Portugiesische Galeeren, dachte Johanson.

Er erinnerte sich an eine Frau auf Bali, die keuchend im Sand gelegen hatte, von Krampfen geschuttelt. Er selber war mit dem Ding nicht in Beruhrung gekommen. Auch die Frau hatte die Galeere nicht beruhrt. Sie hatte beim Strandspaziergang etwas aus dem seichten Uferwasser gefischt mit einem Stock. Etwas, das ihr seltsam und von eigentumlicher Schonheit erschienen war, ein atherisches, dahintreibendes Segel. Weil sie vorsichtig war, hatte sie darauf geachtet, Abstand zu wahren. Einige Male hatte sie es hin— und hergewendet, bis es mit Sand paniert seine Attraktivitat und seinen Reiz verloren hatte, und dann war ihr dieser dumme Fehler unterlaufen …

Portugiesische Galeeren gehorten zu den Staatsquallen, einer Spezies die der Wissenschaft immer noch Ratsel aufgab. Genau genommen war die Galeere nicht einmal eine klassische Qualle, sondern eine schwimmende Kolonie aus einer Vielzahl winziger Einzeltiere, Hunderte und Tausende Polypen mit unterschiedlichsten Aufgaben.

Ihr blau oder purpurn schillerndes Gallertsegel, das gasgefullt aus dem Wasser ragte, ermoglichte es der Kolonie, wie eine Yacht vor dem Wind zu segeln. Was unterhalb des Segels lag, sah man nicht.

Aber man spurte es, sobald man hineingeriet.

Denn Galeeren zogen einen Vorhang aus Tentakeln hinter sich her, die bis zu funfzig Meter lang wurden, bestuckt mit hunderttausenden winziger, fuhlerbesetzter Nesselzellen. Aufbau und Funktion dieser Zellen stellten eine Meisterleistung der Evolution dar, ein hocheffizientes Waffenarsenal. Jede Zelle barg in ihrem Innern eine Kapsel mit einem zusammengerollten Schlauch, der in einer harpunengleichen Spitze mundete, nach innen gestulpt wie der Finger eines Handschuhs. Die leichteste Beruhrung setzte einen Vorgang von atemberaubender Prazision in Gang. Im Moment, da der Fuhler den Kontakt registrierte, entrollte sich der Schlauch und schoss mit einem Druck von siebzig platzenden Autoreifen hervor. Tausende der widerhakenbesetzten Harpunen durchschlugen die Korperwand des Opfers wie subkutane Spritzen und injizierten ein Gemisch aus verschiedenen Eiwei?en und Proteinen, das gleichzeitig Blutkorperchen und Nervenzellen angriff. Die Folge war eine sofortige Kontraktion der Muskulatur. Schmerzen wie von gluhendem Metall, das sich ins Fleisch bohrte, Schockzustand, Atemstillstand, dann Herzversagen. Sofern man das Gluck hatte, sich in Ufernahe zu befinden und sofort geborgen zu werden, uberlebte man den Kontakt. Taucher und Schwimmer, die weiter drau?en ins Gewirr der treibenden Tentakel gerieten, hatten kaum eine Chance.

Der Frau auf Bali war nichts weiter geschehen, als dass ihr Zeh den Stock beruhrt hatte, an dem etwas von dem Nesselgift haftete. Selbst diese geringe Menge hatte ausgereicht, um sie die Begegnung nie wieder vergessen zu lassen. Dennoch war die Portugiesische Galeere harmlos, verglichen mit der Wurfelqualle Chironex fleckeri, der australischen Seewespe.

Die Natur hatte sich in der Evolutionsgeschichte zu beeindruckenden Leistungen der Giftmischerei aufgeschwungen. Im Falle der Seewespe hatte sie ihr Meisterstuck abgeliefert. Das Gift eines einzigen Tiers reichte aus, um zweihundertfunfzig Menschen zu toten. Der hochwirksame Nervenblocker rief augenblickliche Bewusstlosigkeit hervor. Die meisten Opfer starben gleichzeitig durch Herzversagen und Ertrinken, innerhalb von Minuten und oft nur Sekunden.

All das schoss Johanson durch den Kopf, als er den Fernseher anstarrte.

Da verkaufte jemand die Leute fur dumm. Vierzehn Todesopfer zuzuglich Verletzte in wenigen Wochen, hatte es das je vor einer Kuste gegeben? Durch eine einzige Quallenart? Und was hatte diese andere Geschichte zu bedeuten, das Verschwinden von Schiffen?

Portugiesische Galeeren vor Sudamerika. Seewespen vor Australien. Borstenwurminvasionen vor Norwegen.

