Er hielt das Funkgerat an den Mund und rief Anawak auf der abhorsicheren Frequenz. Eine ganze Reihe von Frequenzen war fur militarische und wissenschaftliche Zwecke gesperrt worden.

»Leon? Alles klar?«

»Ich hore dich, John. Wo hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Nordwestlich. Keine zweihundert Meter von uns. Vor etwa funf Minuten hatten wir eine Reihe von Sichtungen, aber sie halten sich fern. Es mussen acht bis zehn Tiere sein. Zwei haben wir eindeutig identifiziert. Einer war am Angriff auf die Lady Wexham beteiligt, der andere hat letzte Woche einen Fischtrawler vor Ucluelet versenkt.«

»Sie haben nicht versucht, euch anzugreifen?«

»Nein. Wir sind ihnen offenbar zu gro?.«

»Und untereinander? Wie verhalten sie sich untereinander?«

»Friedlich.«

»Gut. Wahrscheinlich alle von derselben Bande, aber wir sollten uns auf die Identifizierten konzentrieren.«

Ford schaute der DHC-2 hinterher, wie sie kleiner wurde, sich langsam schrag legte und in gro?em Bogen zuruckkam. Sein Blick wanderte zur Brucke der Whistler. Das Schiff war ein Hochsee-Bergungsschlepper aus Vancouver und im Besitz eines privaten Unternehmens, uber 63 Meter lang und fast 15 Meter breit. Mit einem Pfahlzug von 160 Tonnen gehorte die Whistler zu den starksten Schleppern der Welt. Eindeutig zu gro? und schwer, als dass ein Wal ihr hatte gefahrlich werden konnen. Ford schatzte, dass nicht einmal der Sprung eines Buckelwals geradewegs ins Heck mehr bewirken wurde als heftiges Schaukeln.

Dennoch fuhlte er sich unwohl. Hatten die Wale anfangs alles angegriffen, was schwamm, so schienen sie mittlerweile sehr genau einschatzen zu konnen, wo sie Schaden anrichten konnten und wo nicht. Bis jetzt waren neben den omniprasenten Orcas, Grau— und Buckelwalen auch Finnwale und Pottwale auf Schiffe losgegangen. Alle diese Tiere hatten offenbar flei?ig dazugelernt. Den Schlepper wurden sie nicht attackieren, so viel stand fest. Und genau das war es, was Ford am meisten beunruhigte. Eine Art Tollwut ware nicht mit dieser wachsenden Fahigkeit zur Differenzierung einhergegangen. Er ahnte die Intelligenz hinter dem Handeln der Sauger, und er fragte sich, wie sie auf den Roboter reagieren wurden.

Ford funkte die Brucke an. »Es geht los«, sagte er.

Uber ihm kreiste die DHC-2.

Nach der Identifizierung diverser Angreifer anhand von Videos und Bildern hatten sie begonnen, aktiv nach den Tieren Ausschau zu halten. Seit drei Tagen fuhr der Schlepper die Route vor Vancouver Island ab. Am heutigen Morgen waren sie endlich fundig geworden. In einem Rudel Grauwale erkannten sie zwei Flukenmuster wieder, die sie auf Fotos und Videos von angreifenden Tieren gesehen hatten.

Ford fragte sich, ob sie uberhaupt eine Chance bekamen, die Wahrheit rechtzeitig aufzudecken. Mit Schaudern dachte er an die lauter werdenden Stimmen aus den Fischereiverbanden und Reedereien, denen der sanfte Kurs des wissenschaftlichen Beirats nicht weit genug ging. Sie forderten den Einsatz militarischer Gewalt — ein paar tote Wale, und der Rest der Viecher wurde schon einsehen, dass es keine gute Idee war, Menschen anzugreifen. Das Ansinnen war ebenso naiv wie gefahrlich, weil es auf fruchtbaren Boden fiel. Tatsachlich verspielten die Meeressauger augenblicklich auf inflationare Weise den Kredit, um den Tierschutzer und Ethiker so lange gerungen hatten. Noch trat der Krisenstab den Forderungen mit dem Argument entgegen, dass Gewalt nichts bewirke, solange man nicht die Ursache fur die Verhaltensanderung der Tiere kenne. Allenfalls lie?en sich Symptome bekampfen. Ford wusste nicht, wie die Regierung in letzter Konsequenz entscheiden wurde, aber dass Fischer und illegale Walfanger kurz davor standen, auf eigene Faust loszuziehen, zeichnete sich ab. Die allgemeine Ratlosigkeit angesichts der Frage, wie man vorgehen solle, wurde nur noch ubertroffen von der Uneinigkeit der streitenden Parteien. Ein idealer Nahrboden fur Alleingange.

Krieg auf dem Meer.

Ford betrachtete den Roboter im Heck.

