Na, was schon, sagte jemand neben ihm.

Er wandte den Kopf und erblickte die zierliche Gestalt Samantha Crowes, der SETI-Forscherin.

Du bist ziemlich ungeubt im Reden, sagte sie. Alles andere kannst du besser. Offen gestanden, es klingt schrecklich!

Tut mir Leid, stammelte Anawak.

So? Na ja. Vielleicht solltest du anfangen zu uben. Ich habe meine Au?erirdischen gefunden. Wei?t du noch? Wir haben endlich Kontakt aufnehmen konnen. Ist das nicht gro?artig?

Anawak erzitterte. Er fand es keineswegs gro?artig, vielmehr verspurte er klamme Angst vor Crowes Au?erirdischen, ohne zu wissen, warum.

Und … wer sind sie? Was sind sie?

Die SETI-Forscherin deutete hinaus auf das schwarze Wasser jenseits des Eisrandes.

Sie sind dort drau?en, sagte sie. Ich denke, sie wurden sich freuen, dich kennen zu lernen, sie lieben es namlich, Kontakt aufzunehmen, aber dafur musstest du dich zu ihnen hinbemuhen.

Ich kann nicht, sagte Anawak.

Du kannst nicht? Crowe schuttelte verstandnislos den Kopf. Warum kannst du nicht?

Anawak starrte auf die dunklen, gewaltigen Rucken, die das Wasser durchpflugten. Es waren Dutzende, Hunderte. Ihm war klar, dass sie nur seinetwegen dort waren, und er wusste plotzlich, dass sie sich von seiner Angst nahrten.

Sie fra?en Angst.

Ich … kann einfach nicht.

Du musst doch nur losgehen, Feigling!, spottete Crowe. Das ist doch nun wirklich das Einfachste von der Welt, Du hast es viel einfacher als wir, wir mussten den ganzen verdammten Weltraum abhorchen.

Anawak zitterte noch starker. Er trat bis dicht an den Rand und schaute hinaus. Am Horizont, wo die schwarze See den sternubersaten Himmel in sich aufnahm, erstrahlte ein fernes Leuchten.

Geh einfach, sagte Crowe.

Ich bin geflogen, dachte Anawak. Durch einen dunkelgrunen Ozean, der voller Leben war, und ich hatte nicht die geringste Angst. Was soll passieren? Das Wasser wird wie fester Boden sein, ich werde in dieses Licht gelangen, getragen von meinem Willen. Sam hat Recht. Es ist ganz einfach. Es gibt nichts, wovor man sich furchten musste.

Vor seinen Augen tauchte eines der Riesentiere ab, und eine kolossale, zweizipfelige Fluke reckte sich den Sternen entgegen.

Nichts, wovor ich mich furchten musste.

Aber er hatte zu lange gezogert, und der Anblick der Fluke hatte ihn verunsichert. Weder trug ihn sein Wille noch die Macht des Traumes, Naturgesetze au?er Kraft zu setzen. Als er endlich einen Schritt nach vorn machte, versank er augenblicklich in der Eiseskalte der See. Sie schlug uber seinem Kopf zusammen, und alles war nur noch schwarz. Er wollte schreien und schluckte Wasser. Es drang schmerzhaft in seine Lungen. Unerbittlich zog es ihn nach unten, wie sehr er auch um sich schlug. Sein Herz pochte wie wild, in seinen Schlafen pochte es, ein Drohnen wie von Hammerschlagen …

Anawak fuhr hoch und knallte mit dem Kopf gegen die Bohlen. »Verdammt«, stohnte er.

Wieder das Pochen. Keine Spur von Drohnen. Eher ein gema?igtes Pochen, Fingerknochel auf Holz. Er rollte sich auf die Seite und sah Alicia Delaware, die leicht gebuckt in seine Koje spahte.

»‘tschuldige«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass du gleich hochgehst wie eine Rakete.«

Anawak starrte sie an. Delaware?

Ach ja. Langsam setzte sich die Erinnerung daran zusammen, wo er war. Er hielt sich den Schadel, gab ein gepeinigtes Grunzen von sich und lie? sich zuruckfallen.

»Wie viel Uhr ist es?«

»Halb zehn.«

»Mist.«

»Du siehst furchtbar aus. Hast du schlecht getraumt?«

»Irgendeinen Kase.«

»Ich kann Kaffee machen.«

»Kaffee? Ja, gute Idee.« Seine Finger betasteten die Stelle, an der er sich den Schadel gerammt hatte, und zuckten zuruck. Das wurde eine ansehnliche Beule geben. »Wo ist der blode Wecker? Ich wei? genau, dass ich ihn gestellt habe. Auf sieben.«

»Du hast ihn uberhort. Kein Wunder, nach allem, was passiert ist.« Delaware ging hinuber zu der kleinen Kuchenzeile und sah sich prufend um. »Wo ist …«

»Hangeschrank, linke Seite. Kaffee, Filter, Milch und Zucker.«

»Hast du Hunger? Ich kann prima Fruhstuck …«

»Nein.«

Sie zuckte die Achseln und fullte Wasser in die Kanne der Kaffeemaschine. Anawak sah ihr einige Sekunden zu, dann stemmte er sich aus der Koje.

