»Weil nachts das Plankton absinkt, war’s nicht so? Und der Krill. Die ganzen Leckereien verziehen sich nach unten.«
»Nein.« Ford schuttelte den Kopf. »Das macht fur andere Wale Sinn, aber nicht fur Bodenfresser. Sie haben keinen Grund …«
»Seht euch das an! 300 Meter.«
Ford lehnte sich zuruck. Grauwale waren nicht besonders schnell. Durchaus fahig zu einem kurzen Spurt, ansonsten mit zehn Stundenkilometern im oberen Bereich. Solange es keinen Grund zur Flucht gab oder sie auf Wanderschaft gingen, dumpelten sie trage dahin.
Was trieb die Tiere an?
Er war nun sicher, anomales Verhalten zu beobachten. Grauwale lebten fast ausschlie?lich von Bodentieren. Wenn sie wanderten, waren sie nie weiter als zwei Kilometer von der Kuste entfernt, meist weit naher dran. Ford wusste nicht, wie ihnen eine Tauchtiefe von 300 Metern bekommen wurde. Wahrscheinlich gut. Es war nur einfach ungewohnlich, dass sich die Grauen tiefer als 120 Meter wagten.
Sie starrten auf die Bildschirme.
Plotzlich erstrahlte etwas am unteren Rand des virtuellen Gitterwerks. Ein gruner Blitz, der kurz aufflammte und wieder erlosch.
Ein Spektrogramm! Die optische Darstellung von Schallwellen.
Dann noch einmal.
»Was ist das?«
»Gerausche! Ein ziemlich starkes Signal.«
Ford hielt die Aufzeichnung an und lie? das Programm zuruckfahren. Sie betrachteten die Sequenz ein zweites Mal.
»Es ist sogar ein enorm starkes Signal«, sagte er. »Wie von einer Sprengung.«
»Es gibt hier keine Sprengungen, und au?erdem wurden wir eine Sprengung horen. Das hier ist Infraschall.«
»Wei? ich auch. Ich sagte ja nur, wie von einer …«
»Da! Da ist es wieder!«
Die grunen Punkte im Koordinatenraum waren zum Stillstand gekommen. Der starke Ausschlag wiederholte sich ein drittes Mal, dann war er verschwunden. »Sie haben gestoppt.« »Wie tief sind sie?« »360 Meter.« »Unglaublich. Was machen die blo? da unten?«
Fords Blick wanderte hinuber zum linken Monitor mit der Videoaufzeichnung des URA. Zu dem schwarzen Monitor. Sein Mund offnete sich und wollte sich nicht mehr schlie?en.
»Seht euch das mal an«, flusterte er.
Der Monitor war nicht mehr schwarz.
Anawak empfand Franks Gesellschaft als hochst entspannend.
Sie schlenderten den Strand zum Wickaninnish Inn entlang. Eine Weile hatten sie uber das Umweltprojekt gesprochen, in dem Frank sich engagierte. Eigentlich war der taayii hawil Inhaber eines Restaurants, hineingeboren in eine Familie von Fischern. Aber die Tla-o-quiaht hatten eine Initiative ins Leben gerufen, um die Folgen des Kahlschlags zu mildern. Salmon Coming Home stand fur den Versuch, das komplexe Okosystem des Clayoquot Sound wieder auf seine Ursprunge zuruckzufuhren. Die Holzindustrie hatte gro?e Teile davon vernichtet. Niemand unter den Tla-o-qui-aht gab sich der Illusion hin, den verschwundenen Regenwald zuruckbringen zu konnen, aber es gab genug anderes zu tun. Dem Kahlschlag war es zuzuschreiben, dass Waldboden nun in der Sonne verdorrte und durch starke Regenfalle abgetragen wurde. Er wurde in Flusse und Seen gespult, die er zusammen mit Steinen und Resten gefallter Riesenbaume verstopfte, sodass die Lachse keinen Platz mehr zum Laichen fanden und allmahlich verschwanden, was wiederum anderen Tieren die Nahrungsgrundlage entzog. Im Restaurationscamp von Salmon Coming Home wurden darum Freiwillige ausgebildet, um Flusse zu saubern und stillgelegte Stra?en und Wege zu durchbrechen, die ihren Lauf blockierten. Entlang der Wasserlaufe errichtete man Schutzwalle aus organischem Abfall und bepflanzte sie mit schnell wachsenden Erlen. Langsam brachten die Aktivisten so etwas von dem zuruck, was einmal das Gleichgewicht zwischen Wald, Tier und Mensch ausgemacht hatte, mit unermudlicher Tatkraft und ohne Hoffnung auf einen schnellen Erfolg.
»Du wei?t, dass euch eine Menge Leute anfeinden, weil ihr wieder Wale jagen wollt«, sagte Anawak nach einer Weile.
