Aquarium, Vancouver

Wahrend Anawak den Worten des taayii hawil lauschte, sah John Ford doppelt.

Er hatte zwei Monitore gleichzeitig zu kontrollieren, und das nun schon seit Stunden. Der eine zeigte die Magnetbandaufnahmen der Kamera, mit denen der LIRA Lucy und die anderen Grauwale gefilmt hatte, der andere einen virtuellen Raum, ein Koordinatengefuge aus Linien, in dem ein Dutzend gruner Lichter hingen wie hineingeworfen. Sie wiesen das Rudel aus und veranderten stetig ihre Position. Ziemlich schnell nach seiner Wasserung hatte der Roboter einen Abgleich von Lucys Flukenmuster mit ihren spezifischen Lauten hergestellt, sodass er das Tier alleine dadurch lokalisieren und seine Position bestimmen konnte, die nun als Punkt im Koordinatenraum erschien. Auf diese Weise hatte er Lucy selbst in tiefer Finsternis nicht verlieren konnen.

Uber den zweiten Monitor liefen die Daten der Sonde, die immer noch im Walspeck steckte: Herzfrequenzen, Tauchtiefen, Positionsdaten, Temperaturerfassung, Druck— und Lichtmessung. Sonde und URA zusammen lieferten ein recht komplettes Bild dessen, was Lucy im Verlauf von 24 Stunden widerfahren war. 24 Stunden im Dasein eines verruckt gewordenen Wals.

Das Beobachtungslabor bot vier Leuten Platz zur Datenauswertung. Ford und zwei Helfer sa?en im Dammerlicht, die Gesichter beschienen von den Monitoren. Der vierte Platz war leer. Ein harmloser Magen— und Darmvirus hatte das Team reduziert und ihnen eine Nachtschicht eingebrockt.

Ford langte neben sich, ohne den Blick von den Monitoren zu nehmen, griff in eine Pappschachtel und schob eine Hand voll kalt gewordener Pommes frites in seinen Mund.

Einen verruckten Eindruck machte Lucy eigentlich nicht.

In den vergangenen Stunden hatte sie vorwiegend das getan, was die Weidetiere der Ozeane nun mal taten. Sie hatte gefressen, in Gesellschaft eines halben Dutzends erwachsener Artgenossen und zweier heranwachsender Kalber. Jedes Mal war dabei eine Menge Schlamm aufgewirbelt worden, wenn Lucy zwischen Vorhangen aus Seetang auf Grund ging und den weichsandigen Schlick durchpflugte, um Wurmer und Flohkrebse herauszufiltern. Sie hatte sich auf die Seite gedreht und mit ihrem schmalen, bogenformigen Kopf regelrechte Ackerfurchen in den Boden gegraben. Anfangs hatte er fasziniert vor den Bildschirmen gesessen, obwohl es bei weitem nicht die ersten Aufnahmen waren, die er von fressenden Grauwalen sah. Dennoch lieferte der URA Bilder einer ganz neuen Qualitat, weil er den Walen folgte, als sei er Teil des Rudels. Vieles war deutlich zu erkennen. Einem Pottwal in die Fressgrunde zu folgen hatte gehei?en, sich in die finsterste Tiefsee zu begeben. Aber Grauwale liebten es flach. So erblickte Ford nun seit Stunden ein standiges Wechselspiel zwischen Helligkeit und Halbdammer. Einige Minuten dumpelte Lucy an der Oberflache, presste Schlamm durch ihre Barten, sog die Lungen voller Luft, stie? sie aus und sank auf Grund. Dabei kam sie dem Ufer so nahe, dass ein Gro?teil der Aufnahmen in nicht mal 30 Metern Tiefe zustande gekommen war.

Ford sah zu, wie die schartigen, marmorierten Korper durchs Sediment robbten, wie sich das Wasser trubte. Der Roboter hatte keinerlei Muhe, den Tieren zu folgen, weil sie eigentlich nirgendwohin schwammen. Sie anderten immer wieder die Richtung, ein paar Meter hierhin, eine kurze Strecke dorthin, aufwarts, abwarts, fressen, aufwarts, abwarts. Ford pflegte zu sagen, Vancouver Island sei die Autobahnraststatte der Wale, an der sie faul rumhingen, und eigentlich traf es das ganz gut.

Aufwarts, abwarts, fressen.

Irgendwann wurde es langweilig.

Einmal tauchten in der Ferne die schwarzwei?en Silhouetten einiger Orcas auf, aber sie waren schnell wieder verschwunden. Im Allgemeinen verliefen solche Begegnungen friedlich, obwohl Orcas zu den wenigen ernst zu nehmenden Feinden der Gro?wale gehorten. Nicht mal vor Blauwalen machten sie Halt. Wenn sie angriffen, dann zu mehreren und immer mit au?erster Brutalitat. Sie fra?en Zunge und Lippen der Opfer und lie?en sterbende, verstummelte Kolosse zuruck, die langsam dem Meeresboden entgegensanken.

