Johanson kniff die Augen zusammen.

»Ich sehe nur das Eis«, sagte er.

»Schauen Sie genauer hin.«

Johanson studierte jede Einzelheit des Bildes. Plotzlich fielen ihm zwei dunkle Flecken auf. Er zeigte darauf. »Was ist das? Vertiefungen?«

Sahling wechselte ein paar Worte mit dem Techniker. Das Bild veranderte sich. Plotzlich waren die beiden Wurmer zu sehen.

»Die Flecken sind Locher«, sagte Sahling. »Wir spielen den Film im Zeitraffer ab.«

Johanson sah zu, wie sich die Wurmer zuckend uber das Eis wanden. Eine Weile krochen sie hin und her, als versuchten sie, die Quelle eines Dufts zu erwittern. In der beschleunigten Darstellung wirkten ihre Bewegungen fremdartig und bizarr. Die borstigen Buschel beiderseits der rosa Korper zitterten wie elektrisiert.

»Jetzt passen Sie auf!«

Einer der Wurmer war zum Stillstand gekommen.

Pulsierende Wellen durchliefen seinen Korper.

Dann verschwand er im Eis.

Johanson pfiff leise durch die Zahne.»Alle Wetter. Er bohrt sich hinein.«

Das zweite Tier lag immer noch ein Stuck entfernt. Der Kopf bewegte sich wie im Takt zu einer unhorbaren Musik. Plotzlich schoss der Russel mit den Chitinkiefern hervor.

»Sie fressen sich ins Eis«, rief Johanson.

Er starrte wie paralysiert auf das Videobild. Was wunderst du dich, dachte er im selben Moment. Sie leben in Symbiose mit Bakterien, die Methanhydrat abbauen, und dennoch haben sie Kiefer zum Bohren.

Das Ganze lie? nur einen Schluss zu. Die Wurmer wollten an Bakterien, die tiefer im Eis sa?en. Gespannt sah er zu, wie sich die borstigen Korper ins Hydrat wuhlten. Im Zeitraffer zitterten ihre Hinterleiber.

Plotzlich waren sie verschwunden. Nur die Locher blieben als dunkle Flecken im Eis.

Kein Grund zur Beunruhigung, dachte er. Auch andere Wurmer bohren. Sie bohren gerne. Manche bohren Schiffe in Grund und Boden.

Aber warum bohren sie Hydrate an?

»Wo sind die Tiere jetzt?«, fragte er.

Sahling sah auf den Monitor.

»Sie sind tot.«

»Tot?«

»Verreckt. Sie sind erstickt. Wurmer brauchen Sauerstoff.«

»Ich wei?. Es ist der Sinn der ganzen Symbiose. Die Bakterien ernahren den Wurm, und der Wurm versorgt sie durch sein Strudeln mit Sauerstoff. Aber was ist hier geschehen?«

»Hier ist geschehen, dass die Wurmer sich in ihren eigenen Tod gebohrt haben. Sie haben Locher ins Eis gefressen, als sei es der su?e Brei, bis sie in der Gasblase landeten, wo sie erstickten.«

»Kamikaze«, murmelte Johanson.

»Es kommt einem in der Tat wie Selbstmord vor.«

Johanson uberlegte. »Oder aber sie werden von irgendetwas fehlgeleitet.« »Moglich. Aber von was? Im Innern der Hydrate ist nichts, was ein solches Verhalten auslosen konnte.«

»Vielleicht das freie Gas darunter?«

Bohrmann rieb sich das Kinn.

»Daran dachten wir auch schon. Aber das erklart immer noch nicht, warum sie Selbstmord begehen.«

Johanson sah vor seinem geistigen Auge das Gewimmel auf dem Meeresgrund. Sein Unbehagen wuchs. Wenn sich Millionen Wurmer ins Eis bohrten, was waren die Folgen?

Bohrmann schien seine Gedanken zu erraten.

»Die Tiere konnen das Eis nicht destabilisieren«, sagte er. »Im Meer sind die Hydratfelder ungleich dicker als hier. Diese verruckten Viecher kratzen allenfalls die Oberflache an, maximal ein Zehntel der Eisschicht. Dann gehen sie unweigerlich ein.«

»Was nun? Werden Sie weitere Wurmer testen?«

»Ja. Wir haben noch ein paar. Vielleicht nutzen wir auch die Gelegenheit, uns vor Ort umzusehen. Ich denke, Statoil wird das begru?en. Die Sonne soll in den nachsten Wochen hoch nach Gronland fahren. Wir konnten den Start der Expedition vorziehen und der Stelle einen Besuch abstatten, wo Sie die Polychaten gefunden haben.« Bohrmann hob die Hande. »Aber diese Entscheidung treffe nicht ich. Das mussen andere bestimmen. Heiko und ich hatten einfach spontan die Idee.«

Johanson sah uber die Schulter zu dem riesigen Tank. Er dachte an die toten Wurmer im Innern.

