Wenige Meter hinter ihm schob sich ein hochgebogenes Schwert aus dem Wasser.

»Jack!« Anawak quetschte sich an den Menschen vorbei und lief ins Heck. Sein Blick suchte die Wellen ab. Greywolfs Kopf erschien in den Fluten. Er spuckte Wasser, tauchte ab und schnellte dicht unter der Oberflache auf die Devilfish zu. Das Schwert des Orca schwenkte augenblicklich auf ihn ein und folgte ihm. Greywolfs muskelbepackte Arme reckten sich empor und schlugen gegen den Gummirumpf. Der Orca hob seinen runden, glanzenden Schadel aus dem Wasser. Er holte auf. Anawak packte zu, andere halfen. Mit vereinten Kraften wuchteten sie den Zweimetermann ins Boot. Das Schwert beschrieb einen Halbkreis und bewegte sich in entgegengesetzte Richtung davon. Greywolf fluchte lang anhaltend, schuttelte die helfenden Hande ab und klatschte sich das lange Haar aus dem Gesicht.

Warum hat ihn der Orca nicht angegriffen?, dachte Anawak.

Ich habe keine Angst vor Walen. Sie tun mir nichts.

Sollte an dem Blodsinn was dran sein?

Dann wurde ihm klar, dass der Orca gar nicht in der Lage gewesen war anzugreifen. Das uberflutete Mitteldeck unter dem Zodiac hatte ihm nicht genug Wassertiefe gelassen. In unmittelbarer Nahe der Devilfish war man vor Schwertwalen geschutzt, solange sie es nicht wie ihre sudamerikanischen Verwandten hielten und die Jagd in flachem Wasser oder auf dem Trockenen fortsetzten.

Bis zum Untergang der Lady Wexham blieb eine Gnadenfrist, die sie unter allen Umstanden nutzen mussten.

Ein kollektiver Aufschrei erklang. Ein Riesenexemplar von Grauwal war auf eines der herannahenden Boote der MS Arktik gekracht. Trummer wirbelten umher. Das andere Boot lie? den Motor aufheulen, fuhr eine Kurve und ergriff die Flucht. Anawak starrte auf die Stelle, wo der Wal das Boot in die Tiefe gerissen hatte. Entsetzt registrierte er mehrere graue Buckel, die sich von der Unglucksstelle auf die Devilfish zubewegten. Jetzt sind wir wieder dran, dachte er. Shoemaker wirkte wie paralysiert. Seine Augen drohten aus ihren Hohlen zu treten. »Tom!«, schrie Anawak. »Wir mussen die Leute im Heck runterholen.« »Shoemaker!« Greywolf fletschte die Zahne. »Was ist? Geht dir der Arsch auf Grundeis?« Zitternd griff der Geschaftsfuhrer ins Lenkrad und steuerte die Devilfish an die Aussichtsplattform heran. Eine Woge hob das Zodiac an, riss es zuruck und schleuderte es unvermittelt auf die Plattform zu. Der Bug der Devilfish stie? hart gegen die Reling, in deren Streben sich die Schiffbruchigen klammerten. Aus der Tiefe erklang das Jammern uberstrapazierten Materials. Anawak sah vor seinem geistigen Auge, wie die Bordwand weiter aufriss und die Aufbauten auseinander brachen Shoemaker keuchte. Es gelang ihm nicht, die Devilfish so unter die Reling zu bugsieren, dass die Leute an Bord springen konnten.

Die grauen Buckel wogten der Lady Wexham entgegen, geradewegs auf Kollisionskurs. Erneut ging ein furchterlicher Schlag durch das Wrack. Eine Frau wurde von der Reling geschleudert und landete aufschreiend im Wasser.

»Shoemaker, du verdammter Schwachkopf!«, schrie Greywolf.

Mehrere Insassen sprangen hinzu und zerrten die strampelnde Frau ins Innere. Anawak fragte sich, wie lange der zertrummerte Ausflugsdampfer dieser neuen Angriffswelle standhalten konnte. Die Lady Wexham sank nun deutlich schneller.

Wir schaffen es nicht, dachte er verzweifelt.

Im selben Moment geschah etwas Merkwurdiges.

Zu beiden Seiten des Schiffs hoben sich zwei machtige Rucken aus den Wellen. Einen davon erkannte Anawak sofort. Eine Reihe wei?lich verwachsener, kreuzformiger Narben verlief uber der Wirbelsaule. Sie hatten das Tier, das sich die Verletzungen in fruhester Jugend geholt haben musste, Scarback genannt. Scarback war ein sehr alter Grauwal, der das Durchschnittsalter seiner Spezies langst uberschritten hatte. Der Rucken des anderen Wals wies keine signifikanten Merkmale auf. Beide Tiere lagen ruhig im Wasser und lie?en sich mit den Wellen hochtragen und niedersinken. Knallend entlud sich der Blas zuerst des einen, dann des anderen Wals. Feinste Spruhwolken wehten heruber.

