Johanson schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich glaube, das Problem sind eher die Universen, die uns Wissenschaftler voneinander trennen. Was meinen Sie?«
»Weil wir zu wenig miteinander reden?«
»Ja. Oder meinethalben Wissenschaft und Industrie, oder Wissenschaft und Militar. Alle reden zu wenig miteinander.«
»Oder Wissenschaft und Olkonzerne?« Bohrmann musterte ihn mit einem langen Blick.
Johanson lachelte. »Ich bin hier, weil jemand eine Antwort braucht«, sagte er. »Nicht, um eine zu erzwingen.«
»Industrie und Militar sind auf die Wissenschaftler angewiesen, ob es ihnen passt oder nicht«, meinte Sahling. »Wir reden durchaus miteinander. Das Problem scheint mir eher zu sein, dass wir einander unsere Sichtweisen nicht vermitteln konnen.«
»Und es im Ubrigen nicht wollen!«
»Richtig. Was die Leute im Eis tun, kann helfen, eine Hungersnot zu verhindern. Ebenso gut kann es zum Bau einer neuen Waffe fuhren. Wir schauen auf das Gleiche, aber jeder sieht etwas anderes.«
»Und ubersieht alles Ubrige.«
Bohrmann nickte. »Diese Tiere, die Sie uns geschickt haben, Dr. Johanson, sind ein gutes Beispiel. Ich wei? nicht, ob man ihretwegen das Vorhaben am Kontinentalhang in Frage stellen sollte. Aber ich bin in dubio geneigt, es anzunehmen und vorsorglich abzuraten. Vielleicht ist das der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft und Industrie. Wir sagen: Solange nicht hinreichend bewiesen ist, welche Rolle dieser Wurm spielt, konnen wir eine Bohrung nicht empfehlen. Die Industrie geht von derselben Pramisse aus, gelangt aber zu einem anderen Resultat.«
»Solange nicht bewiesen ist, welche Rolle der Wurm spielt, spielt er keine.« Johanson sah ihn an. »Und was glauben Sie? Spielt er eine Rolle?«
»Das kann ich noch nicht sagen. Was Sie uns da geschickt haben, ist … na ja, gelinde gesagt, es ist recht ungewohnlich. Ich mochte Sie nicht enttauschen, was wir bis jetzt herausgefunden haben, hatte ich Ihnen ebenso gut am Telefon erzahlen konnen, aber … nun ja, ich dachte, Sie wurden gerne mehr daruber erfahren. Und wir konnen Ihnen hier Verschiedenes zeigen.«
Sie erreichten eine schwere Stahltur. Bohrmann betatigte einen Wandschalter, und sie glitt gerauschlos auf. Im Zentrum der dahinter liegenden Halle ruhte ein gewaltiger Kasten, hoch wie ein zweistockiges Haus. In regelma?igen Abstanden waren Bullaugen eingelassen. Stahlerne Steigleitern fuhrten zu Rundlaufen und vorbei an Apparaturen, die uber Rohrleitungen mit dem Kasten verbunden waren.
Johanson trat naher heran.
Er hatte Bilder von dem Ding im Internet gesehen, aber auf die Ausma?e war er nicht vorbereitet gewesen. Ein eigentumliches Gefuhl beschlich ihn beim Gedanken, welch ungeheurer Druck im Innern des wassergefullten Tanks herrschte. Kein Mensch wurde auch nur eine Minute darin uberleben. Dieser Kasten war der eigentliche Grund, warum Johanson ein Dutzend Wurmer an das Kieler Institut geschickt hatte. Es war ein Tiefseesimulator. Er barg eine kunstlich geschaffene Welt mitsamt Meeresboden, Kontinentalhang und Schelf.
Bohrmann lie? die Stahltur hinter ihnen zugleiten.
»Es gibt Leute, die den Sinn und Zweck der Anlage bezweifeln«, sagte er. »Auch der Simulator kann nur ein ungefahres Bild der tatsachlichen Gegebenheiten vermitteln, aber es ist besser, als jedes Mal hinauszufahren. Das Problem meeresgeologischer Forschung ist nach wie vor, dass wir nur winzige Ausschnitte der Wirklichkeit zu sehen bekommen. Zumindest ansatzweise sind wir hier in der Lage, allgemein gultige Thesen aufzustellen. Wir konnen zum Beispiel die Dynamik von Methanhydraten unter wechselnden Bedingungen besser erforschen.«
»Sie haben Methanhydrate da drin?«
»Etwa funf Zentner. Neuerdings ist es uns gelungen, welches herzustellen, aber wir reden nicht so gern daruber. Die Industrie hatte gerne, dass wir den Simulator vollstandig in ihren Dienst stellen. Und wir hatten zugegebenerma?en gerne das Geld von der Industrie. Aber nicht, um uns die freie Forschung damit abkaufen zu lassen.«
Johanson legte den Kopf in den Nacken und sah an dem Kasten empor. Hoch uber ihm hatte sich eine Gruppe Wissenschaftler auf dem obersten Rundlauf versammelt. Die Szenerie mutete seltsam unwirklich an, wie aus einem James-Bond-Film der Achtziger.