»Die Idee ist gut«, sagte er.

Spater fuhr Johanson in sein Hotel, um sich umzuziehen. Er versuchte Lund zu erreichen, aber sie ging nicht ran. Vor seinem geistigen Auge sah er sie in Kare Sverdrups Armen liegen, zuckte die Achseln und legte auf.

Bohrmann hatte ihn zum Abendessen in ein Bistro eingeladen, das zu den angesagten Adressen Kiels gehorte. Johanson ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er fand, sein Bart musse gestutzt werden. Mindestens zwei Millimeter zu lang. Alles andere stimmte. Das immer noch volle Haar, ehemals dunkel und nun zunehmend durchsetzt von grauen Strahnen, fiel uppig nach hinten. Unter den breiten, schwarzen Brauen funkelte der Blick wie eh und je. Mitunter gab es Situationen, da verliebte er sich in sein eigenes Charisma. Dann wieder erkannte er den Charismatiker nicht wieder, besonders in den fruhen Morgenstunden. Bis jetzt hatten ein paar Tassen Tee und ein bisschen kosmetische Pflege immer noch ausgereicht, das schnell wieder in Ordnung zu bringen. Eine Studentin hatte ihn unlangst mit dem deutschen Schauspieler Maximilian Schell verglichen, und Johanson hatte sich geschmeichelt gefuhlt, bis ihm bewusst wurde, dass Schell uber siebzig war. Danach war er auf eine andere Hautcreme umgestiegen.

Er durchstoberte seinen Koffer, wahlte einen Pulli mit Rei?verschluss, zwangte das Jackett seines Anzugs daruber und wickelte einen Schal um seinen Hals. Gut angezogen war er so nicht, und genau so liebte er es: nicht gut angezogen zu sein. Zu keiner Zeit passte wirklich zusammen, was er trug. Er kultivierte seine Schlampigkeit und genoss es, sich nicht mit Mode abplagen zu mussen. Nur in Momenten gro?er Einsicht war er bereit zuzugeben, dass sein angegammeltes Outfit eine Mode fur sich darstellte, der er ebenso anhing wie andere Menschen dem Diktat der Haute Couture, und dass er mehr Zeit auf den Zustand des Ungekammtseins verwendete als das Gros der Menschheit auf eine geordnete Frisur.

Er bleckte sein Spiegelbild an, verlie? das Hotel und lie? sich mit dem Taxi zu seiner Verabredung fahren.

Bohrmann erwartete ihn. Eine Zeit lang plauderten sie uber alles Mogliche, tranken Wein und a?en Seezunge, die hervorragend war. Nach einer Weile driftete die Unterhaltung wieder in Richtung Tiefsee.

Beim Dessert fragte Bohrmann wie beilaufig: »Sind Sie eigentlich mit den Planen von Statoil naher vertraut?«

»Nur im Groben«, erwiderte Johanson. »Ich verstehe nicht uberma?ig viel vom Olgeschaft.«

»Was planen die? Eine Plattform werden sie ja kaum bauen so weit drau?en.«

»Nein. Keine Plattform.«

Bohrmann nippte an seinem Espresso.

»Entschuldigen Sie, ich will nicht in Sie dringen. Ich wei? nicht, wie vertraulich diese Dinge sind, aber …«

»Das geht schon in Ordnung. Ich bin als Plaudertasche bekannt. Wenn mir einer was anvertraut, kann es gar nicht geheim sein.«

Bohrmann lachte. »Also, was glauben Sie, bauen die da drau?en?«

»Sie machen sich Gedanken uber eine Unterwasserlosung. Eine vollautomatische Fabrik.«

»So was wie Subsis?«

»Was ist Subsis?«

»Subsea Separation and Injection System. Eine Unterwasserfabrik. Sie arbeitet seit wenigen Jahren auf dem Trollfeld in der norwegischen Rinne.« »Nie davon gehort.«

»Fragen Sie Ihre Auftraggeber. Subsis ist eine Forderstation. Sie steht in 350 Meter Tiefe auf dem Meeresboden und trennt dort Ol und Gas vom Wasser. Augenblicklich findet dieser Prozess noch auf den Plattformen statt, und das Produktionswasser wird ins Meer geleitet.«

»Ach stimmt!« Lund hatte darauf angespielt. »Produktionswasser. Es gibt dieses Problem, dass die Fische unfruchtbar werden.«

»Eben dieses Problem konnte Subsis losen. Das schmutzige Wasser wird sofort wieder ins Bohrloch gepresst, druckt weiteres Ol nach oben, wird wieder davon getrennt, wieder nach unten gepresst et cetera. Ol und Gas gelangen durch Pipelines direkt zur Kuste — an sich eine feine Sache.«