Palm rausperte sich. »Ich habe mich langere Zeit mit Ray Fenwick und Sue Oliviera unterhalten«, sagte er. »Seit der offentlichen Obduktion von J-19 stehen wir in regem Kontakt. Aber nicht nur deswegen. Am Tag eurer Bruchlandung ist wieder ein Wal angeschwemmt worden. Ein Grauwal, den ich nicht kannte. Er ist nirgendwo verzeichnet. Fenwick hatte keine Zeit herzukommen, also habe ich das Tier selber mit einigen Leuten auseinander gesabelt, um Nanaimo die ublichen Proben fur die Analyse zu schicken. Eine Schei?arbeit, sage ich dir. Irgendwann stand ich aufrecht im Brustkorb, nachdem wir das Herz freigelegt hatten, und rutschte darin aus. Blut und Schleim liefen mir in die Stiefel, es tropfte von oben, wir haben ausgesehen wie Zombies bei der Mahlzeit. So viel zur romantischen Seite des Unterfangens. Naturlich haben wir auch Teile des Hirns entnommen.«

Die Vorstellung, dass wieder ein Wal verendet war, erfullte Anawak mit bohrender Trauer. Er schaffte es einfach nicht, die Tiere fur ihre Taten zu hassen. Fur ihn blieben sie, was sie immer gewesen waren — wunderbare Geschopfe, die es zu verteidigen und zu schutzen galt.

»Woran ist er gestorben?«, fragte er.

Palm breitete die Hande aus. »Ich wurde sagen, an einer Infektion. Dasselbe hat Fenwick auch bei Dschinghis diagnostiziert. Das Komische ist nur, dass wir etwas bei den Tieren gefunden haben, das da unter keinen Umstanden hingehort.« Er zeigte auf seine Schlafe und lie? seinen Zeigefinger kreisen. »Fenwick hat eine Art Gerinnsel im Hirn entdeckt. Am Hirnstamm, um genau zu sein. Mit Auslaufern, die sich zwischen Hirnmasse und Schadeldecke verteilen.«

Anawak horchte auf. »Blutgerinnsel? Bei beiden Tieren?«

»Blut nicht, obwohl wir das anfangs dachten. Fenwick und Oliviera finden namlich Geschmack an der Theorie, wonach Larm fur die Anomalien verantwortlich ist. Sie wollten nicht daruber reden, solange keine weiteren Indizien vorliegen, aber Fenwick hatte sich zeitweise regelrecht festgebissen an den Folgen dieser Sonarversuche …«

»Surtass LFA?«

»Genau.«

»Vergiss es. Im Leben nicht.«

»Darf man erfahren, wovon ihr redet?«, hakte sich Delaware ein.

»Die amerikanische Regierung hat der Navy vor ein paar Jahren eine Extrawurst gebraten«, erklarte Palm. »Sie hat ihr die Genehmigung fur den Einsatz eines Niederfrequenz-Sonars zur Ortung von U-Booten erteilt. Es hei?t Surtass LFA und wird flei?ig erprobt.«

»Wirklich?«, entsetzte sich Delaware. »Ich denke, die Navy ist an das Abkommen zum Schutz der Meeressauger gebunden.«

»Alle moglichen Leute sind an alle moglichen Abkommen gebunden«, sagte Anawak mit dunnem Lacheln.

»Und es gibt alle moglichen Hinterturen. Die Vereinigten Staaten konnen der Versuchung offenbar nicht widerstehen, 80 Prozent der Weltmeere zu uberwachen, und das ist mit Surtass LFA halt moglich. Also hat der amerikanische Prasident die Navy flugs von jeglichen Abkommen entbunden, weil das neue System schon 300 Millionen Dollar gekostet hat und die Verantwortlichen schworen, damit keinem Wal was zuleide zu tun.«

»Aber Sonar ist schadlich fur Wale. Das wei? jeder Idiot.«

»Es ist leider nicht hinreichend bewiesen«, sagte Palm. »Die Vergangenheit zeigt, dass Wale und Delphine au?erst sensibel auf Sonar reagieren, aber welchen Einfluss das auf Beutejagd, Fortpflanzung und Wanderungen hat, lasst sich nicht eindeutig sagen.«

»Lacherlich«, schnaubte Anawak. »Ab 180 Dezibel rei?en bei einem Wal die Trommelfelle. Jeder einzelne Unterwasserlautsprecher des neuen Systems verursacht aber einen Larm von 215 Dezibel. Die Gesamtsignalstarke liegt sogar noch hoher.«

Delaware sah von einem zum anderen. »Und … was passiert mit den Tieren?«

»Das ist es eben, weshalb Fenwick und Oliviera auf die Larmtheorie kamen«, sagte Palm. »Schon vor Jahren haben Sonarversuche der Navy Delphine und Wale in verschiedenen Teilen der Welt stranden lassen. Mehrere Wale starben. Alle wiesen starke Blutungen im Gehirn und an den Knochelchen im Innenohr auf — Verletzungen, wie sie typisch sind fur den Einfluss starken Larms. Umweltschutzer konnten jedes Mal nachweisen, dass im unmittelbaren Bereich der Todesfalle NATO-Ubungen stattgefunden hatten, aber leg dich mal mit der Navy an!«

