Wie alle Ungeheuer jedoch war der Videogreifer zwar mit erstaunlichen Fahigkeiten ausgestattet, zugleich aber plump und dumm. Im Innern waren eine Kamera und starke Scheinwerfer angebracht. Man konnte sehen, was der Greifer sah, und ihn im richtigen Moment von der Kette lassen. Das war erstaunlich. Dumm war die Unfahigkeit des T-Rex, sich anzuschleichen. So vorsichtig man ihn auch absetzte — und dieser Vorsicht waren Grenzen gesetzt, weil es einer gewissen Wucht bedurfte, um ihn ins Sediment eindringen zu lassen! —, man vertrieb die meisten Bodenbewohner schon allein durch die Bugwelle, die das gigantische Maul vor sich herschob.
Sobald es herabfuhr auf Fische, Wurmer, Krebse und alles, was schneller Bewegungen fahig war, registrierten die empfindlichen Sinne der Tiere die herannahende Gefahr, lange bevor der Greifer aufschlug. Selbst ausgeklugeltere Systeme kundigten sich auf diese Weise an. Ein amerikanischer Tiefseeforscher hatte es schlie?lich frustriert und gallig auf den Punkt gebracht:
»Es gibt jede Menge Leben da unten. Unser Problem ist, dass es jedes Mal zur Seite geht, wenn wir kommen.«
Jetzt wurde der Greifer vom Heckgalgen abgelassen. Johanson wischte sich den Regen aus den Augen und ging ins Monitorlabor. Der Matrose am Windenfahrstand bediente den Joystick, mit dem der Greifer abgesenkt und angehoben wurde. In den letzten Stunden hatte er bereits den Videoschlitten gesteuert, aber er wirkte konzentriert und aufgeraumt. Das musste er auch sein. Stundenlang das blasstrube Bild des Meeresbodens zu betrachten, konnte hypnotisierende Wirkung haben. Ein unachtsamer Moment, und Gerate im Kostenrahmen von Ferraris blieben fur alle Zeiten unten.
Drinnen herrschte Dammerlicht. Die Gesichter der Umstehenden und Sitzenden leuchteten fahl im Licht der Bildschirme. Die Welt entruckte vollends. Es gab nur noch den Meeresboden, dessen Oberflache die Wissenschaftler studierten wie eine chiffrierte Landschaft, in der jede Einzelheit Aussagen uber alles traf, multicodierte Botschaften, Gottes verschlungene Sprache.
Drau?en am Heckgalgen rauschte der Greifer abwarts.
Das Wasser schien aus den Monitoren spritzen zu wollen, dann sank das stahlerne Maul durch Planktonregen. Es wurde blaugrun, grau, schwarz. Helle Punkte schossen seitlich weg wie Kometen, winzige Krabben, Krill, Undefinierbares. Die Reise des Greifers mutete an wie der Vorspann zu alten Star-Trek -Folgen, nur fehlte die Musik. Im Labor herrschte Totenstille. Der Tiefenmesser lief rasend schnell durch. Dann plotzlich kam Meeresboden ins Bild, der ebenso gut Mondoberflache hatte sein konnen, und die Winde stoppte.
»Minus 714«, sagte der Matrose am Joystick. Bohrmann beugte sich vor: »Noch nicht.« Muscheln zogen durchs Bild, wie sie mit Vorliebe auf Gashydraten siedelten. Die meisten von ihnen waren unter sich aufbaumenden, zuckenden rosa Leibern verschwunden. Johanson beschlich der Gedanke, dass die Wurmer nicht nur ins Eis vordrangen, sondern auch die Muscheln in ihren Schalen fra?en. Er sah deutlich, wie die zangenbewehrten Russel hervorschossen, Stucke aus dem Muschelfleisch rissen und ins Innere der schlauchformigen Korper beforderten. Vom wei?en Methaneis war nichts auszumachen unter der kriechenden Belagerung, aber jeder im Raum wusste, dass es dort war, direkt unter ihnen. Uberall stiegen Blasen auf und schwemmten kleine schimmernde Brocken nach oben, Hydratsplitter. »Jetzt«, sagte Bohrmann. Der Boden raste auf die Kamera zu. Kurz schien es, als baumten sich die Wurmer auf, um den Greifer in Empfang zu nehmen. Dann wurde alles schwarz. Das stahlerne Maul presste sich ins Methan und schloss sich langsam.
»Was zum Teufel …?«, zischte der Matrose.
Uber die Kontrollanzeige der Winde liefen Zahlen.
