»Sie werden nicht viel Zeit haben«, sagte Anawak. Er musste laut sprechen, um gegen das Knattern des Windes und den Motorenlarm anzukommen. »Wenn Lucy auftaucht, bleiben ihnen nur wenige Sekunden, um die Sonde zu platzieren.«

»Wohl eher euer Problem als meines«, erwiderte Danny. Er schob sich, die Armbrust in der Rechten, aus dem Sitz, bis er halb im Gestange unter dem Flugel sa?. »Bringt mich einfach schon nah ran.«

Delaware schuttelte mit runden Augen den Kopf. »Ich kann nicht hinsehen.«

»Was?«, fragte Anawak.

»Das geht doch nicht. Ich seh ihn schon im Wasser liegen.«

»Keine Bange«, lachte der Pilot. »Die Jungs konnen noch ganz andere Sachen.«

Das Flugzeug schoss dicht uber den Wellen dahin, jetzt knapp auf Augenhohe mit der Brucke der Whistler. Sie uberflogen die Stelle, an der Lucy abgetaucht war. Nichts war zu sehen.

»Kreisen«, rief Anawak dem Pilot zu. »Sehr eng. Lucy wird ziemlich genau dort wieder auftauchen, wo sie verschwunden ist.«

Die DHC-2 legte sich abrupt in die Kurve. Plotzlich schien das Meer auf sie zuzukippen. Danny hing wie ein Affe in den Stangen, eine Hand am Turrahmen, in der anderen die gespannte Armbrust. Unter ihnen zeichnete sich die Silhouette eines auftauchenden Wales ab. Dann durchbrach ein grauer, glanzender Buckel die Wasseroberflache.

»Juchhu!«, brullte Danny.

»Leon!« Das war Ford uber Funk. »Das ist der Falsche.

Lucy schwimmt uns steuerbord voraus.«

»Verdammt!«, fluchte Anawak.

Er hatte sich verschatzt. Lucy war offenbar fest entschlossen, sich nicht an die Regel zu halten.

»Danny! Nicht.«

Das Flugzeug horte auf zu kreisen und sank noch tiefer. Die Wellen jagten unter ihnen dahin. Sie naherten sich dem Heck des Schleppers. Einen Moment lang sah es aus, als flogen sie geradewegs in die aufragenden Bauten der Whistler hinein, dann korrigierte der Pilot den Kurs, und sie zogen dicht an dem klobigen Schiff vorbei. Ein Stuck voraus tauchte Lucy erneut ab und lie? die Schwanzflosse sehen. Auch Anawak erkannte das Tier jetzt an den charakteristischen Kerben in der Fluke.

»Drosseln«, sagte er.

Der Pilot verringerte die Geschwindigkeit, aber naturlich waren sie immer noch zu schnell. Wir hatten einen Helikopter nehmen sollen, dachte Anawak. Jetzt wurden sie ubers Ziel hinausschie?en und wieder wenden mussen, in der Hoffnung, dass der Wal sich ihren Blicken nicht entzogen hatte.

Aber Lucy war nicht in der Tiefe verschwunden. Ihr gewaltiger Korper glanzte im Sonnenlicht.

»Uberholen, wenden, runter!«

Der Pilot nickte. »Und bitte nicht kotzen«, fugte er hinzu.

Er kippte das Flugzeug so plotzlich ab, dass es schien, als habe er es auf die Flugelspitze gestellt. Durch die offene Tur funkelte eine senkrechte Wand aus Wasser, beangstigend nah. Delaware schrie auf, wahrend Danny mit seiner Armbrust vor Vergnugen johlte.

Jede Achterbahn stank dagegen ab.

Anawak erlebte den Moment wie in Zeitlupe. Nie hatte er fur moglich gehalten, dass man ein Flugzeug praktisch wie einen Zirkel drehen konnte, wenn man sich die Flugelspitze als Nadel vorstellte. Die Maschine beschrieb einen perfekten Halbkreis und kippte ebenso unvermittelt zuruck in die Waagerechte.

Mit drohnendem Propeller hielt sie auf den Wal und die herannahende Whistler zu.

Ford beobachtete mit angehaltenem Atem, wie das Flugzeug nach dem haarstraubenden Wendemanover zuruckkam. Die Kufen beruhrten fast das Wasser. Schwach erinnerte er sich, dass Tofino Air auch einen ehemaligen Flieger der Canadian Air Force beschaftigte. Nun wusste er jedenfalls, welcher es war.

Der zylindrische Leib des URA hing jenseits der Reling am Heckkran des Schleppers. Sie waren bereit, das Gerat auszuklinken, sobald der Schutze den Sender platziert hatte. Deutlich war der graue Rucken des Wals zu erkennen. Er war nicht abgetaucht. Wal und Flugzeug bewegten sich rasch aufeinander zu. Ford sah Danny unter dem Flugel hocken und hoffte instandig, dass er die Sache mit einem Schuss erledigte.

