Auch Shoemaker gab seiner Skepsis Ausdruck: »Das ist nicht Roswell hier. Es sind keine grunen Mannchen vom Himmel gefallen, und nirgendwo sind fliegende Untertassen versteckt. Wir haben zu viel Harrison Ford geguckt. Den ganzen Verschworungskram gibt’s nur im Kino. Wenn heute irgendwo Wale auf Schiffe springen, wei? das morgen die ganze Welt, und was anderswo passiert, erfahrst du auch.«

»Dann pass mal auf«, sagte Delaware. »Tofino hat 1200 Einwohner und besteht im Wesentlichen aus drei Stra?en. Trotzdem ist es unmoglich, dass jeder uber jeden standig Bescheid wei?. Richtig?«

»Na und?«

»Ein einziger Ort ist schon zu gro?, dass du alles mitkriegst. Erst recht ein ganzer Planet.«

»Binsenweisheit. Der Verstand des Menschen ist ein Eimer, der schnell uberlauft.«

»Ich meine, eine Regierung kann Nachrichten nicht immer zuruckhalten. Aber man kann ihre Bedeutung schmalern. Du sorgst eben dafur, dass die Berichterstattung nicht so uppig ausfallt. Das geht. Dann bleibt das meiste ohnehin im eigenen Land, und den Rest findest du in Randnotizen wieder. Wahrscheinlich hat alles, was ich aus dem Internet gefischt habe, sogar in den hiesigen Zeitungen gestanden und ist im Fernsehen gekommen, und wir haben es einfach nicht mitgekriegt.«

Shoemaker kniff die Augen zusammen.

»So?«, sagte er unsicher.

»Wie auch immer«, beschied Anawak. »Wir brauchen mehr Informationen.« Er stocherte murrisch in seinen Ruhreiern herum und schob sie uber den Teller. »Das hei?t, wir haben ja welche. Li hat welche. Ich bin sicher, sie wei? eine ganze Menge mehr als wir.«

»Dann frag sie«, sagte Shoemaker.

Anawak hob die Brauen. »Li?«

»Warum denn nicht? Wenn du was wissen willst, geh fragen. Alles, was du dir einfangen kannst, ist ein Nein und was auf die Zahne, aber mal ehrlich — schlechter als jetzt kannst du doch gar nicht dastehen.«

Anawak schwieg und grubelte vor sich hin.

Er wurde keine Auskunft bekommen. Ford bekam auch keine, und er fragte sich die Seele aus dem Leib.

Andererseits war Shoemakers Idee gar nicht so dumm. Man konnte auch Fragen stellen, ohne dass es der Befragte merkte. Vielleicht wurde es einfach Zeit, sich die Antworten zu holen.

Spater, als Shoemaker gegangen war, legte ihm Delaware eine Ausgabe der Vancouver Sun auf den Tisch.

»Ich wollte damit warten, bis Tom gegangen ist«, sagte sie.

Anawak warf einen Blick auf die Titelseite. Es war die Ausgabe vom Vortag.

»Hab ich gelesen.«

»Komplett?«

»Nein, nur das Wesentliche.«

Delaware lachelte. Obwohl Anawak sich in den letzten Tagen nicht eben durch Hoflichkeit und Rucksichtnahme, geschweige denn durch gute Laune ausgewiesen hatte, war sie wirklich nett zu ihm. Die Frage nach seiner Herkunft hatte sie seit ihrer Unterhaltung in der Station nicht wieder angeschnitten. »Dann lies das Unwesentliche.«

Anawak drehte die Zeitung um. Sofort sah er, was sie meinte. Es war eine kleine Meldung, nur wenige Zeilen. Dazu ein Foto mit einer glucklichen Familie, Vater, Mutter und ein Junge, die dankbar zu einem sehr gro?en Mann aufsahen. Der Vater schuttelte dem Mann die Hand, und alle lachten in die Kamera.

»Nicht zu fassen«, murmelte Anawak.