Blieben stehen, liefen weiter. »Der Greifer sackt weg. Er bricht durch.« Hvistendahl drangte sich nach vorn. »Was passiert denn da?« »Das gibt’s doch nicht. Da unten ist uberhaupt kein Widerstand mehr.«
»Hoch damit«, schrie Bohrmann. »Schnell.«
Der Matrose zog den Joystick zu sich heran. Die Anzeige stoppte, dann lief sie ruckwarts. Der Greifer fuhr hoch, das Maul geschlossen. Die Au?enkameras zeigten ein riesiges Loch, das plotzlich entstanden war Dicke, tanzende Blasen stiegen daraus empor. Dann wolbte sich eine gewaltige Menge Gas hinterher. Es schoss auf den Greifer zu, hullte ihn ein, und plotzlich verschwand alles in einem kochenden Wirbel.
Einige hundert Kilometer nordlich vom Standort der Sonne hatte Karen Weaver eben aufgehort zu zahlen.
50 Runden um das Schiff. Jetzt lief sie einfach weiter, deckauf, deckab, darauf bedacht, den wissenschaftlichen Betrieb nicht zu storen. Ausnahmsweise passte es ihr gut, dass Lukas Bauer keine Zeit fur sie hatte. Sie brauchte Bewegung. Am liebsten hatte sie Eisberge bestiegen oder sonst was unternommen, um ihren Uberschuss an Adrenalin abzubauen. Viel konnte man an Bord eines Forschungsschiffs nicht tun. Im Kraftraum war sie gewesen und hatte sich an den drei lappischen Maschinen zu Tode gelangweilt, also lief sie. Deckauf, deckab. Vorbei an Bauers Assistenten, die den funften Drifter vorbereiteten, vorbei an den Matrosen, die ihrer Arbeit nachgingen oder zusammenstanden und ihr hinterhersahen, wahrscheinlich mit anzuglichen Kommentaren auf den Lippen.
Vor ihrem halb geoffneten Mund bildeten sich in regelma?iger Folge wei?e Wolken.
Deckauf, deckab.
Sie musste an ihrer Ausdauer arbeiten. Ausdauer war ihr schwacher Punkt. Dafur war sie ungemein kraftig. Nackt sah Karen Weaver aus wie eine Bronzeskulptur, mit schimmernder Haut, unter der sich beeindruckende Muskelstrange entlangzogen. Zwischen ihren Schulterblattern breitete ein kunstvoll tatowierter Falke seine Schwingen aus, eine bizarre Kreatur mit aufgerissenem Schnabel und vorgestreckten Klauen. Zugleich hatte Karen Weaver nichts gemein mit der Grobschlachtigkeit von Bodybuilderinnen. Im Grunde ware ihr Korper wie geschaffen gewesen fur eine Modelkarriere, nur dass sie zu klein war und ihre Schultern zu breit. Ein kleiner, gut gebauter Panzer, suchtig nach Adrenalin und bevorzugt am Rande irgendeines Abgrunds anzutreffen In diesem Fall erstreckte sich der Abgrund dreieinhalb Kilometer tief. Die Juno kreuzte uber dem Gronlandischen Abyssal, einer Tiefseeebene unterhalb der Framstra?e, aus der kaltes arktisches Wasser nach Suden stromte. Am Zirkelpunkt zwischen Island, Gronland, Nordnorwegen und Svalbard lag eine der beiden Lungen der Weltmeere. Was hier geschah, interessierte Lukas Bauer. Und es interessierte auch Karen Weaver, beziehungsweise ihre Leser.
Bauer winkte sie heran.
Vollkommen kahl, mit kolossalen Brillenglasern und wei?em Spitzbart, kam er dem Prototyp des vergeistigten Professors naher als jeder Wissenschaftler, den Weaver je kennen gelernt hatte. Er war sechzig und hatte einen runden Rucken, aber in dem mageren, gebeugten Korper steckte eine unbandige Energie. Weaver bewunderte Menschen wie Lukas Bauer. Sie bewunderte das Ubermenschliche an ihnen, die Kraft des Willens.
»Kommen Sie her, Karen!«, rief Bauer mit heller Stimme. »Ist das nicht unglaublich? In dieser Gegend sturzen rund 17 Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde nach unten. 17 Millionen!« Er strahlte sie an. »Das ist 20-mal mehr, als samtliche Flusse der Erde fuhren.«
»Doktor.« Weaver legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Das haben Sie mir schon dreimal erzahlt.«
Bauer blinzelte. »So? Was Sie nicht sagen.«
»Dafur haben Sie versaumt, mir zu erklaren, wie Ihr Drifter funktioniert. Wenn ich Pressearbeit fur Sie machen soll, mussen Sie sich ein bisschen mehr mit mir beschaftigen.«
»Na ja, der Drifter, der autarke Drifter … ich dachte, das sei klar, oder nicht? Deswegen sind Sie ja hier.«
»Ich bin hier, um Computersimulationen von Stromungswegen zu erstellen, damit die Leute sehen konnen, wohin Ihre Drifter unterwegs sind. Schon vergessen?«