»Da schwimmt noch einer!«, rief Stringer. Ein menschlicher Korper hing reglos im Wasser, das Gesicht nach unten, der Statur nach mannlich, mit breiten Schultern und Rucken. Kein Overall. Einer der Umweltschutzer. »Schnell!« Anawak beugte sich uber die Reling. Stringer war neben ihm. Sie packten den Mann bei den Oberarmen und zogen ihn hoch. Es ging einfach. Zu einfach.
Der Kopf des Mannes fiel nach hinten, und sie sahen in blicklose Augen. Noch wahrend Anawak den Toten anstarrte, wurde ihm bewusst, warum der Korper so leicht war. Er endete dort, wo die Taille gewesen war. Beine und Becken fehlten. Aus dem Torso baumelten tropfend Fleischfetzen, Arterien und Gedarme.
Stringer keuchte und lie? los. Der Tote kippte weg, entglitt Anawaks Fingern und klatschte zuruck ins Wasser.
Rechts und links von ihnen durchschnitten die Schwerter der Orcas das Wasser. Es waren mindestens zehn, vielleicht mehr. Ein Schlag erschutterte das Zodiac. Anawak sprang zum Steuer, gab Gas und fuhr los. Vor ihnen wolbten sich drei machtige Rucken aus den Wellen, und er ging in eine halsbrecherische Kurve. Die Tiere tauchten ab. Zwei weitere kamen von der anderen Seite und hielten auf das Boot zu. Wieder fuhr Anawak eine Kurve. Er horte Schreie und Weinen. Auch er selber hatte schreckliche Angst. Sie durchfloss ihn wie elektrischer Strom, verursachte ihm Ubelkeit, doch ein anderer Teil von ihm steuerte das Zodiac unbeirrt in einem aberwitzigen Slalom zwischen den schwarzwei?en Korpern hindurch, die immer aufs Neue versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden.
Ein Krachen ertonte von rechts. Anawak wandte reflexartig den Kopf und sah die Lady Wexham in einer Wolke aus Gischt erbeben und kippen.
Spater erinnerte er sich, dass es dieser Blick war, dieser eine Moment der Unaufmerksamkeit, der ihr Schicksal besiegelte. Er wusste, dass er nicht zu dem gro?en Schiff hatte hinuberschauen durfen. Moglicherweise waren sie entkommen. Bestimmt hatte er den grau gesprenkelten Rucken gesehen und wie der Wal abtauchte, wie sich seine Fluke aus dem Wasser hob, direkt in Fahrtrichtung.
So sah er den herabsausenden Schwanz erst, als es zu spat war.
Die Fluke verpasste ihnen einen Schlag gegen die Seite. Im Allgemeinen reichte ein solcher Schlag nicht aus, um ein Schlauchboot aus der Bahn zu werfen, aber sie waren zu schnell, sie lagen zu schrag in der Kurve, und sie sprangen uber die Wellen dahin. Der Schlag erwischte das Boot im dem Moment, da es in einen Zustand fataler Instabilitat geriet Es wurde hoch gerissen, schwebte einen Moment im Nichts, prallte seitlich auf und uberschlug sich.
Anawak wurde hinausgeschleudert.
Er flog. Er wirbelte durch die Luft. Dann durch Gischt und grunes Wasser. Im nachsten Moment war er untergetaucht und sank in die Schwarze, ohne Orientierung, ohne Gefuhl fur Oben und Unten. Stechende Kalte drang in ihn ein. Mit aller Kraft trat er um sich, kampfte sich zuruck zur Oberflache, rang keuchend nach Luft und geriet wieder mit dem Kopf unter Wasser. Diesmal stromte es eisig in seine Lungen. Panik erfasste ihn, er strampelte noch mehr mit den Beinen, ruderte wie von Sinnen mit den Armen und durchbrach erneut die Wasserflache, hustend und spuckend. Weder sein Boot noch einer der Insassen waren irgendwo zu sehen. Die Kuste geriet in sein Blickfeld. Tanzte auf und nieder. Er drehte sich um, wurde von einer Welle hochgehoben und sah endlich die Kopfe der anderen. Es waren langst nicht alle, vielleicht ein halbes Dutzend. Da war Delaware, dort Stringer. Dazwischen die schwarzen Schwerter der Orcas. Sie pflugten durch die Gruppe der Schwimmenden, tauchten ab, und plotzlich verschwand einer der Kopfe unter Wasser und kam nicht wieder hoch.
Eine altere Frau sah den Mann untergehen und begann zu schreien. Ihre Arme schlugen wie wild aufs Wasser, in ihren Augen stand das nackte Entsetzen.
»Wo ist das Boot?«, schrie sie.
Wo war das Boot? Schwimmend wurden sie es niemals bis ans Ufer schaffen. Wenn sie das Boot erreichten, konnten sie vielleicht Schutz darauf finden. Selbst wenn es gekentert war. Sie konnten hinaufkriechen und hoffen, dort nicht weiter attackiert zu werden. Aber das Boot war nirgendwo zu sehen, und die Frau schrie immer lauter und verzweifelter um Hilfe.