»Und du?«, sagte Frank. »Was haltst du davon?«
»Es ist nicht sehr weise.«
Frank nickte versonnen. »Da hast du vielleicht Recht. Die Wale sind geschutzt, warum sollte man sie jagen. Es gibt auch unter uns viele, die gegen eine Wiederaufnahme des Walfangs sind. Wer wei? schon noch, wie man einen Wal fangt. Wer geht noch hin und unterwirft sich dem?uusimch, der spirituellen Vorbereitung? Andererseits haben wir seit beinahe hundert Jahren keinen Wal mehr gefangen, und wenn wir heute davon reden, sprechen wir von funf oder sechs Tieren. Das ist eine unbedeutende Quote. Wir sind wenige. Unsere Vorfahren haben von den Walen gelebt. Die Walfanger unterzogen sich monate— und jahrelangen Ritualen. Sie haben ihren Geist gereinigt, bevor sie auf Walfang gingen, um wurdig zu sein fur das Geschenk des Lebens, das der Wal ihnen machte. Sie haben auch nicht den erstbesten Wal harpuniert, sondern den, der fur sie und fur den sie bestimmt waren vermittels einer geheimnisvollen Kraft, einer Vision, in der Wal und Fanger einander erkannten. Verstehst du? Es ist diese Spiritualitat, die wir erhalten wollen.«
»Andererseits bringt ein Wal einen Haufen Geld«, sagte Anawak. »Der Fischerei-Manager der Makah hat den Wert eines Grauwals mit einer halben Million US-Dollar veranschlagt. Er hat unverblumt darauf hingewiesen, dass Fleisch und Ol in Ubersee hoch geschatzt wurden, und damit hat er naturlich Asien gemeint. Im selben Atemzug betont er die wirtschaftlichen Probleme der Makah und die hohe Arbeitslosigkeit. Das ist nicht sehr geschickt. Plump sogar. Von Spiritualitat keine Spur.«
»Auch richtig, Leon. Sieh es, wie du willst, ob die Makah nun aus ehrlicher Liebe zur Tradition oder aus Geldgier wieder jagen wollen — fest steht, dass sie ein verbrieftes Recht nicht wahrnahmen und in dieser Zeit die Wei?en die Bestande ausrotteten. Auch nicht gerade aus spirituellen Grunden, oder? Die Wei?en waren es, die damit angefangen haben, Leben als Ware zu betrachten. So haben wir nie gedacht. Und jetzt, nachdem sich alle bedient haben, wagt es einer von uns, uber Geld zu sprechen, und man fallt uber uns her, als wurde das Uberleben der Natur einzig von uns abhangen. Fallt dir nichts auf? Immer leben die Naturvolker wohl dosiert von etwas, das die Wei?en dann verschwenden. Haben sie es verschwendet, reiben sie sich die Augen und wollen es plotzlich schutzen. Also schutzen sie es vor denen, vor denen es nie geschutzt werden musste, und spielen sich auf. Nationen wie Japan und Norwegen sind schuld, wenn weiterhin Wale ausgerottet werden, aber sie durfen ungehindert hinausfahren und ihre Harpunen verschie?en. Wir trugen nie Schuld an der Ausrottung einer Art, aber bestraft werden nun wir. So ist es immer. So ist es auf der ganzen Welt.«
Anawak schwieg.
»Wir sind ein ratloses Volk«, sagte Frank. »Vieles hat sich verbessert. Und doch denke ich oft, dass wir in einem Konflikt gefangen sind, den wir kaum alleine werden meistern konnen. Hatte ich dir erzahlt, dass ich nach jedem Fischzug, nach jedem Geschaft, das ich erfolgreich abschlie?e, nach jedem Fest eine Kleinigkeit abzweige und dem Raben gebe, weil der Rabe immer hungrig ist?«
»Nein. Das hattest du nicht.«
»Wusstest du es?«
»Nein.«
»Der Rabe ist nicht mal die Hauptfigur der Mythen unserer Insel, da musst du hoher hinauf zu den Haida und Tlingit. Bei uns findest du eher die Geschichten von Kanekelak, dem Transformer. Aber auch der Rabe ist uns lieb. Die Tlingit sagen, er spricht fur die Armen, so wie es Jesus Christus tat. Also zweige ich ein Stuckchen Fleisch oder Fisch ab fur den nimmersatten Raben, der einst ein Sohn der Tiermenschen war und von seinem Vater Ashamed in die Rabenhaut gesteckt und Wigyet genannt wurde. Wigyet wurde in die Welt geschickt, nachdem er sein Dorf arm gefressen hatte. Er bekam einen Stein mit auf den Weg, damit er einen Platz habe, um sich auszuruhen, und aus dem Stein wurde das Land, auf dem wir leben. Er stahl durch einen Trick das Sonnenlicht und brachte es auf die Erde. Ich gebe dem Raben, was des Raben ist. Andererseits wei? ich, dass Raben das Resultat eines evolutionsgeschichtlichen Prozesses sind, an dessen Beginn Proteine, Aminosauren und einzellige Organismen standen. Ich liebe unsere Schopfungsmythen, aber ich sehe auch fern und lese und wei?, was ein Urknall ist. — Und auch die Christen wissen das und erzahlen dennoch in ihren Kirchen von den sieben Tagen der Schopfung und von den zehn Geboten. Aber sie konnten sich den Luxus eines langsamen Umdenkens leisten und uber Jahrhunderte einen Weg finden, Mythologie und moderne Wissenschaft harmonisch zu vereinen. Uns hingegen hat man dies innerhalb kurzester Zeit zugemutet. Wir sind in eine Welt geworfen worden, die nicht unsere war und niemals werden konnte. Nun kehren wir zuruck in unsere Welt und stellen fest, dass sie uns fremd geworden ist. Das ist der Fluch der Entwurzelung, Leon. Du bist am Ende nirgendwo mehr heimisch, nicht in der Fremde und nicht in der Heimat. Die Indianer sind entwurzelt worden. Die Wei?en tun mittlerweile ihr Bestes, alles wieder gutzumachen, aber wie sollen sie uns helfen, da sie sich selber entwurzelt haben? Sie zerstoren die Welt, die sie hervorgebracht hat. Auch sie haben ihre Heimat verspielt. Auf die eine oder andere Weise haben wir das alle.«