Er legte sich eine treffende Bemerkung zurecht, als ihm auffiel, dass Greywolf immer noch mit ausgestreckter Hand zur Lady Wexham hinuberstarrte. Anawak folgte seinem Blick und hielt den Atem an.
Direkt vor dem Schiff hatte sich ein Buckelwal aus dem Wasser katapultiert. Ein ungeheurer Schub war notwendig fur das Emporwuchten des massigen Korpers. Einen Moment lang sah es aus, als stutze sich das Tier einzig auf seine Schwanzflosse. Nur die Flukenzipfel lagen noch unter Wasser, der ubrige Korper stand steil in der Luft und uberragte die Brucke der Lady Wexham. Deutlich waren die Langsfurchen an Kiefer und Bauchunterseite zu sehen. Die uberproportional langen Seitenflipper standen ab wie Flugel, leuchtend wei? mit schwarzen Maserungen und knotigen Kanten. Es schien, als wolle sich der Wal zur Ganze aus dem Wasser erheben, und ein vielstimmiges Ooh erscholl von der Lady Wexham. Dann kippte der gewaltige Korper langsam zur Seite und traf in einer Explosion von Gischt die Wasseroberflache.
Die Leute auf dem Oberdeck wichen zuruck. Ein Teil der Lady Wexham verschwand hinter einer Wand aus Schaum. Darin erschien etwas Dunkles, Massiges. Ein zweiter Wal kam aus der Tiefe geschossen. Viel naher am Schiff schnellte er empor, umgeben von glitzerndem Spruhnebel, und Anawak wusste, noch bevor der Entsetzensschrei von den Booten aufbrandete, dass dieser Sprung danebengehen wurde.
Mit solcher Wucht krachte der Wal gegen die Lady Wexham, dass der Dampfer heftig ins Schwanken geriet. Es krachte und splitterte. Das Tier tauchte ab. Auf dem Oberdeck gingen Menschen zu Boden. Rings um das Schiff schaumte und wirbelte es, dann naherten sich mehrere Buckel von der Seite, und erneut schossen zwei dunkle Korper in die Luft und warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Rumpf.
»Das ist die Rache«, schrie Greywolf mit uberschnappender Stimme. »Die Rache der Natur!«
Die Lady Wexham ma? 22 Meter und war damit langer als jeder Buckelwal. Sie war vom Transportministerium zugelassen und entsprach den Sicherheitsvorschriften der kanadischen Kustenwache fur Passagierboote, was sturmische See, meterhohe Brecher und auch den zufalligen Zusammensto? mit einem trage dahindumpelnden Wal einschloss. Selbst dafur war die Lady Wexham sicherheitshalber konzipiert worden.
Nicht aber fur einen Angriff.
Anawak horte, wie sie druben die Maschine starteten. Unter der Wucht der aufprallenden Korper hatte sich das Schiff bedrohlich zur Seite geneigt. Unbeschreibliche Panik herrschte auf den beiden Beobachtungsdecks. Deutlich war zu sehen, dass im Unterdeck samtliche Fenster zu Bruch gegangen waren. Geschrei drang heruber, Menschen stolperten kopflos durcheinander. Die Lady Wexham nahm Fahrt auf, aber sie kam nicht weit. Wieder katapultierte sich ein Tier aus der See und krachte gegen die Seitenwand mit der Brucke. Auch diese Attacke reichte nicht aus, das Schiff umzuwerfen, aber es schwankte nun weit heftiger, und Trummerteile regneten von oben herab.
Anawaks Gedanken rasten. Wahrscheinlich war der Rumpf bereits an einigen Stellen gerissen. Er musste etwas tun. Vielleicht konnte er die Tiere irgendwie ablenken.
Seine Hand fuhr zum Gashebel.
Im selben Moment zerriss ein vielstimmiger Schrei die Luft. Aber er kam nicht von dem wei?en Dampfer, sondern erscholl gleich hinter ihm, und Anawak wirbelte herum.
Der Anblick hatte etwas Surreales. Direkt uber dem Boot der Tierschutzer stand senkrecht der Korper eines riesigen Buckelwals. Beinahe schwerelos wirkte er, ein Wesen von monumentaler Schonheit, das krustige Maul den Wolken zugereckt, und immer noch stieg er weiter empor, zehn, zwolf Meter uber ihre Kopfe hinweg. Den Herzschlag einer Ewigkeit lang hing er einfach nur so am Himmel, sich langsam drehend, und die meterlangen Flipper schienen ihnen zuzuwinken.
Anawaks Blick wanderte an dem springenden Koloss entlang. Nie hatte er etwas zugleich so Schreckliches und Gro?artiges gesehen, nie aus solcher Nahe. Alle, Jack Greywolf, die Menschen in den Zodiacs, er selber, legten den Kopf in den Nacken und starrten auf das, was nun auf sie zukommen wurde.
