Nur eines hatten alle instinktiv begriffen: Die Wolke musste der Grund fur das absonderliche Verhalten der Wale sein.

All das brachten sie in dem Bericht zum Ausdruck, und der Bericht verschwand in einem Schwarzen Loch, so schwarz wie der Bildschirm nach Verloschen des blauen Lichts. Als Schwarzes Loch titulierten sie mittlerweile den staatlichen Krisenstab, der ganz nach Art Schwarzer Locher alles in sich hineinsog, ohne irgendetwas preiszugeben. Anfanglich hatte die kanadische Regierung den Schulterschluss mit den Forschern gesucht. Seit vor wenigen Tagen offiziell geworden war, dass die Krisenstabe Kanadas und der Vereinigten Staaten unter US-amerikanischer Leitung operierten, sah es eher so aus, als bediene man sich ihrer, um in den Besitz gewisser Resultate zu gelangen. Das Aquarium, das Institut in Nanaimo, selbst die Universitat in Vancouver waren zu Lieferanten degradiert worden, denen nichts mitgeteilt wurde, au?er dass sie forschen und ihre Erkenntnisse, Vermutungen und Ratlosigkeit in Berichten abfassen sollten. Weder John Ford oder Leon Anawak noch Rod Palm, Sue Oliviera oder Ray Fenwick erfuhren etwas uber die Auswertung des Inputs. Sie erfuhren nicht einmal, was der Krisenstab davon hielt. Das wichtigste Instrumentarium ihrer Forschung, der Abgleich mit den Erkenntnissen anderer staatlicher und militarischer Forschergruppen, blieb ihnen vorenthalten.

»Und das alles«, schimpfte Ford, »seit diese Judith Li das Ruder ubernommen hat. Leiterin der Krisenstabe. Keine Ahnung, was die leitet. Mir kommt es eher so vor, als ob sie uns alle in den Arsch tritt.«

Oliviera rief Anawak an. »Es ware wirklich hilfreich, wenn wir noch einige dieser Muscheln bekommen konnten.«

»Ich erreiche aber niemanden bei Inglewood«, sagte Anawak. »Sie reden nicht mit mir, und Li spricht offiziell von einem Fehler beim Andockmanover. Die Muscheln werden mit keinem Wort erwahnt.«

»Aber du warst doch unten. Wir brauchen mehr von dem Zeug. Und von dieser ominosen organischen Substanz. Wieso blockieren die uns? Ich dachte, wir sollen helfen!«

»Warum nimmst du nicht selber Kontakt zum Krisenstab auf?«

»Lauft alles uber Ford. Ich verstehe das nicht, Leon.

Wozu sind diese Stabe eigentlich gut?«

Wozu waren sie gut? Wozu war es gut, wenn die Vereinigten Staaten und Kanada einen gemeinsamen Stab bildeten, den General Commander Li dann vertrat? Der Grund lag auf der Hand: Beide hatten die gleichen Probleme zu losen, beide waren auf einen ubergeordneten Austausch von Erkenntnissen angewiesen, und beide hatten den Schleier der Geheimhaltung uber alles geworfen. Vielleicht musste es so sein. Vielleicht war es der Natur von Untersuchungskommissionen und Krisenstaben immanent, im Verborgenen zu arbeiten. Wann hatte eine Untersuchungskommission je vergleichbare Aufgaben zu losen gehabt? Die standigen Mitglieder solcher Stabe mussten sich mit Terrorismus herumzuschlagen, mit Flugzeugkatastrophen und Geiselnahmen, mit politischen und militarischen Krisen, mit Umsturzen. — Geheimsache, was sonst! Ein Krisenstab trat au?erdem in Aktion, wenn es Probleme in einem Atomkraftwerk gab oder mit einem Staudamm, wenn die Walder brannten oder die Gewasser uber die Ufer traten, wenn die Erde bebte und Vulkane ausbrachen und Hungersnote herrschten. Auch Geheimsache? Vielleicht, aber wozu?

»Die Ursachen von Vulkanausbruchen und Erdbeben sind bekannt«, sagte Shoemaker, als Leon seinem Arger an diesem Morgen Luft machte. »Du kannst die Erde furchten, aber du brauchst ihr nicht zu misstrauen. Sie heckt keine Schweinereien aus und versucht dich nicht zu beschei?en. Das tut nur der Mensch.«

Sie fruhstuckten zu dritt auf Leons Schiff. Die Sonne lugte zwischen wei?er Hochbewolkung hervor, und es war angenehm mild. Von den Bergen blies ein leichter Wind kustenwarts. Es hatte ein schoner Tag sein konnen, nur dass keiner mehr einen Sinn fur schone Tage hatte. Lediglich Delaware entwickelte ungeachtet aller Misslichkeiten einen gesunden Appetit und schaufelte Unmengen Ruhrei in sich hinein.

