Einzig der Umstand, dass ihm nicht auch noch die Devilfish verloren gegangen war, vermochte Davie in diesen Minuten aufzuheitern, nachdem das Zodiac uberfullt wie ein Fluchtlingsschiff am Pier festgemacht hatte. Sie lasen die Namen der Vermissten vor. Einige Leute brachen zusammen. Dann leerte sich Davies Whaling Station ebenso schnell, wie sie sich gefullt hatte. So ziemlich jeder litt an Unterkuhlung, also lie?en sich die meisten von Freunden und Angehorigen zur nahe gelegenen Ambulanz bringen. Andere hatten sich ernsthafte Verletzungen zugezogen, aber wann ein Helikopter fur den Transport ins Krankenhaus nach Victoria bereitstehen wurde, war nicht abzusehen. Unverandert beherrschten Schreckensmeldungen den Funkverkehr.
Davie hatte sich unangenehme Fragen gefallen lassen mussen, Beschuldigungen, Verdachtigungen und schlicht das Androhen von Prugeln, sollten die gebuchten Passagiere nicht unversehrt zuruckkehren. Zwischendurch war Roddy Walker, Stringers Freund, aufgetaucht und hatte herumgeschrien, sie wurden von seinen Anwalten horen. Niemanden schien sonderlich zu interessieren, wer die Schuld an den Vorgangen trug. Erstaunlicherweise wurde die einfachste Erklarung von kaum jemandem akzeptiert: dass die Wale unmotiviert angegriffen hatten. Wale taten so etwas nicht. Wale waren friedlich. Wale waren die besseren Menschen. Gesunde Halbbildung brach sich Bahn und brachte die Touristen in Tofino gegen die Whale Watcher auf, als hatten sie die Passagiere der Blue Shark und der Lady Wexham eigenhandig abgemurkst: Idioten, die unnotige Risiken eingegangen und mit altersschwachen Schiffen hinausgefahren waren. Tatsachlich hatte die Lady Wexham eine ganze Reihe von Jahren auf dem Buckel gehabt, was ihrer Seetauglichkeit posthum nicht im Mindesten Abbruch tat. Aber davon wollte augenblicklich niemand etwas horen.
Wenigstens hatte man die Besatzung und den gro?ten Teil der Passagiere heimgebracht. Viele Menschen hatte sich spontan bei Shoemaker und Anawak bedankt, aber als eigentlicher Held wurde Greywolf gefeiert. Er war uberall gleichzeitig, redete, horte zu, organisierte und bot an, mit in die Ambulanz zu fahren. Er gerierte sich als Gutmensch, dass Anawak vom Hinsehen schlecht wurde: eine zu zwei Meter Korpergro?e mutierte Mutter Teresa.
Anawak fluchte. Er musste sich um andere Dinge kummern und spurte, wie ihm die Situation entglitt.
Naturlich hatte Greywolf sein Leben riskiert. Naturlich hatten sie ihm danken mussen. Auf Knien sogar. Aber Anawak verspurte nicht die mindeste Lust dazu. Dieser plotzliche Ausbruch von Altruismus war ihm zutiefst suspekt. Greywolfs Einsatz fur die Menschen auf der Lady Wexham, dessen war Anawak sich sicher, entsprang in weit geringerem Ma?e menschenfreundlichen Anwandlungen, als es den Anschein hatte. Im Grunde war der Tag fur ihn hochst positiv verlaufen. Ihm glaubte und vertraute man. Ihm, der vorausgesagt hatte, es werde ein boses Ende nehmen mit dem Waltourismus, nur dass keiner horen wollte, und jetzt das! Hatte er nicht pausenlos gewarnt? Wie viele Zeugen wurden sich bereitwillig einfinden, um Greywolfs luzide Voraussicht zu bestatigen?
Eine bessere Buhne konnte er sich gar nicht wunschen.
Anawak spurte seine Wut ins Unermessliche wachsen. Ubellaunig ging er in den leeren Verkaufsraum. Sie mussten den Grund fur das Verhalten der Tiere herausfinden! Seine Gedanken wanderten zur Barrier Queen. Roberts hatte ihm den Bericht schicken wollen. Den brauchte er nun dringender denn je. Er trat ans Telefon, wahlte die Auskunft und lie? sich mit der Reederei verbinden.
Roberts’ Sekretarin meldete sich. Ihr Chef sei im Meeting und durfe nicht gestort werden. Anawak erwahnte seine Rolle bei der Inspektion der Barrier Queen und lie? eine gewisse Dringlichkeit erkennen. Die Frau bestand darauf, Roberts’ Sitzung sei dringender. Ja, vom Desaster der vergangenen Stunden habe sie gehort. Es sei schrecklich. Mitfuhlend erkundigte sie sich nach Anawaks Wohlergehen, gab sich mutterlich besorgt und ruckte Roberts dennoch nicht raus. Ob sie ihm etwas ausrichten konne?