Fressen, tauchen, aufsteigen.

Irgendwann schlief Lucy. Zumindest glaubte Ford, dass sie schlief. Gemeinsam mit seinen beiden Assistenten beobachtete er, wie es dunkler wurde, weil der Abend hereinbrach. Ein Schatten blieb, kaum auszumachen gegen den Hintergrund. Lucys Korper, der aufrecht im Wasser hing, langsam nach unten sank und ebenso langsam wieder stieg. Es gab eine ganze Reihe von Meeressaugern, die auf diese Weise ruhten. Alle paar Minuten kamen sie im Halbschlaf an die Oberflache, atmeten, sanken wieder hinab und schliefen. Bemerkenswerterweise schliefen die Tiere nie langer als funf bis sechs Minuten, schafften es jedoch, die kurzen Phasen zu einem erholsamen Schlaf aufzusummieren.

Schlie?lich wurde es schwarz auf den Monitoren. Nur noch der Koordinatenraum zeigte die Verteilung des Rudels an.

Nacht.

Nichts zu sehen und trotzdem hinschauen zu mussen, war besonders ode. Hin und wieder blitzte etwas auf, eine Qualle oder ein Tintenfisch. Ansonsten herrschte biblische Finsternis, wahrend weiterhin Daten uber den zweiten Monitor tickerten, Angaben uber Lucys Metabolismus und die physikalische Umgebung. Die grunen Punkte bewegten sich trage im virtuellen Raum. Es war keineswegs so, dass alle Tiere des Rudels uber Nacht schliefen. Wale ruhten zu unterschiedlichsten Zeiten. Der Datenmonitor wies Hohen— und Tiefenschwankungen auf, die zeigten, dass Lucy und die anderen auch jetzt ihr Tauch— und Fressverhalten einhielten. Je nach Tiefe schwankte die Temperatur um ein halbes Grad. Mehr tat sich nicht. Stetig schlug das Herz des Grauwals, mal langsamer, mal etwas schneller. Die Hydrophone des URA erfassten alle moglichen Unterwassergerausche, Rauschen und Blubbern, Orcarufe und Buckelwalgesange, Rohren und Knurren, das ferne Wummern eines Schiffspropellers. Nichts, was man nicht kannte.

So sa? Ford vor seinem schwarzen Monitor und gahnte, bis seine Kiefer knackten.

Er klaubte die letzten Pommes frites zusammen.

Seine gekrummten, fettigen Finger verharrten. Dann lie? er die Fritten wieder los und kniff die Augen zusammen.

Auf dem Datenschirm tat sich etwas.

Wahrend der ganzen Zeit hatte die Sonde Tiefen zwischen 0 und 30 Metern angezeigt. Jetzt wies sie 40, plotzlich 50 Meter aus. Lucy veranderte ihren Standort. Sie schwamm aufs offene Meer hinaus und ging dabei tiefer. Die anderen Wale folgten ihr zugig. Kein Herumhangen mehr. Das war Migrationsgeschwindigkeit!

Wo willst du denn so schnell hin, dachte Ford.

Lucys Herzschlag verlangsamte sich. Sie tauchte, und zwar rapide. Zu diesem Zeitpunkt enthielten ihre Lungen wohl nur noch zehn Prozent ihres Sauerstoffvorrats, vielleicht sogar weniger. Der Rest war in Blut und Muskeln gespeichert. Eine perfekte Vorratshaltung fur gro?e Tiefen.

Lucy unterschritt 100 Meter. Nicht lebenswichtige Korperbereiche hatte der Wal jetzt vom Kreislauf abgekoppelt. Blutdruckuberschusse wurden in einem Netz fein verknaulter, au?erst dehnbarer Adern verstaut, Muskel-und Stoffwechselvorgange ohne Sauerstoffverbrauch abgewickelt. Das Zusammenwirken einer Reihe erstaunlicher Prozesse hatte im Verlauf von Jahrmillionen dafur gesorgt, dass die ehemaligen Landbewohner problemlos uber hunderte und tausende Meter zwischen Oberflache und Tiefe pendeln konnten, wahrend die meisten Fische schon bei 100 Metern Schichtendifferenz in Lebensgefahr gerieten. Lucy sank weiter, 150 Meter, 200 Meter, und entfernte sich dabei konstant vom Festland. »Bill? Jackie?«, sagte Ford uber die Schulter zu den beiden Assistenten, ohne sich umzudrehen. »Kommt mal ruber und seht euch das an.« Die Assistenten versammelten sich um die beiden Monitore. »Sie geht runter.« »Ja, ziemlich schnell. Schon drei Kilometer vom Festland entfernt. Das ganze Rudel schwimmt ins offene Meer hinaus.« »Vielleicht wandern sie einfach weiter.« »Aber warum so tief?«