»Was machen die denn hier?«, rief Shoemaker.
»Wahrscheinlich haben sie die Hilferufe gehort.« Anawak legte den Feldstecher an die Augen. »MS Arktik. Aus Seattle. Kenne ich. Sie sind in den letzten Jahren mehrfach hier durchgekommen.«
»Leon. Da!«
Klein und schief, kaum auszumachen hinter den auf— und abschwellenden Wellenkammen, ragten plotzlich die Aufbauten der Lady Wexham empor. Der gro?te Teil des Schiffs lag unter Wasser. Vorn auf der Brucke und der Aussichtsplattform im Heck drangten sich die Menschen. Aufspruhende Gischt vernebelte die Sicht. Mehrere Orcas umschwammen das Wrack. Es sah aus, als warteten sie auf den Untergang der Lady Wexham, um sich dann uber die Passagiere herzumachen.
»Du lieber Himmel«, stohnte Shoemaker entsetzt. »Ich kann’s nicht glauben.«
Greywolf drehte sich zu ihnen um und machte Zeichen, langsamer zu fahren. Shoemaker drosselte die Geschwindigkeit. Ein grau gefurchter Buckel hob sich unmittelbar vor ihnen aus dem Wasser, zwei weitere folgten. Die Wale blieben einige Sekunden an der Oberflache, stie?en einen buschigen, V-formigen Blas aus und tauchten ab, ohne ihre Fluken gezeigt zu haben.
Anawak ahnte, dass sie sich unter Wasser naherten. Er konnte den drohenden Angriff regelrecht wittern.
»Und los!«, schrie Greywolf.
Shoemaker gab Vollgas. Die Devilfish stellte sich steil auf und raste davon. Hinter ihnen schossen massig und dunkel die Wale empor und sturzten zuruck, ohne Schaden anzurichten. Mit Hochstgeschwindigkeit hielt das Zodiac auf die sinkende Lady Wexham zu. Jetzt konnten sie auf Deck und Brucke einzelne Personen erkennen, die ihnen zuwinkten. Rufe waren zu horen. Anawak sah mit Erleichterung, dass auch der Skipper unter den Uberlebenden war. Die schwarzen Schwerter losten sich aus ihrer Umlaufbahn und tauchten ab.
»Die werden wir gleich am Hals haben«, sagte Anawak.
»Orcas?« Shoemaker sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Erstmals schien er zu begreifen, was hier drau?en wirklich stattfand. »Was wollen die denn machen? Das Zodiac umwerfen?«
»Konnten sie locker, aber das Zerdeppern besorgen die Gro?en. Die Tiere scheinen so etwas wie eine Arbeitsteilung entwickelt zu haben. Die Grauen und die Buckelwale versenken die Boote, und die Orcas erledigen die Insassen.«
Shoemaker wurde wei? im Gesicht und starrte ihn an.
Greywolf zeigte zu dem Kreuzfahrtschiff hinuber. »Wir erhalten Verstarkung«, rief er.
Tatsachlich losten sich zwei kleine Motorboote von der MS Arktik und kamen langsam naher.
»Sag ihnen, sie sollen Gas geben oder sich verpissen, Leon«, rief Greywolf. »Bei der Geschwindigkeit sind sie leichte Beute.«
Anawak nahm das Funkgerat zur Hand: »MS Arktik. Hier Devilfish. Sie mussen sich darauf einrichten, angegriffen zu werden.«
Einige Sekunden blieb alles still. Die Devilfish hatte die Lady Wexham beinahe erreicht. Ihr Rumpf schlug auf die Wellenkamme.
»Hier MS Arktik. Was kann passieren, Devilfish?«
»Achten Sie auf springende Wale. Die Tiere werden versuchen, Ihre Boote zu versenken.« »Wale? Wovon reden Sie?« »Das Beste ware, Sie kehren um.« »Wir haben einen Notruf empfangen, dass ein Schiff gekentert ist.« Anawak schwankte, als das Zodiac hart auf einen Wellenkamm knallte. Er fing sich und schrie ins Funkgerat: »Wir haben keine Zeit fur Diskussionen. Sie mussen vor allen Dingen schneller fahren.« »He, wollen Sie uns verarschen? Wir fahren jetzt zu dem sinkenden Schiff. Ende.« Im Bug begann Greywolf zu gestikulieren. »Sie sollen endlich abhauen!«, schrie er. Die Orcas hatten ihren Kurs geandert. Sie hielten nicht langer auf die Devilfish zu, sondern schwammen weiter hinaus aufs offene Meer und geradewegs auf die MS Arktik zu.