Anawak schwamm auf sie zu. Sie sah ihn herannahen und streckte die Arme nach ihm aus.
»Bitte«, weinte sie. »Helfen Sie mir.«
»Ich helfe Ihnen«, rief Anawak. »Bleiben Sie ruhig.«
»Ich gehe unter. Ich ertrinke!«
»Sie ertrinken nicht.« Er hielt in langen Zugen auf sie zu. »Es kann nichts passieren. Der Overall tragt sie.«
Die Frau schien ihn nicht zu horen.
»So helfen Sie mir doch! Bitte, oh mein Gott, lass mich nicht sterben! Ich will nicht sterben!«
»Haben Sie keine Angst, ich …«
Plotzlich weiteten sich ihre Augen. Ihr Schreien endete in einem Gurgeln, als sie unter Wasser gezogen wurde.
Etwas streifte Anawaks Beine.
Namenlose Angst erfasste ihn. Er stemmte sich aus dem Wasser, warf einen Blick uber die Wellen, und da war das Zodiac. Es trieb kieloben. Nur wenige Schwimmsto?e lagen zwischen der kleinen Gruppe Schiffbruchiger und der rettenden Insel. Nur wenige Meter — und drei schwarze, lebende Torpedos, die von dort auf sie zukamen.
Wie paralysiert starrte er auf die heransturmenden Orcas. Etwas in ihm protestierte: Nie zuvor hatte ein Orca einen Menschen in freier Wildbahn angegriffen. Orcas verhielten sich Menschen gegenuber neugierig, freundlich oder gleichgultig. Wale griffen keine Schiffe an. Sie taten es einfach nicht. Nichts von dem, was hier geschah, hatte Anspruch auf Gultigkeit. So fassungslos war Anawak, dass er das Gerausch zwar horte, aber nicht sofort begriff: ein Drohnen und Rohren, das naher kam, lauter wurde, sehr laut. Dann traf ihn ein Wasserschwall, und etwas Rotes schob sich zwischen ihn und die Wale. Er wurde gepackt und uber die Reling gezogen.
Greywolf beachtete ihn nicht weiter. Er steuerte das Sportboot naher an den verbliebenen Rest der Schwimmer, beugte sich erneut vor und ergriff die ausgestreckten Hande Alicia Delawares. Muhelos zog er sie aus dem Wasser und beforderte sie auf eine der Sitzbanke. Anawak lehnte sich hinaus, bekam einen keuchenden Mann zu fassen, wuchtete ihn ins Innere. Er suchte die Wasseroberflache nach den anderen ab. Wo war Stringer?
»Da!«
Sie tauchte zwischen zwei Wellenkammen auf, zusammen mit einer Frau, die halb bewusstlos im Wasser trieb. Die Orcas hatten das gekenterte Zodiac umrundet und naherten sich von beiden Seiten. Ihre schwarz glanzenden Kopfe zerteilten das Wasser. Hinter den spaltbreit geoffneten Lippen schimmerten elfenbeinfarbene Zahnreihen. Sekunden noch, und sie wurden Stringer und die Frau erreicht haben. Aber Greywolf war schon wieder am Steuer und manovrierte das Boot zielsicher heran.
Anawak versuchte Stringer zu erreichen.
»Die Frau zuerst«, rief sie.
Greywolf kam ihm zur Hilfe. Sie brachten die Frau in Sicherheit. Stringer versuchte sich wahrenddessen aus eigener Kraft hineinzuziehen, aber sie schaffte es nicht. Hinter ihr tauchten die Wale ab.
Plotzlich schien sie allein. Das Meer leer und verodet. Niemand au?er ihr.
»Leon?«
Sie streckte die Hande aus, Furcht im Blick. Anawak langte hinaus und bekam ihren rechten Arm zu fassen.
Im blaugrunen Wasser kam etwas Gro?es mit unglaublicher Geschwindigkeit nach oben geschossen. Kiefer offneten sich, helle Zahnreihen vor einem rosafarbenen Gaumen, und schlossen sich knapp unterhalb der Oberflache. Stringer schrie auf. Sie begann mit der Faust auf das Maul, das sie umklammert hielt, einzuschlagen.
»Hau ab«, schrie sie. »Weg. Du Mistvieh!«
Anawak krallte die Hande in ihre Jacke. Stringer sah zu ihm hoch. Ihr Blick spiegelte Todesangst.
»Susan! Gib mir die andere Hand.«
Er hielt sie fest, entschlossen, nicht nachzugeben. Der Orca hatte Stringer um die Mitte gepackt. Er zerrte mit unglaublicher Kraft an ihr. Ein Heulen kam aus Stringers Kehle, erst dumpf und schmerzvoll, dann uberschlagend, schrill. Sie horte auf, das Maul des Orcas mit Schlagen zu bearbeiten, und schrie nur noch. Dann wurde sie Anawak mit einem furchterlichen Ruck entrissen. Er sah ihren Kopf unter Wasser verschwinden, ihre Arme, die zuckenden Finger. Der Orca zog sie unerbittlich hinab. Eine Sekunde lang leuchtete noch ihr Overall auf, ein versprengtes Kaleidoskop aus Farbe, das verblasste, sich aufloste, verschwand.