»Druck und Temperatur im Tank sind stufenlos regelbar«, fuhr Bohrmann fort. »Augenblicklich entsprechen sie einer Meerestiefe von rund achthundert Metern. Im Boden selber lagert eine Schicht stabiler Hydrate, zwei Meter dick, was dem Zwanzig— bis Drei?igfachen in freier Natur entspricht. Unterhalb der Schicht simulieren wir Warme aus dem Erdinnern und haben es mit freiem Gas zu tun. Also ein kompletter Meeresboden im Modellformat.«
»Faszinierend«, sagte Johanson. »Aber was genau tun Sie hier? Ich meine, Sie konnen die Entwicklung Ihrer Hydrate fortgesetzt beobachten, aber …«Er rang nach Worten.
Sahling kam ihm zur Hilfe. »Was genau wir hier tun au?er zuschauen?«
»Ja.«
»Aktuell versuchen wir, eine erdgeschichtliche Periode nachzustellen, die 55 Millionen Jahre zuruckliegt. Irgendwann an der Grenze von Palaozan zu Eozan scheint es auf der Erde eine Klimakatastrophe gro?eren Ausma?es gegeben zu haben. Der Ozean kippte regelrecht um. Siebzig Prozent aller Lebewesen am Meeresboden starben, vornehmlich Einzeller. Ganze Bereiche der Tiefsee verwandelten sich vorubergehend in lebensfeindliche Zonen. Auf den Kontinenten kam es umgekehrt zu einer biologischen Revolution. In der Arktis tauchten Krokodile auf, und aus subtropischen Breiten wanderten Primaten und moderne Saugetiere nach Nordamerika ein. Ein phanomenales Durcheinander.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Bohrkerne. Das ganze Wissen um die Klimakatastrophe verdanken wir einem Bohrkern aus zwei Kilometer Meerestiefe.«
»Verrat der Kern auch etwas uber die Ursachen?«
»Methan«, sagte Bohrmann. »Das Meer muss sich zu dieser Zeit erwarmt haben, sodass gro?ere Mengen Methanhydrat instabil wurden. Als Folge rutschten die Kontinentalhange ab und legten weitere Methanvorkommen frei. Innerhalb weniger Jahrtausende, vielleicht Jahrhunderte entwichen Milliarden Tonnen Gas in Ozean und Atmosphare. Ein Teufelskreis. Methan fordert den Treibhauseffekt drei?ig Mal starker als CO2. Es heizte die Atmosphare auf, dadurch erhitzten sich wiederum die Ozeane, noch mehr Hydrate zerfielen, das Ganze setzte sich endlos fort. Die Erde verwandelte sich in einen Backofen.« Bohrmann sah ihn an. »Funfzehn Grad warmes Tiefenwasser anstelle unserer heutigen zwei bis vier Grad, das ist schon was.«
»Fur die einen desastros, fur die anderen … na ja, ein Warmstart gewisserma?en. Verstehe. Im nachsten Kapitel unserer gepflegten kleinen Unterhaltung werden wir dann wohl den Untergang der Menschheit verinhaltlichen, richtig?«
Sahling lachelte. »So schnell steht der nicht bevor. Aber es gibt tatsachlich Anzeichen, dass wir uns in einer Phase empfindlicher Gleichgewichtsschwankungen befinden. Die Hydratreserven in den Ozeanen sind au?erst labil. Das ist der Grund, warum wir Ihrem Wurm so viel Beachtung schenken.« »Was kann ein Wurm an den Stabilitatsverhaltnissen von Methanhydraten andern?« »Eigentlich nichts. Der Eiswurm bevolkert die Oberflache mehrere hundert Meter dicker Eisschichten. Er schmilzt ein paar Zentimeter ein und begnugt sich mit Bakterien.«
»Aber dieser Wurm hat Kiefer.«
»Dieser Wurm ist ein Geschopf, das keinen Sinn ergibt. Am besten, Sie schauen es sich an.«
Sie traten zu einem halbrunden Steuerpult am Ende der Halle. Es erinnerte Johanson an die Kommandozentrale des Victor, nur um einiges gro?er. Die meisten der rund zwei Dutzend Monitore waren eingeschaltet und zeigten Aufnahmen aus dem Innern des Tanks. Ein diensthabender Techniker gru?te sie.
»Wir beobachten das Geschehen simultan mit zweiundzwanzig Kameras, au?erdem wird jeder Kubikzentimeter pausenlosen Messungen unterworfen«, erklarte Bohrmann. »Die wei?en Flachen auf den Monitoren der oberen Reihe sind Hydrate. Sehen Sie? Hier links ist das Feld, auf dem wir zwei der Polychaten abgesetzt haben. Das war gestern Vormittag.«