»Habt ihr von dem Gastanker gehort?«

»Der vor Japan in die Luft geflogen ist?« Shoemaker schlurfte seinen Kaffee. »Schnee von gestern. Kam in den Nachrichten.«

Delaware schuttelte den Kopf. »Den meine ich nicht. Gestern ist wieder einer abgesoffen. Abgefackelt im Hafen von Bangkok.«

»Kennt man den Grund?«

»Nein. Komisch, was?«

»Vielleicht war’s einfach technisches Versagen«, meinte Anawak. »Man muss nicht uberall Gespenster sehen.«

»Du horst dich schon an wie Judith Li.« Shoemaker stellte mit einem Knall den Becher ab. »Hattest ubrigens Recht. Uber die Barrier Queen ist tatsachlich kaum berichtet worden. Im Wesentlichen haben sie uber den gesunkenen Schlepper geschrieben.«

Anawak hatte nichts anderes erwartet. Der Krisenstab lie? sie am ausgestreckten Arm verhungern. Vielleicht gehorte das zum Spiel. Such dir dein Fressen selber. Aber wenn es so war, wurden sie eben suchen. Nach dem Flugzeugabsturz hatte Delaware begonnen, das Internet zu durchforsten. Wenn schon die Mitarbeiter des landeseigenen Krisenstabs kurz gehalten wurden, was wurde dann aus anderen Landern an die Offentlichkeit dringen? Wo hatte es sonst noch in der Welt Angriffe durch Wale gegeben? Falls uberhaupt. Oder, wie George Frank gesagt hatte, der taayii hawil der Tla-o-qui-aht:

Vielleicht sind gar nicht die Wale das Problem, Leon. Vielleicht sind sie nur der Teil des Problems, den wir sehen.

Offenbar hatte Frank damit den Nagel auf den Kopf getroffen, wenngleich Anawak noch ratloser geworden war, nachdem Delaware ihm die Resultate ihrer ersten ausgiebigen Recherche vorgelegt hatte. Sie hatte in sudamerikanischen Netzen gestobert, in deutschen und skandinavischen, franzosischen und japanischen, sie war in Australien rumgesurft. Wie es aussah, machte man anderenorts ahnlich verstorende Erfahrungen mit Quallen.

»Quallen?« Shoemaker hatte zu lachen begonnen. »Was tun sie? Springen sie gegen Schiffe?«

Im ersten Moment hatte auch Anawak keinen Zusammenhang gesehen. Was sollte das fur ein Problem sein, das sich in Gestalt von Walen und Quallen manifestierte? Womoglich wiesen Invasionen hoch giftiger Nesseltiere Schnittmengen mit Walattacken auf, die vordergrundig verborgen blieben. Zwei Symptome desselben Problems. Eine Kumulation der Anomalien. Delaware stie? auf eine Stellungnahme costaricanischer Wissenschaftler, die der Vermutung Ausdruck gaben, es sei gar nicht die Portugiesische Galeere, die vor Sudamerika ihr Unwesen treibe, sondern eine ahnliche, bislang unbekannte Art, noch gefahrlicher, noch todlicher.

Und das war langst nicht alles.

»Ungefahr zu der Zeit, als es hier mit den Walen losging, verschwanden vor Sudamerika und Sudafrika Schiffe«, resumierte Delaware. »Motorboote und Kutter. Man hat ein paar Trummer gefunden, sonst nichts. Wenn du jetzt eins und eins zusammenzahlst …«

»Bekommst du einen Haufen Wale«, sagte Shoemaker. »Warum erfahrt man so was hier nicht? Ist Kanada denn aus der Welt?«

»Wir interessieren uns nun mal nicht sonderlich fur die Probleme anderer Lander«, konstatierte Anawak. »Wir nicht, und die Vereinigten Staaten noch viel weniger.«

»Es gab jedenfalls mehr Unglucke mit gro?eren Schiffen«, sagte Delaware, »als wir aus den Medien erfahren haben. Kollisionen, Explosionen, Untergange. Und wisst ihr, was au?erdem seltsam ist? Diese Epidemie in Frankreich. Irgendwelche Algen in Hummern haben sie ausgelost, und jetzt breitet sich da in Windeseile ein Erreger aus, den sie nicht in den Griff bekommen. Ich glaube, auch andere Lander sind betroffen. Aber je mehr du nachforschst, desto verschwommener wird das Bild.«

Mitunter rieb sich Anawak die Augen und dachte, dass sie drauf und dran waren, sich lacherlich zu machen. Sie waren nicht die Ersten, die des Amerikaners liebstem Kind nachhingen, der Verschworungstheorie. Jeder vierte US-Burger trug solche Hirngespinste mit sich herum. Es gab Theorien, Bill Clinton sei ein russischer Agent gewesen, und eine Menge Leute handelte mit Ufo-Geschichten. Alles blanker Unsinn. Welches Interesse sollte ein Staat haben, Ereignisse zu camouflieren, die Tausende von Menschen betrafen? Abgesehen davon, dass es schlicht unmoglich schien, so etwas uberhaupt geheim zu halten.