Das muss nichts hei?en, dachte er. Quallen traten haufig in Schwarmen auf, uberall auf der Welt. Kein Hochsommer ohne Quallenplage. Wurmer waren etwas vollig anderes.

Er verraumte die letzten Kleidungsstucke, schaltete den Fernseher aus und ging ins Wohnzimmer, um eine CD einzulegen oder zu lesen.

Aber Johanson legte keine CD ein, und er griff auch nach keinem Buch. Vielmehr ging er eine Weile hin und her, trat ans Fenster und sah hinaus auf die von Laternen erleuchtete Stra?e.

Es war so friedlich gewesen am See.

Es war friedlich in der Kirkegata.

Wenn es zu friedlich wurde, war im Allgemeinen irgendetwas nicht in Ordnung.

Blodsinn, dachte Johanson. Was hat die Kirkegata mit alldem zu tun?

Er schuttete sich einen Grappa ein, nippte daran und versuchte, an etwas anderes zu denken als an die Nachrichtensendung.

Jemand fiel ihm ein, den man anrufen konnte.

Knut Olsen. Er arbeitete wie Johanson als Biologe an der NTNU. Johanson erinnerte sich, dass er eine Menge von Quallen, Korallen und Seeanemonen verstand. Au?erdem konnte er Olsen fragen, was es mit den verschwundenen Booten auf sich hatte.

Olsen meldete sich nach dem dritten Schellen.

»Hast du schon geschlafen?«, fragte Johanson.

»Die Kinder haben mich wach gehalten«, sagte Olsen. »Marie hatte Geburtstag, sie ist funf geworden. Wie war’s am See?«

Olsen war ein stets gut gelaunter Familienmensch, der ein burgerlich derma?en korrektes Leben fuhrte, dass es Johanson grauste. Sie unternahmen privat nie etwas zusammen, sah man von Mittagspausen ab. Aber Olsen war ein guter Kerl und hatte Humor. Er musste Humor haben. Anders konnte es Johansons Ansicht nach kaum zu ertragen in mit funf Kindern und Dutzenden omniprasenter Verwandter.

»Du solltest endlich mal mitkommen«, schlug er vor. Es war eine Floskel. Ebenso gut hatte er sagen konnen, du solltest endlich mal deinen Wagen in die Luft sprengen oder zwei deiner Kinder verkaufen.

»Klar«, sagte Olsen. »Irgendwann gerne.«

»Hast du die Nachrichten gesehen?«

Eine kurze Pause entstand.

»Du meinst wegen der Quallen?«

»Bingo! Ich dachte mir, dass es dich beschaftigt. Was ist da los?«

»Was soll los sein? Invasionen kommen immer vor. Frosche, Heuschrecken, Quallen …«

»Ich meine speziell Portugiesische Galeeren und Seewespen.«

»Das ist ungewohnlich.«

»Bist du sicher?«

»Es ist ungewohnlich, dass es die beiden gefahrlichsten Quallenarten der Welt betrifft. Und das, was sie in den Nachrichten erzahlen, klingt einfach sonderbar.«

»Siebzig Tote in einhundert Jahren«, warf Johanson ein.

»Blodsinn.« Olsen schnaubte geringschatzig.

»Weniger?«

»Mehr! Viel mehr, an die neunzig, wenn du den Golf von Bengalen und die Philippinen hinzurechnest, und von der Dunkelziffer wollen wir gar nicht erst reden. Naturlich hat Australien seit ewigen Zeiten Probleme mit dem Schleimzeug, gerade mit Seewespen. Sie laichen nordlich von Rockhampton in Flussmundungen. Fast alle Unfalle passieren im seichten Wasser. Innerhalb von drei Minuten bist du tot.«

»Stimmt die Jahreszeit?«

»Fur Australien, ja. Oktober bis Mai. In Europa gehen einem die Biester immer dann auf den Sack, wenn es so hei? wird, dass du am Strand verreckst. Wir waren im vergangenen Jahr auf Menorca, und die Kinder kriegten sich kaum ein, weil tonnenweise Velella rumlag …«

»Was lag rum?«

»Velella velella. Segelquallen. Ganz hubsch, wenn sie nicht gerade in der Sonne vor sich hinstinken. Violette kleine Dinger. Der ganze Strand war lila, die haben sie mit Schaufeln und Harken in hunderte von Sacken gepackt, du machst dir keine Vorstellung, und im Meer schwammen standig neue. Du wei?t, ich bin ein Quallenfan, aber selbst mir war’s irgendwann zu viel. Ich hatte von morgens bis abends das Geplarre in den Ohren. Jedenfalls, in Europa haben wir die Quallenplage im August oder September, aber down under ist es naturlich umgekehrt. Was da vor Australien passiert, ist schon seltsam.«

»Was genau ist seltsam?«