Anawak starrte fassungslos ins Wasser. Aus der Tiefe stieg etwas Glitzerndes nach oben. Ein Schwall Luftblasen. Sie zerplatzten schaumend an der Wasseroberflache.

Drum herum farbte sich das Wasser rot.

»Nein«, flusterte er.

Greywolf packte ihn an der Schulter und zog ihn zuruck.

»Es ist niemand mehr da«, sagte er. »Wir hauen ab.« Anawak war wie betaubt. Das Sportboot nahm rohrend Fahrt auf. Er taumelte und fing sich. Die Frau, die Stringer gerettet hatte, lag auf einer der seitlichen Sitzbanke und wimmerte. Delaware redete mit zitternder Stimme auf sie ein. Der Mann, den sie aus dem Wasser gezogen hatte, stierte vor sich hin. In einiger Entfernung horte er tumultartigen Larm, wandte den Kopf und sah das wei?e Schiff umkreist von Schwertern und Buckeln. Wie es aussah, machte die Lady Wexham kaum noch Fahrt, wahrend sie immer dramatischer in Schieflage geriet.

»Wir mussen zuruck«, rief er. »Sie schaffen es nicht.« Greywolf jagte das Boot mit Hochstgeschwindigkeit auf die Kuste zu. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Vergiss es.« Anawak trat neben ihn, riss das Walkie-Talkie aus der Halterung und rief die Lady Wexham. Es rauschte und knisterte. Der Skipper der Lady meldete sich nicht. »Wir mussen denen helfen. Jack! Verdammt, dreh um…« »Ich sagte, vergiss es! Mit meinem Boot haben wir nicht die geringste Chance. Wir konnen von Gluck sagen, wenn wir das hier uberleben.« Das Schreckliche war, dass er Recht hatte.

»Victoria?«, schrie Shoemaker ins Telefon. »Was zum Teufel tun die alle in Victoria? — Wieso angefordert? — Die haben ihre eigene Kustenwache in Victoria. Im Clayoquot Sound treiben Passagiere, da sinkt vielleicht gerade ein Schiff, eine Skipperin ist tot, und wir sollen uns gedulden?«

Er horte zu, wahrend er mit langen Schritten den Verkaufsraum durchma?. Abrupt blieb er stehen. »Was hei?t das, sobald sie konnen? — Das ist mir schei?egal! Dann sollen sie jemand anderen schicken. — Was? — Horen Sie mal, Sie …«

Die Stimme im Horer schrie so laut zuruck, dass es bis zu Anawak drang, obwohl Shoemaker in einigen Metern Entfernung stand. In der Station herrschte Aufruhr. Davie war personlich anwesend. Er und Shoemaker sprachen pausenlos in irgendwelche Horer und Gerate, gaben Instruktionen durch oder horten fassungslos zu. Bei Shoemaker gewann die Fassungslosigkeit gerade Uberhand. Er lie? den Horer sinken und schuttelte den Kopf.

»Was ist los?«, wollte Anawak wissen. Er machte Shoemaker das Zeichen, leiser zur reden, und ging zu ihm hinuber. Wahrend der letzten Viertelstunde, seit Greywolf sein altersschwaches Boot zuruck nach Tofino geprugelt hatte, fullte sich der Verkaufsraum stetig mit Menschen. Die Nachricht von den Angriffen war wie ein Lauffeuer durch den kleinen Ort gegangen. Auch die anderen Skipper, die fur Davies arbeiteten, trafen der Reihe nach ein. Mittlerweile waren die Frequenzen hoffnungslos uberlastet. Die Prahlereien von Sportfischern, die in der Nahe waren und Kurs auf die Unglucksstelle nahmen — »Ha, junge Leute, zu blode, einem Wal auszuweichen!« —, verstummten allmahlich. Wer helfen wollte, wurde augenblicklich selber Zielscheibe von Attacken. Die Welle der Angriffe schien sich entlang der kompletten Kustenlinie fortzusetzen. Uberall war die Holle losgebrochen, ohne dass jemand wirklich zu sagen vermochte, was uberhaupt geschah.

»Die Kustenwache hat niemanden, den sie uns schicken kann«, zischte Shoemaker. »Sie sind alle vor Victoria und Ucluelet unterwegs. Sie sagen, es seien mehrere Boote in Seenot geraten.«

»Was? Dort auch?«

»Scheint, als hatte es jede Menge Tote gegeben.«

»Ich bekomme gerade was aus Ucluelet rein«, rief Davie zu ihnen heruber. Er lehnte hinter der Theke und drehte an den Knopfen seines Kurzwellenempfangers. »Ein Trawler. Sie haben den Notruf eines Zodiacs aufgefangen und wollten zur Hilfe kommen. Jetzt werden sie selber angegriffen. — Sie hauen ab.«

»Wovon werden sie angegriffen?«

»Kein Empfang mehr. Sie sind weg.«

»Und die Lady Wexham?«

»Nichts. Tofino Air ist mit zwei Maschinen hochgegangen. Eben hatte ich kurz Verbindung.«