»So eine Schei?e«, fluchte Anawak. Unmittelbar vor den herannahenden Booten schoss ein Buckelwal empor, umgeben von einer Korona aus funkelndem Wasser. Er stand einen Augenblick reglos in der Luft und kippte zur Seite weg. Anawak sog scharf die Luft ein. Durch die herabfallende Gischt sah er die beiden Boote unversehrt naher kommen.
»MS Arktik! Ziehen Sie Ihre Leute zuruck. Sofort! Wir regeln das hier.«
Shoemaker drosselte die Maschine. Die Devilfish trieb nun unmittelbar vor der schrag aufragenden Brucke der Lady Wexham. Etwa ein Dutzend durchnasster Manner und Frauen drangte sich darauf zusammen. Jeder hielt sich irgendwo fest, verzweifelt bemuht, nicht abzurutschen. Die Wogen zerplatzten schaumend an der Brucke. Eine weitere kleine Gruppe hatte sich auf der Aussichtsplattform im Heck in Sicherheit gebracht. Wie Affen hingen sie in den Sprossen der Reling, durchgeschuttelt von den Wellen.
Tuckernd trieb die Devilfish zwischen Brucke und Plattform. Unter dem Zodiac schimmerte grunwei? das mittlere Aussichtsdeck im Wasser. Shoemaker steuerte naher zur Brucke, bis der Gummiwulst dagegen stie?. Eine machtige Welle erfasste das Boot und druckte es hoch. Wie in einem Fahrstuhl fuhren sie am Bruckenaufbau empor. Fur einen Moment konnte Anawak die ausgestreckten Hande der Leute beinahe beruhren. Er sah in verangstigte Gesichter, Entsetzen gemischt mit Hoffnung, dann sackte die Devilfish wieder ab. Ein Aufschrei der Enttauschung folgte ihr.
»Das wird schwierig«, stie? Shoemaker zwischen zusammengebissenen Zahnen hervor.
Anawak schaute sich nervos um. Die Wale hatten offenbar das Interesse an der Lady Wexham verloren. Sie sammelten sich weiter drau?en vor den Booten der MS Arktik, die unentschlossene Ausweichmanover fuhren.
Sie mussten sich beeilen. Ewig konnten sie nicht darauf hoffen, dass die Tiere fernblieben, und derweil sank die Lady Wexham immer schneller. Greywolf duckte sich. Eine grune, zerkluftete Woge erfasste die Devilfish und trug sie wieder in die Hohe. Anawak sah die abblatternde Farbe des Bruckenturms an sich vorbeiziehen. Greywolf sprang aus dem Boot und klammerte sich mit einer Hand an eine Steigleiter. Das Wasser uberspulte ihn bis zur Brust, dann rollte die Welle durch, und er hing in der Luft, eine lebende Verbindung zwischen den Menschen uber ihm und dem Zodiac. Er streckte die freie Hand nach oben.
»Auf meine Schultern«, schrie er. »Einer nach dem anderen. An mir festhalten, warten, bis das Boot hochkommt, springen!«
Die Menschen zogerten. Greywolf wiederholte seine Anweisungen. Schlie?lich ergriff eine Frau seinen Arm und lie? sich mit unsicheren Bewegungen abwarts gleiten. Im nachsten Moment hing sie huckepack an dem Hunen und krallte sich an seinen Schultern fest. Das Zodiac schoss hoch. Anawak bekam die Frau zu fassen und zog sie ins Innere.
»Der Nachste!«
Endlich kam Schwung in die Rettungsaktion. Einer nach dem anderen hangelte sich uber Greywolfs breiten Rucken an Bord der Devilfish. Anawak fragte sich, wie lange der Halbindianer noch die Kraft aufbringen wurde, sich an der Leiter festzuhalten. Er trug sein eigenes Gewicht und das der Passagiere, hing nur an einer Hand und geriet standig halb unter Wasser, das an ihm zog und zerrte, wenn das Meer wegsackte. Die Brucke achzte und quietschte gotterbarmlich. Hohles Stohnen drang aus ihrem Innern, als sich das Material verformte. Knallend zersprangen eiserne Nahte. Nur noch der Skipper war auf der Brucke, als plotzlich ein hassliches Kreischen ertonte. Die Brucke erhielt einen Schlag. Greywolfs Oberkorper schlug hart gegen die Wand. Der Skipper verlor den Halt und sauste an Greywolf vorbei. Auf der anderen Seite des Wracks erhob sich der Kopf eines Grauwals aus den Fluten. Greywolf lie? die Sprossen der Steigleiter los und sprang hinterher. Unweit von ihm tauchte der Skipper prustend auf und gelangte mit wenigen kraftvollen Schwimmsto?en zum Zodiac. Hande streckten sich ihm entgegen und hievten ihn ins Innere. Auch Greywolf langte nach der Bordwand, verfehlte sie und wurde von einer Woge davongetragen.