinden oder die nachste Fu?ballweltmeisterschaft zu gewinnen.«

»Daran sind wir nicht ganz unschuldig. Die Wissenschaft hat sich die meiste Zeit in ihrem Universum eingekapselt.«

»Finden Sie? Ihr kleiner Vortrag eben war alles andere als eingekapselt.«

»Ich wei? aber nicht, ob das ganze Offentlichkeitstheater viel nutzt«, sagte Bohrmann, wahrend sie eine Treppe hinunterschritten. »Am allgemeinen Desinteresse andern auch Tage der offenen Tur nicht viel. Kurzlich hatten wir einen. Es war rappelvoll, aber wenn Sie anschlie?end jemanden gefragt hatten, ob man uns weitere zehn Millionen bewilligen sollte …«