»Und?«, rief Shoemaker atemlos. »Sehen sie die Lady?«

»Sie sind gerade erst gestartet, Tom.«

»Und warum sind wir nicht mit an Bord?«

»Blode Frage, weil …«

»Verdammt, das sind unsere Boote! Warum sind wir nicht in diesen beschissenen Flugzeugen?« Shoemaker rannte wie von Sinnen hin und her. »Was ist mit der Lady Wexham?«

»Wir mussen eben warten.«

»Warten? Wir konnen nicht warten! Ich fahre hin.«

»Was soll das hei?en, du fahrst hin?«

»Na, drau?en liegt doch noch ein Zodiac, oder? Wir konnen die Devilfish nehmen und nachsehen.«

»Bist du wahnsinnig?«, rief einer der Skipper. »Hast du nicht gehort, was Leon erzahlt? Das ist Sache der Kustenwache.«

»Es ist aber keine beschissene Kustenwache da!«, schrie Shoemaker.

»Vielleicht kann sich die Lady Wexham ja aus eigener Kraft retten. Leon hat gesagt …«

»Vielleicht, vielleicht! Ich fahre!«

»Schluss!« Davie hob die Hande. Er warf Shoemaker einen warnenden Blick zu. »Tom, ich will keine weiteren Menschenleben in Gefahr bringen, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

»Du willst dein Boot nicht in Gefahr bringen«, bellte Shoemaker angriffslustig. »Wir werden abwarten, was die Piloten zu sagen haben. Danach entscheiden wir, was zu tun ist.« »Alleine schon diese Entscheidung ist falsch!«

Davie antwortete nicht. Er drehte an den Knopfen seines Empfangers und versuchte, in Kontakt mit den Piloten der Wasserflugzeuge zu kommen, wahrend Anawak bemuht war, die Leute wieder aus dem Verkaufsraum nach drau?en zu komplimentieren. Hin und wieder verspurte er ein Zittern in seinen Knien und einen leichten Schwindel. Wahrscheinlich stand er unter Schock. Er hatte alles darum gegeben, sich einen Moment hinlegen und die Augen schlie?en zu durfen, aber dann wurde er wahrscheinlich wieder Susan Stringer sehen, wie sie von dem Orca in die Tiefe gerissen wurde.

Die Frau, die Stringer ihr Leben verdankte, lag wie ohnmachtig auf einer Bank neben dem Eingang. Anawak konnte nicht anders, er betrachtete sie voller Hass. Ohne sie hatte Stringer es geschafft. Der gerettete Mann sa? daneben und weinte leise. Wie es aussah, hatte er seine Tochter verloren, die mit auf der Blue Shark gewesen war. Alicia Delaware kummerte sich um ihn. Selbst nur knapp dem Tod entronnen, wirkte sie erstaunlich gefasst. Angeblich war ein Hubschrauber unterwegs, um die Geretteten ins nachste Hospital zu bringen, aber derzeit lie? sich mit nichts und niemandem wirklich rechnen.

»He, Leon!«, sagte Shoemaker. »Kommst du mit? Du wei?t am besten, worauf wir zu achten haben.«

»Tom, du fahrst nicht«, sagte Davie scharf.

»Kein Einziger von euch Idioten sollte jemals wieder da rausfahren«, lie? sich eine tiefe Stimme vernehmen. »Ich fahre.«

Anawak drehte sich um. Greywolf hatte die Station betreten. Er schob sich durch die wartenden Menschen und strich sich das lange Haar aus der Stirn. Nachdem er Anawak und die anderen abgeliefert hatte, war er in seinem Boot geblieben, um es auf Schaden zu untersuchen. Schlagartig wurde es ruhiger im Verkaufsraum. Alle starrten den langmahnigen Riesen in der Lederkleidung an.

»Wovon redest du?«, fragte Anawak. »Wohin fahrst du?«

»Raus zu eurem Schiff. Eure Leute holen. Ich habe keine Angst vor Walen. Sie tun mir nichts.«

Anawak schuttelte argerlich den Kopf. »Edel von dir, Jack, wirklich. Aber vielleicht solltest du dich ab jetzt raushalten.«

»Leon, kleiner Mann.« Greywolf fletschte die Zahne. »Wenn ich mich rausgehalten hatte, warst du jetzt tot. Vergiss das nicht. Ihr seid es, die sich besser rausgehalten hatten. Von Anfang an.«

»Aus was?«, zischte Shoemaker.

Greywolf sah den Geschaftsfuhrer unter gesenkten Lidern an. »Aus der Natur, Shoemaker. Ihr seid doch schuld an dem ganzen Desaster. Ihr mit euren Booten und euren verfluchten Kameras. Ihr seid schuld am Tod meiner und eurer Leute und derjenigen, denen ihr das Geld aus der Tasche gezogen habt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas passierte.«