Seltsam war weniger das Erscheinen der beiden Grauen als vielmehr die Reaktion der anderen Wale. Sie tauchten unvermittelt ab. Als ihre Buckel wieder zum Vorschein kamen, hatten sie sich ein gutes Stuck entfernt. Dafur umrundeten wieder Orcas das Schiff, aber auch sie hielten vorsichtigen Abstand.

Irgendetwas sagte Anawak, dass sie von den Neuankommlingen nichts zu befurchten hatten. Im Gegenteil. Die beiden hatten die Angreifer furs Erste verjagt. Wie lange der Frieden halten wurde, war ungewiss, aber die unerwartete Wendung hatte ihnen eine Atempause eingetragen. Auch Shoemaker war seiner Panik Herr geworden. Diesmal steuerte er das Zodiac zielsicher unter die Reling. Anawak sah eine gewaltige Woge heranrollen und machte sich bereit. Wenn sie es jetzt nicht schafften, hatten sie verloren.

Das Zodiac schoss empor.

»Springt!«, rief er. »Jetzt!«

Die Woge lief unter der Devilfish durch. Sie sackte weg. Einige der Leute sprangen dem Zodiac hinterher. Sie sturzten ubereinander, Schmerzensschreie erschollen. Wer im Wasser landete, fand mit Hilfe der Insassen schnell ins Boot, bis alle eingesammelt waren.

Jetzt nichts wie weg.

Nein, nicht alle waren gesprungen. Auf der Reling hockte die einsame Gestalt eines Jungen. Er weinte, die Hande ins Gelander gekrallt.

»Spring!«, rief Anawak. Er breitete die Arme aus. »Hab keine Angst.«

Greywolf trat neben ihn. »Mit der nachsten Welle hole ich ihn.«

Anawak sah uber die Schulter. Ein machtiger Wasserberg rollte heran. »Ich glaube«, sagte er, »darauf musst du nicht lange warten.«

Aus der Tiefe drohnten wieder die Laute der Zerstorung. Die beiden Wale sanken langsam zuruck unter die Oberflache. Immer schneller lief das Schiff jetzt voll. Das Wasser gurgelte und schaumte, dann verschwand die Brucke plotzlich in einem Strudel, und das Heck stellte sich hoch. Bug voran begann die Lady Wexham zu sinken.

»Naher ran!«, schrie Greywolf.

Irgendwie schaffte es Shoemaker, der Anweisung Folge zu leisten. Der Bug der Devilfish schrammte gegen das abtauchende Deck, an dessen Ende sich der Junge klammerte. Er weinte laut. Greywolf hastete, rempelnd und Knuffe verteilend, ins Heck. Im selben Moment hob die Woge das Zodiac empor. Vorhange aus Schaum bauschten sich uber der Reling. Greywolf lehnte sich hinaus und bekam den Jungen zu packen. Die Devilfish schwankte, er verlor das Gleichgewicht und kippte zwischen die Sitzreihen, aber den Jungen hatte er nicht losgelassen. Wie Baumstamme ragten seine Arme in die Hohe. Die prankenartigen Hande waren um die Taille des Jungen geschlossen.

Anawak sah atemlos hinaus.

Wirbel kreisten uber der Stelle, wo das Kind noch vor Sekunden in der Reling gehangen hatte. Er sah die Lady Wexham in der Tiefe verschwinden, dann sturzte das Zodiac ins nachfolgende Wellental, und es durchfuhr seinen Magen, als sa?e er in einer Achterbahn.

Shoemaker gab Vollgas. Es waren lange, gleichma?ige Wogen, die vom Pazifik hereinrollten. Sie konnten der Devilfish, wenngleich das Zodiac hoffnungslos uberfullt war, nicht gefahrlich werden, sofern der Skipper jetzt keinen Fehler machte. Aber Shoemaker schien sich seiner besten Tage entsonnen zu haben. Die Panik war aus seinen Augen gewichen Sie schossen einen Wellenkamm hoch und daruber hinaus, fielen und nahmen Kurs auf die Kuste.

Anawak sah zuruck zur MS Arktik. Das zweite Boot war verschwunden. Zwischen den Wellen sah er eine Fluke abtauchen. Es kam ihm vor, als ob sie zum Abschied hohnisch winkte. Die Fluke eines Buckelwals. Nie wieder wurde er das Abtauchen einer Walfluke sehen konnen, ohne das Schlimmste zu denken.

Im Funkgerat war der Teufel los.

Wenige Minuten spater hatten sie den Inselstreifen passiert, der das offene Meer von der Lagune trennte.