Stattdessen wurde alles nur schrecklicher. Immer mehr Menschen starben. Er selber war zweimal knapp dem Tod entgangen. Vielleicht, weil seine Wut auf Greywolf jedes andere Empfinden ausbrannte, hatte er Stringers Tod erstaunlich schnell verkraftet. Jetzt, zwei Tage nach dem Absturz, fuhlte er sich elend. Wie befallen von einer Krankheit, die nach Jahren der Unterdruckung ihr Recht beanspruchte, auszubrechen. Sie ging einher mit Unsicherheit, Selbstzweifel und einem beunruhigenden Mangel an Kraft. Moglicherweise hielt ihn nach wie vor der Schock gefangen, aber eigentlich glaubte Anawak nicht recht daran. Da war noch etwas anderes. Ein Schwindel, der ihn von Zeit zu Zeit uberkam, seit er aus dem Flugzeugwrack geschleudert worden war, Schmerzen in der Brust und Anfluge von Panik.

Nein, er war nicht wirklich gesund, und die Zerrung in seinem Knie war nicht das eigentliche Problem.

Anawak fuhlte sich im Innersten versehrt.

Den Tag zuvor hatte er weitgehend verschlafen. Davie, Shoemaker und die Skipper waren ihn besuchen gekommen. Ford hatte mehrfach angerufen und sich nach ihm erkundigt. Ansonsten zeigte sich niemand sonderlich um ihn besorgt. Wahrend Alicia Delaware von ihren Eltern und einem Haufen Bekannter gedrangt wurde, Vancouver Island zu verlassen — unvermittelt tauchte sogar ein fester Freund auf und machte eine zweijahrige Beziehung geltend —, erschopfte sich die Anteilnahme an Anawaks Schicksal auf den Kollegenkreis.

Er war krank und wusste, dass kein Arzt ihm wurde helfen konnen.

Delaware stellte einen Becher frisch gebruhten Kaffee vor ihn hin und musterte ihn durch ihre blauen Brillenglaser. Anawak schlurfte, verbrannte sich die Zunge und verlangte nach dem Funktelefon. »Kann ich dich mal was Personliches fragen, Leon?«, sagte sie.

Er hielt inne und schuttelte den Kopf. »Spater.«

»Wann ist spater?«

Anawak zuckte die Achseln und wahlte Fords Nummer.

»Wir sind noch nicht durch mit den Sichtungen«, sagte der Direktor. »Lass dir Zeit und ruh dich aus.«

»Du hast Licia gesagt, ich soll mir selber eine Meinung bilden.«

»Ja, nachdem wir alles gesichtet haben. Das meiste ist langweilig. Bevor du extra herkommst deswegen, schauen wir lieber noch den Rest durch. Vielleicht kannst du dir den Weg dann sparen.«

»Na schon. Wann seid ihr fertig?«

»Keine Ahnung. Wir sitzen zu viert an den Bandern. Gib uns zwei Stunden. Nein, drei. Am besten, ich lasse dich am fruhen Nachmittag ruberfliegen. Schick, was? Das ist wiederum der Vorteil von Krisenstaben. Man hat immer einen Hubschrauber parat.« Ford lachte. »Nicht, dass wir uns noch dran gewohnen.« Er machte eine Pause. »Dafur hab ich was anderes fur dich. Das hei?t, mir fehlt im Augenblick die Zeit, es zu erzahlen, aber besser ware ohnehin, wenn du Rod Palm dazu anrufst.«

»Palm? Wozu?«

»Er hat vor einer Stunde mit Nanaimo und dem Institut fur Ozeanische Wissenschaften konferiert. Du kannst auch mit Sue Oliviera sprechen, aber ich dachte, Palm sitzt direkt vor deiner Haustur.«

»Verdammt, John! Warum ruft mich keiner an, wenn es was zu erzahlen gibt?«

»Ich wollte warten, bis du ausgeschlafen hast.«

Anawak beendete murrisch das Gesprach und rief Palm an. Der Leiter der Forschungsstation auf Strawberry Isle war sofort am Telefon.

»Ah!«, rief er. »Ford hat mit dir gesprochen.«

»Ja. Hat er. Angeblich seid ihr auf irgendwas Weltbewegendes gesto?en. Warum hast du mich nicht angerufen?« »Jeder wei?, dass du deine Ruhe brauchst.« »Ach, Quatsch.« »Doch, doch. Ich wollte warten, bis du ausgeschlafen hast.« »Das hore ich jetzt innerhalb einer Minute zum zweiten Mal. Nein, zum dritten Mal, wenn man Licias permanente Sorge dazunimmt. Es geht mir gut, verdammt nochmal.« »Warum kommst du nicht auf einen Sprung ruber?«, schlug Palm vor. »Mit dem Boot?« »Die paar hundert Meter, ich bitte dich. In der Bucht ist au?erdem noch nichts passiert.« »Gut, ich kann in zehn Minuten druben sein.« »Prima. Bis gleich.« Delaware sah ihn uber den Rand ihres Kaffeebechers hinweg an und runzelte die Brauen. »Was Neues?« »Alle Welt behandelt mich wie einen Pflegefall«, schimpfte Anawak. »Das meine ich nicht.« Er stand auf, zog die Schublade unter seiner Koje auf und kramte nach einem frischen Hemd. »Sie haben offenbar irgendwas entdeckt in Nanaimo«, brummte er. »Und was?«, wollte Delaware wissen. »Wei? ich nicht.«

»Ah ja.«

»Ich fahre ruber zu Rod Palm.« Er zogerte, dann sagte er: »Kannst ja mitkommen, wenn du Lust und Zeit hast.

