»Seewespen kommen in Strandnahe vor, da, wo es flach ist. Weit drau?en vor der Kuste findest du sie kaum. Schon gar nicht an den vorgelagerten Inseln des Great Barrier Reef. Ich horte aber, da sind sie auch. Bei Velella ist es genau andersrum. Sie gehoren normalerweise auf hohe See. Wir wissen bis heute nicht, was sie alle paar Jahrzehnte an die Strande treibt, wir wissen ohnehin wenig uber Quallen.«
»Werden die Strande nicht durch Netze geschutzt?«
Olsen lachte laut auf. »Ja, darauf bilden sie sich machtig was ein, aber es bringt nichts. Die Quallen bleiben in den Netzen hangen, aber die Tentakel losen sich ab und treiben durch die Maschen. Dann siehst du sie uberhaupt nicht mehr.« Er machte eine Pause. »Warum bist du eigentlich so scharf darauf, das alles zu erfahren? Du wei?t doch selber schon eine Menge.«
»Ja, aber du wei?t mehr daruber. Mich interessiert, ob wir es tatsachlich mit Anomalien zu tun haben.«
»Darauf kannst du wetten«, knurrte Olsen. »Schau mal, das Auftreten von Quallen ist immer an hohe Wassertemperaturen und die Entwicklung des Planktons gebunden. Du wei?t ja, wenn es hubsch warm wird, gedeiht Plankton umso besser, und Quallen fressen Plankton, also da hast du dein Einmaleins. Darum treten die Viecher im Spatsommer scharenweise auf und verschwinden ein paar Wochen spater wieder. Das ist der Lauf der Dinge. — Warte mal eben.«
Im Hintergrund war lautes Gebrull zu horen. Johanson fragte sich, wann Olsens Kinder ins Bett gingen und ob sie es uberhaupt jemals taten. Wann immer er in der Vergangenheit mit Olsen telefoniert hatte, war es dort hoch hergegangen.
Olsen rief etwas von Streit beilegen und vertragen. Es wurde kurzzeitig noch lauter, dann war er wieder am Telefon.
»Entschuldige. Geschenke. Sie streiten sich drum. Also, wenn du meine Meinung horen willst, entstehen solche Quallenplagen durch die Uberdungung der Meere. Wir sind schuld. Die Uberdungung fordert das Planktonwachstum, und so weiter, und so fort. Wenn dann die Winde westlich oder nordwestlich stehen, haben wir sie hier oben vor der Haustur.«
»Ja, aber das sind die normalen Invasionen. Wir reden hier von …«
»Warte. Du wolltest wissen, ob wir es mit einer Anomalie zu tun haben. Die Antwort lautet: ja! Und zwar mit einer, die wir wahrscheinlich nicht als solche erkennen. Hast du Pflanzen zu Hause?«
»Was? Ah, ja.«
»Eine Yuccapalme?«
»Ja. Zwei.«
»Anomalien. Verstehst du? Die Yuccapalme wurde eingeschleppt, und rate mal, von wem.«
Johanson verdrehte die Augen.
»Du fangst jetzt hoffentlich nicht an, von einer Yuccapalmeninvasion zu sprechen. Meine Palmen verhalten sich gemeinhin friedlich.«
»Das meine ich nicht. Ich meine, wir sind einfach nicht mehr in der Lage zu beurteilen, was naturlich ist und was nicht. 2000 war ich im Golf von Mexiko zu Untersuchungen uber Quallenplagen. Riesige Schwarme von dem Gewabbel bedrohten die lokalen Fischbestande. Sie waren in die Laichgrunde von Louisiana, Mississippi und Alabama eingefallen und fra?en die Eier und Larven der Fische, und das Plankton fra?en sie ihnen sowieso weg. Den meisten Schaden hat eine Spezies angerichtet, die da uberhaupt nichts zu suchen hat: eine australische Qualle aus dem Pazifik. Eingeschleppt.«
»Invasionsbiologie.«
»Genau. Sie zerstorten die Nahrungskette und beeintrachtigten den Fischfang. Eine Katastrophe. Ein paar Jahre zuvor drohte im Schwarzen Meer ein okologisches Desaster, weil wahrend der Achtziger irgendein Handelsschiff in seinem Ballastwasser Lappenrippenquallen eingeschleppt hatte. Auch die gehorten da nicht hin, und das Schwarze Meer war ziemlich konsterniert und wenig spater im Arsch. Von jetzt auf gleich tummelten sich da uber achttausend Quallen pro Quadratmeter, wei?t du, was das hei?t?«
Olsen redete sich in Rage.