Anawak zogerte. Roberts hatte ihm den Bericht unter vier Augen versprochen, und er wollte den Manager nicht in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht war es besser, die Absprache vor der Frau unerwahnt zu lassen. Dann fiel ihm etwas ein.
»Es geht um die Muscheln, die am Bug der Barrier Queen festgewachsen waren«, sagte er. »Muscheln und moglicherweise andere organische Substanzen und Lebensformen. Wir hatten einiges davon ins Institut nach Nanaimo geschickt. Sie benotigen dort Nachschub.«
»Nachschub?«
»Weiteres Probenmaterial. Ich vermute, die Barrier Queen ist mittlerweile von hinten bis vorne untersucht worden.« »Ja, sicher«, sagte sie mit einem merkwurdigen Unterton. »Wo ist das Schiff jetzt?«
»Im Dock.« Sie lie? eine kurze Pause verstreichen. »Ich werde Mr. Roberts ausrichten, dass es dringend ist. Wohin sollen wir die Proben schicken?«
»Ans Institut. Zu Handen von Dr. Sue Oliviera. Danke. Sie sind sehr freundlich.« »Mr. Roberts meldet sich, sobald er kann.« Die Leitung war tot. Ganz eindeutig hatte sie ihn abgewimmelt. Was hatte das schon wieder zu bedeuten?
Plotzlich zitterten seine Knie. Die Anspannung der vergangenen Stunden machte deprimierter Erschopfung Platz. Er lehnte sich gegen die Theke und schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder offnete, sah er Alicia Delaware vor sich stehen.
»Was machst du denn hier?«, fragte er unfreundlich. Sie zuckte die Achseln. »Mir geht’s gut. Ich muss mich nicht behandeln lassen.« »Doch. Das musst du. Du bist ins Wasser gefallen, und das Wasser hier ist verdammt kalt. Geh in die Ambulanz, bevor sie uns auch noch deine erkaltete Blase in die Schuhe schieben.« »He!« Sie funkelte ihn zornig an. »Ich habe dir nichts getan, klar?« Anawak stie? sich von der Theke ab. Er wandte ihr den Rucken zu und trat an das ruckwartige Fenster. Drau?en am Kai lag die Devilfish, als sei nichts gewesen. Es hatte zu nieseln begonnen.
»Was sollte eigentlich dieser Blodsinn von deinem angeblich letzten Tag auf Vancouver Island?«, fragte er. »Ich hatte dich gar nicht mitnehmen durfen. Ich hab’s getan, weil du mir die Ohren voll geheult hast.«
»Ich …« Sie stockte. »Na ja, ich wollte halt unbedingt mit. Sauer deswegen?« Anawak dreht sich um. »Ich hasse es, angelogen zu werden.« »Tut mir Leid.«
»Nein, tut es nicht. Aber egal. Warum verschwindest du nicht und lasst uns unsere Arbeit machen?« Er krauselte die Oberlippe. »Geh mit Greywolf. Er nimmt euch alle schon ans Handchen.«
»Mein Gott, Leon!« Sie kam naher, und er wich zuruck. »Ich wollte nun mal unbedingt mit dir rausfahren. Tut mir Leid, dass ich dich angelogen habe. Okay, ich bin noch ein paar Wochen hier, und ich komme auch nicht aus Chicago, sondern studiere Biologie an der University of British Columbia. Was soll’s? Ich dachte, du findest die Flunkerei am Ende lustig …«
»Lustig?«, schrie Anawak. »Hast du sie nicht alle? Was ist lustig daran, verarscht zu werden?«
Er spurte, wie ihm die Nerven durchgingen, aber er konnte nichts dagegen machen, dass er sie anschrie, obwohl sie Recht hatte. Sie hatte ihm nichts getan. Nicht das Geringste.
Delaware zuckte zuruck. »Leon …« »Licia, warum lasst du mich nicht einfach in Frieden? Hau ab.«
Er wartete darauf, dass sie ging, aber sie tat es nicht. Sie stand weiter vor ihm. Anawak fuhlte sich wie benommen. Alles kreiste vor seinen Augen. Einen Moment lang furchtete er, seine Beine konnten nachgeben, dann sah er plotzlich wieder klar und erkannte, dass Delaware ihm etwas hinhielt.
»Was ist das?«, brummte er.
»Eine Videokamera.«
»Das sehe ich.«
»Nimm sie.«
Er streckte die Hand aus, ergriff die Kamera und betrachtete sie. Eine ziemlich teure Sony Handycam in wasserfester Umschalung. Touristen, aber auch Wissenschaftler benutzten solche Verschalungen, wenn das Risiko bestand, dass die Kamera nass wurde.