»Oh mein Gott«, flusterte er.
Wie in Zeitlupe neigte sich der Leib des Wals. Sein Schatten legte sich auf das rote Fischerboot der Umweltschutzer, wuchs uber den Bug der Blue Shark hinaus, wurde langer, als der Korper des Riesen kippte, schneller und immer schneller …
Anawak druckte das Gas durch. Das Zodiac schoss mit einem Ruck davon. Auch Greywolfs Fahrer hatte einen Blitzstart zuwege gebracht, aber seine Richtung stimmte nicht. Das klapprige Sportboot schlingerte auf Anawak zu. Sie prallten zusammen. Anawak wurde nach hinten gerissen, sah den Fahrer uber Bord und Greywolf zu Boden gehen, dann raste das Boot in entgegengesetzter Richtung davon, wahrend seines mit voller Fahrt wieder auf die Blue Shark zuhielt. Vor seinen Augen begruben die neun Tonnen Korpermasse des Buckelwals das Fischerboot unter sich, druckten es mitsamt seiner Besatzung unter Wasser und schlugen auf den Bug der Blue Shark. Gischt spritzte in gewaltigen Fontanen hoch. Das Heck des Zodiacs schoss steil nach oben, Menschen in roten Overalls wirbelten durch die Luft. Kurz balancierte die Blue Shark auf ihrer Spitze, pirouettierte um die eigene Achse und kippte seitwarts. Anawak duckte sich. Sein Boot schnellte unter dem umsturzenden Zodiac hindurch, schlug gegen etwas Massives unterhalb der Wasseroberflache und sprang daruber hinweg. Vorubergehend verlor er den Boden unter den Fu?en, dann endlich hielt er das Steuer wieder in Handen, riss es herum und bremste ab.
Ein unbeschreibliches Bild bot sich ihm. Vom Boot der Umweltschutzer waren nur noch Trummer zu sehen. Die Blue Shark trieb kieloben in den Wellen. Menschen hingen im Wasser, wild paddelnd und schreiend, andere reglos. Ihre Anzuge hatten sich selbstandig aufgepumpt, sodass sie nicht versinken konnten, aber Anawak ahnte, dass einige von ihnen tot sein mussten, erschlagen vom Gewicht des Wals. Ein Stuck weiter sah er die Lady Wexham mit deutlicher Schlagseite Fahrt aufnehmen, umkreist von Rucken und Fluken. Ein plotzlicher Sto? erschutterte das Schiff, und es legte sich noch mehr auf die Seite.
Vorsichtig, um niemanden zu verletzen, steuerte Anawak das Zodiac zwischen die treibenden Korper, wahrend er einen kurzen Funkspruch auf Frequenz 98 losschickte und seine Position durchgab.
»Probleme«, sagte er atemlos. »Wahrscheinlich Tote.«
Alle Boote im Umkreis wurden den Notruf horen. Mehr Zeit blieb ihm nicht. Keine Zeit zu erklaren, was geschehen war. Ein Dutzend Passagiere waren an Bord der Blue Shark gewesen, au?erdem Stringer und ihr Assistent. Hinzu kamen die drei Umweltschutzer. Siebzehn Menschen insgesamt, aber im Wasser zahlte er deutlich weniger.
»Leon!«
Das war Stringer! Sie schwamm auf ihn zu. Anawak ergriff ihre Hande und zog sie an Bord. Hustend und keuchend fiel sie ins Innere. In einiger Entfernung sah er die Ruckenschwerter mehrerer Orcas. Die schwarzen Kopfe und Rucken hoben sich heraus, wahrend sie mit hoher Geschwindigkeit auf den Unglucksort zuhielten.
Sie legten eine Zielstrebigkeit an den Tag, die Anawak nicht gefiel.
Dort trieb Alicia Delaware. Sie hielt den Kopf eines jungen Mannes uber Wasser, dessen Anzug nicht wie die anderen von Pressluft geblaht war. Anawak lenkte das Boot naher an die Studentin heran. Neben ihm stemmte sich Stringer hoch. Vereint hievten sie zuerst den bewusstlosen Jungen und dann das Madchen an Bord. Delaware schuttelte Anawaks Hande ab, hangte sich sofort wieder uber den Bootsrand und half Stringer, weitere Menschen ins Innere zu ziehen. Andere naherten sich aus eigener Kraft, reckten die Arme, und sie halfen ihnen hinein. Das Boot fullte sich schnell. Es war viel kleiner als die Blue Shark und eigentlich schon zu voll. Hastig griffen sie zu, wahrend Anawak weiter die Wasseroberflache absuchte.