»So, und jetzt die Sache mit den Portugiesischen Galeeren. Sie sind vor Argentinien aufgekreuzt, das ist nicht ihr Gebiet. Mittelamerika ja, auch Peru, vielleicht noch Chile, aber weiter unten? Vierzehn Tote auf einen Schlag! Das klingt nach Attacke. Als seien die Leute uberrascht worden. Dann Seewespen. So weit drau?en vor der Kuste, was tun die da? Als hatte sie jemand da hingezaubert.«
»Was mich stutzig macht«, sagte Johanson, »ist, dass es sich ausgerechnet um die zwei gefahrlichsten Arten handelt.«
»Ganz recht«, sagte Olsen gedehnt. »Aber jetzt warte mal, wir sind nicht in Amerika, bastel dir keine Verschworungstheorie zusammen. Es gibt noch eine weitere Erklarung fur die Zunahme der Plagen. Einige meinen, El Nino sei schuld, andere sagen, die Erwarmung des Erdklimas. In Malibu haben sie Quallenplagen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, vor Tel Aviv sind Riesenapparate aufgetaucht. Erderwarmung, Einschleppung, alles macht Sinn.«
Johanson horte kaum noch zu. Olsen hatte etwas gesagt, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.
Als hatte sie jemand dort hingezaubert.
Und die Wurmer?
Als hatte sie jemand dort hingezaubert.
»… kommen zur Paarung in seichte Gewasser«, sagte Olsen gerade. »Und noch was: Wenn die von ungewohnlich hohen Aufkommen sprechen, meinen sie nicht Tausende, dann reden sie von Abermillionen. Und sie haben gar nichts unter Kontrolle. Da sind nicht vierzehn Menschen gestorben, sondern weit mehr, das garantiere ich dir.«
»Mhm.«
»Horst du mir uberhaupt noch zu?«
»Naturlich. Weit mehr. Ich glaube, jetzt versteigst du dich in Verschworungstheorien.« Olson lachte. »Quatsch. Aber es sind Anomalien, ja.
Oberflachlich betrachtet hat es den Anschein eines zyklisch auftretenden Phanomens, aber ich halte es fur etwas anderes.«
»Das sagt dir dein Bauch?«
»Mein Bauch sagt, ich hatte heute Abend Rinderroulade gegessen. Er ist zu nichts anderem mehr in der Lage. Nein, das sagt mein Kopf.«
»Gut. Danke. Ich wollte nur deine Meinung horen.«
Er uberlegte. Sollte er Olsen von den Wurmern erzahlen? Aber das ging ihn nichts an. Wahrscheinlich war Statoil nicht sonderlich erpicht darauf, das Thema zu diesem Zeitpunkt in der Offentlichkeit wiederzufinden, und Olsen redete ein bisschen viel.
»Sehen wir uns morgen zum Mittagessen?«, fragte Olsen.
»Ja. Gerne.«
»Ich werde mal schauen, ob ich noch mehr uber die Sache rauskriegen kann. Man hat so seine Quellen uber Quallen.« Er lachte laut, entzuckt von seinem eigenen Kalauer.
»Gut«, sagte Johanson. »Bis morgen.«
Er legte auf. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er Olsen auch nach den verschwundenen Schiffen hatte fragen wollen. Aber er mochte kein weiteres Mal anrufen. Morgen wurde er genug erfahren.
Er fragte sich, ob ihn die Quallenplagen ebenso elektrisiert hatten ohne das Wissen um diese Wurmer.
Nein. Wahrscheinlich nicht. Es waren nicht die Quallen. Es waren die Zusammenhange. Falls es welche gab.
Am nachsten Morgen schaute Olsen in seinem Buro vorbei, kaum dass Johanson eingetroffen war. Auf der Fahrt zur NTNU hatte er Nachrichten gehort und nicht mehr erfahren, als er schon wusste: In verschiedenen Teilen der Welt wurden Menschen und Boote vermisst. Spekulationen gab es zur Genuge, eine echte Erklarung lieferte niemand.
Johansons erste Vorlesung war um zehn. Reichlich Zeit, neu hereingekommene E-Mails abzufragen und die Post zu sichten. Drau?en goss es in Stromen. Der Himmel uberzog Trondheim mit bleiernem Grau. Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein und verzog sich mit einem Becher Kaffee hinter seinen Schreibtisch, um in Ruhe wach zu werden, als Olsen den Kopf zur Tur reinsteckte.
»Irre, was?«, sagte er. »Es rei?t nicht ab.«
»Was rei?t nicht ab?«
»Na, eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Horst du denn uberhaupt keine Nachrichten?«
Johanson musste sich kurz sammeln. »Du meinst die verschwundenen Boote? Deswegen wollte ich dich ohnehin fragen. Ich hab’s nur gestern vor lauter Quallen vergessen.«
Olsen schuttelte den Kopf und kam ganz herein. »Ich gehe recht in der Annahme, dass du mir einen Kaffee anbieten willst«, sagte er, wahrend er sich interessiert umsah. Zu Olsens gleicherma?en nutzlichen wie anstrengenden Eigenschaften gehorte seine Neugier.