»Dreh dich um. Ich muss mir was anziehen.«

»Mach nicht so ein Theater. Ich guck dir schon nichts weg.«

Er verzog das Gesicht, wahrend er Ausschau nach seinen Jeans hielt. Sie lagen zusammengeknullt auf der Sitzbank, die sich um den Kajuttisch bog. Das Anziehen erwies sich als schwierig. Ihm war schwindelig, und sein verletztes Bein schmerzte, als er versuchte, es anzuwinkeln.

»Hat John angerufen?«, fragte er.

»Ja. Vorhin.«

»So eine Schei?e.«

»Was?«

»Jeder Tattergreis kommt schneller in die Hose. — Zum Teufel, warum habe ich den Wecker uberhort? Ich wollte unbedingt …«

»Wei?t du was? Du bist bescheuert, Leon. Echt bescheuert! Vor zwei Tagen hast du einen Flugzeugabsturz uberlebt. Du hast ein dickes Knie, und bei mir ist das Gehirn ein bisschen verrutscht, na und? Wir hatten irrsinniges Gluck. Wir konnten tot sein wie Danny und der Pilot, stattdessen leben wir. Und du maulst rum wegen deinem beschissenen Wecker und weil du gerade mal nicht das Rad schlagen kannst. — Fertig?«

Anawak lie? sich auf die Sitzbank sinken. »Ist ja gut. Was sagt John?«

»Er hat alle Daten beisammen. Und er hat sich das Video angesehen.«

»Na toll. Und?«

»Nichts und. Du sollst dir deine eigene Meinung bilden.«

»Das ist alles?«

Delaware fullte den Filter mit Kaffeepulver, setzte ihn auf die Kanne und stellte die Maschine an. Nach wenigen Sekunden erfullte leises Schmatzen und Rocheln den Raum.

»Ich habe ihm gesagt, dass du noch schlafst«, sagte sie. »Er meinte, ich soll dich nicht wecken.«

»Warum denn das?«

»Er sagt, du musst gesund werden. Womit er Recht hat.«

»Ich bin gesund«, erwiderte Anawak trotzig.

Tatsachlich war er sich dessen nicht wirklich sicher. Als die DHC-2 mit dem springenden Grauwal kollidiert war, hatte es der Maschine die rechte Tragflache abgerissen. Danny, der Armbrustschutze, war vermutlich auf der Stelle tot gewesen — die Whistler hatte seine Leiche nicht gefunden, aber es konnte keinen Zweifel daran geben. Er war nicht rechtzeitig ins Innere gelangt, mit der Folge, dass die Seitentur des Flugzeugs beim Absturz offen gestanden hatte. Nur diesem Umstand verdankte es sich, dass Anawak uberhaupt noch lebte. Beim Aufprall war er hinausgeschleudert worden. Danach konnte er sich an nichts mehr erinnern, auch nicht, was die uble Zerrung in seinem Knie verursacht hatte. Erst an Bord der Whistler war er wieder zu sich gekommen, ins Bewusstsein gerufen durch den pochenden Schmerz.

Als Nachstes hatte er Delaware dort liegen sehen, und der Schmerz verlor jegliche Bedeutung. Sie sah aus wie tot. Bevor sein Entsetzen uberhand nahm, hatte man ihn aufgeklart, dass sie nicht tot sei, sondern noch gro?eres Gluck gehabt habe als er. Der Korper des Piloten hatte sie abgefedert. Halb ohnmachtig war es ihr gelungen, sich aus dem sinkenden Wrack zu befreien. Innerhalb einer Minute war die kleine Maschine voll gelaufen. Die Besatzung der Whistler hatte Anawak und Delaware aus dem Wasser fischen konnen, aber der ungluckliche Pilot war mit seiner DHC-2 in der Tiefe verschwunden.

Bei aller Tragik lie? sich die Aktion dennoch als Erfolg verbuchen. Danny hatte den Sender platziert. Der URA war den Walen gefolgt und hatte 24 Stunden Film auf Magnetband bannen konnen, ohne dass die Tiere den Roboter angegriffen hatten. Anawak wusste, dass die Aufzeichnungen in den fruhen Morgenstunden an John Ford geschickt worden waren, und er hatte sich fest vorgenommen, dann im Aquarium zu sein. Au?erdem hatte das Centre National d’Etudes Spatiales die bislang eingetroffenen telemetrischen Daten des Fahrtenschreibers freigegeben, den Lucy auf dem Rucken trug. Ohne den Absturz hatten sie allen Grund gehabt, sich auf die Schulter zu klopfen.