Okay?«

»Du willst mich dabeihaben? Welche Ehre.«

»Sei nicht blode.«

»Bin ich nicht.« Sie krauste die Nase. Die Kanten ihrer Schneidezahne ruhten auf der Unterlippe. Wieder dachte Anawak, dass man dringend etwas an diesen Zahnen machen musste. Standig fuhlte er sich versucht, nach Mohrruben Ausschau zu halten. »Du hast eine Schei?laune seit zwei Tagen, dass man kaum ein manierliches Gesprach mit dir fuhren kann.«

»Hattest du auch, wenn du …« Er brach ab.

Delaware sah ihn an. »Ich habe mit im Flugzeug gesessen«, sagte sie ruhig. »Tut mir Leid.« »Ich bin vor Angst fast gestorben. Jeder andere ware sofort heim zu Mama gefahren. Aber du hast deine Assistentin verloren, also fahre ich nicht zu Mama, sondern bleibe an deiner Seite, du damlicher Muffel. Was wolltest du mir gerade erzahlen?«

Anawak betastete erneut die Beule auf seinem Schadel. Sie schmerzte und wurde dicker. Auch sein Knie schmerzte. »Nichts. Hast du dich abgeregt?«

Sie hob die Brauen. »Ich rege mich gar nicht erst auf.«

»Gut. Dann komm.«

»Ich wurde dich trotzdem gerne was Personliches fragen.« »Nein.«

Mit der Devilfish zu der kleinen Insel hinauszufahren, hatte etwas Unwirkliches. Fast, als hatte es die Angriffe der letzten Wochen nicht gegeben. Strawberry Island war wenig mehr als ein Hugel mit Tannenbewuchs, den man in funf Minuten zu Fu? umrunden konnte. Heute lag das Wasser spiegelglatt da. Kein Wind blies. Eine fiebrige Sonne verstrahlte wei?es Licht. Jeden Augenblick erwartete Anawak eine Fluke oder einen schwarzen Rucken mit hoher Finne auftauchen zu sehen, aber seit dem Beginn der Attacken hatten sich nur zweimal Orcas vor Tofino blicken lassen. Es waren Residents gewesen, die keinerlei Anzeichen von Aggressivitat an den Tag legten. Offenbar bewahrheitete sich Anawaks Theorie, wonach nur wandernde Wale von der merkwurdigen Verhaltensanderung betroffen waren.

Fragte sich, wie lange noch.

Das Zodiac legte am Landungspier der Insel an. Palms Station lag direkt gegenuber. Sie war in einem alten, gestrandeten Segelschiff untergebracht, der ersten British Columbia Ferry, die sich jetzt malerisch am Ufer breit machte, gestutzt auf abgestorbene Baume und umgeben von Treibholz und verrosteten Ankern. Sie diente Palm als Buro und Zuhause, das er zusammen mit zwei Kindern bewohnte.

Anawak muhte sich verbissen, nicht zu humpeln. Delaware schwieg. Offenbar war sie sauer auf ihn.

Wenig spater sa?en sie zu dritt auf dem Vorschiff um einen kleinen, geflochtenen Tisch aus Birkenrinde. Delaware nuckelte an einer Cola. Sie sahen hinuber auf die Stelzenhauser des Orts. Obwohl Strawberry Island nur wenige hundert Meter von Tofino entfernt lag, war es hier viel stiller. Kaum drangen Gerausche heruber. Dafur bekam man alles Mogliche zu horen, was die Natur an Lauten hervorbrachte.

»Was macht dein Knie?«, fragte Palm mitfuhlend. Er war ein zuvorkommender Mann mit flockigem wei?em Bart und Stirnglatze, der mit einer Pfeife im Mund auf die Welt gekommen zu sein schien.

»Reden wir nicht davon.« Anawak reckte die Arme und versuchte das Wummern in seinem Schadel zu ignorieren. »Sag mir lieber, was ihr rausgefunden habt.«

»Leon hat’s nicht gerne, wenn man sich nach seinem Wohlbefinden erkundigt«, bemerkte Delaware spitz.

Anawak knurrte etwas Unverstandliches. Sie hatte naturlich Recht. Seine Laune fiel wie ein Barometer bei Sturm.