Er war gespannt darauf, was der URA leisten wurde, den sie so schnell und unburokratisch aus Japan erhalten hatten. Seine Entwicklung lag nur wenige Jahre zuruck. Die Japaner beharrten darauf, das Gerat diene der Forschung und nicht der Jagd. Westliche Umweltschutzer vernahmen die Aussage mit Skepsis. Das drei Meter lange zylindrische Gebilde, dicht bestuckt mit Messinstrumenten und hoch sensiblen Kameras, galt ihnen als Hollenmaschine, um ganze Walschulen aufzuspuren im Hinblick auf ein mogliches Ende des internationalen Walfangmoratoriums von 1986. Nachdem der URA vor den japanischen Kerama-Inseln erfolgreich Buckelwale geortet hatte und ihnen uber einen langeren Zeitraum gefolgt war, hatte der Roboter auch auf dem Internationalen Meeres-sauger-Symposium in Vancouver Anklang gefunden. Doch das Misstrauen blieb. Es war kein Geheimnis, dass sich Japan systematisch die Unterstutzung armer Lander erkaufte mit dem Ziel, das Moratorium aufheben zu lassen. Die japanische Regierung rechtfertigte den konspirativen Kuhhandel als ›Diplomatie‹ — dieselben Regierungsleute, die ma?geblich die Universitat von Tokio subventionierten, zu der auch Lira’s Underwater Robotics amp; Application Laboratory Team gehorte, die den Roboter entwickelt hatten.

»Vielleicht tust du ja heute was Sinnvolles«, sagte Ford leise zu dem URA. »Rette deinen Ruf.«

Das Gerat funkelte in der Sonne. Ford trat an die Reling und spahte hinaus. Aus der Luft waren die Wale besser zu sehen, vom Schiff aus besser zu identifizieren. Nach einer Weile tauchten nacheinander einige Grauwale auf und pflugten durch die Wellen.

Die Stimme des Beobachtungspostens von der Brucke erklang im Funkgerat.

»Rechts hinter uns. Lucy.«

Ford wirbelte herum, hob den Feldstecher und sah gerade noch eine schartige, steingraue Fluke abtauchen.

Lucy!

Einer der Wale hie? so. Ein kapitaler Grauwal von 14 Metern Lange. Lucy hatte sich gegen die Lady Wexham geworfen. Vielleicht war es sogar Lucy gewesen, die den dunnwandigen Rumpf aufgerissen hatte, sodass Wasser eingedrungen und das Schiff voll gelaufen war.

»Bestatigt«, sagte Ford. »Leon?«

Uber die isolierte Frequenz waren alle miteinander verbunden. Die Insassen der DHC-2 horten, was an Bord der Whistler gesprochen wurde.

»Bestatigt«, sagte Anawak im Funkgerat.

Ford blinzelte in die Sonne und sah das Flugzeug tiefer gehen, wo die Fluken verschwunden waren.

»Na dann«, sagte er mehr zu sich selbst. »Waidmannsheil.«

Aus einhundert Metern Hohe wirkte selbst der wuchtige Schlepper wie ein liebevoll gebasteltes Modell. Dafur erschienen die Meeressauger umso gro?er. Anawak sah mehrere Grauwale dicht unter der Wasseroberflache dahinziehen, ruhig und gemachlich. Gebrochenes Sonnenlicht tanzte auf den kolossalen Korpern. Jedes der Tiere war vollstandig zu sehen. Obwohl nur knapp ein Viertel so lang wie die Whistler, nahmen sie sich geradezu absurd gewaltig aus.

»Weiter runter«, sagte er.

Die DHC-2 ging tiefer. Sie zogen uber das Rudel hinweg und naherten sich der Position, an der Lucy abgetaucht war. Anawak hoffte, dass der Wal nicht auf Fresstour gegangen war. In dem Fall wurden sie lange warten mussen. Aber moglicherweise war es hier nicht seicht genug. Ebenso wie Buckelwale ernahrten sich auch Grauwale auf ganz eigene Weise. Sie tauchten auf Grund und weideten die Sedimente ab, indem sie sich seitwarts drehten und bodenbewohnende Organismen in sich hineinsaugten, Kleinkrebse, Zooplankton und ihre Leibspeise, Fadenwurmer. Gewaltige Furchen solcher Fressorgien uberzogen die Boden vor Vancouver Island, aber dafur verirrten sich die grauen Riesen selten in tiefere Gewasser.

»Gleich wird’s ein bisschen zugig«, sagte der Pilot. »Danny?«

Der Schutze grinste einmal in die Runde. Dann offnete er die Seitentur und klappte sie zuruck. Ein Schwall kalter Luft drang herein und wirbelte die Haare der Insassen durcheinander. Von einem Moment zum anderen wurde es brullend laut im Innenraum. Delaware langte hinter sich und reichte Danny die Armbrust.