»Die bestreiten es?«

»Die Navy hat jahrelang jeden Zusammenhang bestritten. Inzwischen musste sie einraumen, zumindest in einigen Fallen die Verantwortung zu tragen. Der Punkt ist, dass wir immer noch zu wenig wissen. Wir kennen nur die Schadigungen bei toten Walen, und jeder entwickelt seine Theorie. Fenwick glaubt beispielsweise, unterseeischer Larm konne auch zu kollektivem Wahnsinn fuhren.«

»Unsinn«, knurrte Anawak. »Larm raubt den Tieren die Orientierung. Sie greifen keine Schiffe an, sondern stranden.«

»Ich finde Fenwicks Theorie erwagenswert«, sagte Delaware.

»Ach ja?«

»Warum denn nicht? Die Tiere drehen durch. Erst einige, dann nach Art einer Massenpsychose immer mehr.«

»Licia, red keinen Mist! Wir wissen von Schnabelwalen, die vor den Kanaren strandeten, nachdem die NATO dort ihr Pow Wow durchfuhrte. Kaum ein Tier reagiert auf Larm so empfindlich wie ein Schnabelwal. Klar sind sie durchgedreht. Vor lauter Panik wussten sie sich nicht anders zu helfen, als ihr angestammtes Element zu verlassen, und schon lagen sie am Strand. Wale fliehen vor Larm.«

»Oder greifen den Urheber an«, hielt ihm Delaware trotzig entgegen.

»Welchen Urheber? Schlauchboote mit Au?enbordern? Wo bitte schon sind die denn laut?«

»Dann hat’s eben anderen Larm gegeben. Unterwassersprengungen.«

»Nicht hier.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich wei? es eben.«

»Hauptsache, du hast Recht.«

»Das sagst gerade du!«

»Au?erdem hat es Strandungen schon vor Jahrhunderten gegeben. Auch vor British Columbia. Es gibt alte Uberlieferungen, die …«

»Wei? ich. Jeder wei? das.«

»Und? Hatten die Indianer auch Sonar?«

»Was um alles in der Welt hat das mit unserem Thema zu tun?«

»Eine Menge. Walstrandungen lassen sich unreflektiert vor den ideologischen Karren spannen und …«

»Ich bin also unreflektiert?«

Delaware blitzte ihn zornig an. »Alles, was ich sagen will, ist, dass Massenstrandungen nicht notwendigerweise etwas mit kunstlich erzeugtem Larm zu tun haben mussen. Umgekehrt kann Larm vielleicht auch zu etwas anderem fuhren als zu Strandungen.«

»He!« Palm hob die Hande. »Ihr streitet euch umsonst. Fenwick findet seine Larmtheorie mittlerweile selber etwas lochrig. Okay, er hangt am kollektiven Wahnsinn, aber … hort ihr mir uberhaupt zu?«

Sie sahen ihn an.

»Also«, fuhr Palm fort, nachdem er sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit versichert hatte. »Fenwick und Oliviera fanden diese Gerinnsel und schlossen auf eine Deformation durch au?ere Einwirkungen. Oberflachlich sahen sie aus wie Blutungen, also hielten sie sie auch dafur. Dann isolierten sie das Zeug und unterzogen es dem ublichen Procedere, wobei sie feststellten, dass die Substanz nur vom Blut der Wale durchtrankt war. Das Zeug selber ist eine farblose Masse, die sich an der Luft rasch zersetzt. Der Gro?teil war nicht mehr zu gebrauchen.« Palm beugte sich vor. »Aber einiges konnten sie doch untersuchen. Die Resultate decken sich mit den Ergebnissen einer Probenuntersuchung, die wenige Wochen zuruckliegt. Sie hatten die Substanz aus den Kopfen der Wale schon einmal gesehen. In Nanaimo.«

Anawak schwieg eine Sekunde.

»Und was ist es?«, fragte er heiser.

»Dasselbe, was du zwischen den Muscheln am Rumpf der Barrier Queen gefunden hast.«

»Das Zeug aus den Walgehirnen und vom Schiffsrumpf …«

»Ist identisch. Die gleiche Substanz. Organische Materie.«

»Ein Fremdorganismus«, murmelte Anawak.

»Irgendetwas Fremdes. Ja.«

Anawak fuhlte sich ausgelaugt, obwohl er nur wenige Stunden auf den Beinen war. Er fuhr mit Delaware zuruck nach Tofino. Das Knie behinderte ihn, als sie die Holzstiege vom Anlegeplatz zum Pier emporstiegen. Es behinderte sein Handeln und sein Denken. Er fuhlte sich hilflos, deprimiert und allem Unangenehmen ausgeliefert.