Lucys Buckel schob sich durch die Wellen. Danny nahm die Armbrust hoch, ein Auge zusammen

gekniffen, die Hand am kalten Metall. Langsam krummte sich sein Finger.

Mit voller Konzentration und unbewegter Miene druckte Danny den Abzug durch. Nur er horte wohl in diesem Moment das leise Zischen, als der praparierte Pfeil dicht an seinem Ohr die Waffe mit uber 250 Stundenkilometern verlie?. Sekundenbruchteile spater bohrten sich metallene Widerhaken in den Speck des Wals und drangen tief ein, ohne dass Lucy etwas davon mitbekam. Das Tier rundete seinen Rucken. Es tauchte. Der Sender stand in schragem Winkel ab.

»Wir haben ihn!«, schrie Anawak ins Funkgerat.

Ford gab das Zeichen.

Der Kran entlie? den Roboter aus seiner Verankerung. Er klatschte auf und versank in den Wellen.

Die Beruhrung mit dem Wasser loste augenblicklich einen Impuls aus, der die elektrischen Motoren aktivierte. Wahrend das Gerat tiefer ging, bewegte es sich zugleich in Richtung des abgetauchten Wals. Sekunden nach der Wasserung war von dem URA nichts mehr zu sehen.

Ford ballte triumphierend die Fauste. »Ja!«

Die DHC-2 knatterte an der Whistler vorbei. In den Flugelstreben reckte Danny aufheulend die Armbrust.

»Wir haben’s geschafft!«

»Klasse!«

»Ein Schuss und … Mann, hast du gesehen?

Unglaublich!«

»Wow!«

Im Flugzeug redeten alle wild durcheinander. Danny wandte ihnen den Kopf zu und grinste. Er begann sich wieder ins Innere zu ziehen. Anawak streckte die Hande aus, um ihm zu helfen, als er vor sich etwas aus dem Wasser wachsen sah.

Entsetzt verharrte er.

Ein Grauwal wuchtete sich empor, ein Tier im Sprung.

Rasend schnell kam der massige Leib naher.

Mitten in ihrer Flugbahn.

»Hochziehen!«, schrie Anawak.

Die Motoren heulten schmerzvoll auf. Danny kippte zuruck, als das Flugzeug steil nach oben schoss. Kurz erhaschte Anawak einen Blick auf einen riesigen, narbigen Kopf, auf ein Auge, auf geschlossene Kiefer. Dann erhielt die Maschine einen furchterlichen Schlag. Wo der rechte Flugel und Danny gewesen waren, bogen sich die Reste des Gestanges. Anawak versuchte irgendwo Halt zu finden, aber alles drehte sich, Delaware schrie, der Pilot schrie, er selber schrie, das Meer kam auf sie zu.

Etwas schlug ihm ins Gesicht. Eisig.

Drohnen in seinen Ohren. Hohles Kreischen von brechendem Stahl.

Gischt.

Dunkles Grun.

Nichts mehr.

50 Meter tiefer stabilisierte der Bordcomputer den zylindrischen Leib des URA. Der Roboter tarierte sich aus und folgte dem Wal, der ihm am nachsten war. In einiger Entfernung, nur schattenhaft erkennbar im Zwielicht, waren weitere Tiere zu sehen. Das elektronische Auge des URA registrierte all dies, ohne dass der Computer den optischen Eindrucken furs Erste Bedeutung beima?.

Andere Funktionen traten in Kraft.

Trotz hervorragender optischer Sensorik lag die wahre Starke des URA in der akustischen Erfassung. Hier hatte sein Schopfer wahres Genie offenbart. Die akustischen Systeme ermoglichten es dem Roboter, den Meeressaugern uber einen Zeitraum von zehn bis zwolf Stunden zu folgen, ohne sie zu verlieren, wohin sie sich auch wendeten.

Er folgte ihren Gesangen.

Die vier Hydrophone des URA, hochsensible Unterwassermikrofone, erfassten in diesen Augenblicken nicht nur jeden Laut, den die Tiere von sich gaben, sondern auch deren Quellkoordinaten. Sie waren rund um den Leib des Roboters angeordnet. Als einer der Wale einen hohen, feinen Ton ausstie?, empfingen sie das Gerausch nacheinander statt gleichzeitig. Kein menschliches Ohr hatte die winzigen Zeitverzogerungen und damit verbundenen Abschwachungen registrieren konnen, nur ein Computer war dazu in der Lage. So traf der Schall als Erstes und am lautesten auf das Hydrophon, das der Quelle am nachsten lag, und dann der Reihe nach auf die drei anderen.