»Du kannst es drehen und wenden, wie du willst«, sagte Delaware. Ihre Augen funkelten. Heute funkelten sie hinter gelben Glasern, deren Rander mit Kreuzen aus Strass verziert waren. »Aber ein solches Arschloch scheint er nicht zu sein.«

Der kleine Bill Sheckley (5), der am 11. April als Letzter von Bord des sinkenden Ausflugsschiffs Lady Wexham gerettet worden war, kann wieder lachen. Heute holten ihn seine erleichterten Eltern aus dem Krankenhaus in Victoria ab, wo er eine Weile zur Beobachtung geblieben war. Bill hatte sich bei der Rettungsaktion eine gefahrliche Unterkuhlung und als Folge davon eine Lungenentzundung zugezogen. Dies sowie den Schock hat er nun offenbar verarbeitet. Heute bedankten sich seine Eltern vor allem bei Jack »Greywolf« O’Bannon, einem engagierten Naturschutzer Vancouver Islands, der die Rettungsaktion geleitet und sich danach ruhrend um die Genesung des kleinen Bill gekummert hatte. Der Held von Tofino, wie O’Bannon seitdem genannt wird, hat wohl nicht nur im Herzen des kleinen Jungen seinen Platz gefunden.

Anawak klappte die Zeitung zusammen und warf sie auf den Fruhstuckstisch. »Shoemaker ware ausgerastet«, sagte er.

Eine Weile sagte niemand etwas. Anawak sah den langsam ziehenden Wolken zu und versuchte, seine Wut auf Greywolf anzufachen, aber diesmal klappte es nicht. Wut empfand er nur gegen die Leute, die seine und Fords Arbeit behinderten, gegen diese arrogante Soldatin und aus unerklarlichen Grunden gegen sich selber.

Genau genommen gegen sich am meisten.

»Was habt ihr eigentlich alle fur ein Problem mit Greywolf?«, fragte Delaware schlie?lich.

»Du hast doch gesehen, was er gemacht hat.«

»Die Aktion, als sie mit Fischen schmissen? Gut, das ist eine Sache. Er ubertreibt. Man konnte auch sagen, er hat ein Anliegen.«

»Greywolfs Anliegen ist es, Stunk zu machen.« Anawak fuhr sich uber die Augen. Obwohl es fruher Vormittag war, fuhlte er sich schon wieder mude und kraftlos.

»Versteh mich nicht falsch«, sagte Delaware vorsichtig. »Aber der Mann hat mich aus dem Wasser gezogen, als ich schon dachte, das war’s gewesen mit der kleinen Licia. Ich bin vor zwei Tagen losgegangen, um ihn zu suchen. Zu Hause war er nicht. Er hockte am Tresen einer Kneipe in Ucluelet, also bin ich hin und habe … na ja, wie ich schon sagte: Ich habe mich bedankt.«

»Und?«, fragte Anawak lustlos. »Was hat er gesagt?«

»Er hatte es nicht erwartet.«

Anawak sah sie an.

»Er war ziemlich verblufft«, fuhr Delaware fort. »Und erfreut. Dann wollte er wissen, wie es dir geht.«

»Mir?«

»Wei?t du, was ich glaube?« Sie verschrankte die Arme auf der Tischplatte. »Ich denke, dass er wenig Freunde hat.«

»Vielleicht sollte er sich mal fragen, warum.«

»Und dass er dich mag.«

»Licia, hor auf. Was soll das werden? Soll ich das Heulen kriegen und ihn heilig sprechen?«

»Erzahl mir einfach was von ihm.«

Gro?er Gott, warum?, dachte Anawak. Warum muss ich jetzt ausgerechnet uber Greywolf erzahlen? Konnen wir nicht uber was Nettes sprechen? Irgendetwas wirklich Nettes und Erfreuliches, zum Beispiel …

Er uberlegte. Ihm fiel nichts ein.

»Wir waren mal befreundet«, sagte er knapp.

Er erwartete, Delaware mit einem Triumphschrei

aufspringen zu sehen — Ha, ertappt, ich hatte Recht! —, aber sie nickte nur.

»Er hei?t Jack O’Bannon und stammt aus Port Townsend. Das liegt im Bundesstaat Washington. Sein Vater ist Ire und hat eine Halbindianerin geheiratet, eine Suquamish, glaube ich. — Jedenfalls, Jack hat in den USA alles Mogliche gemacht, er war Rausschmei?er, Lastwagenfahrer, Werbegrafiker und Leibwachter und schlie?lich Kampftaucher bei den US Navy SEALS. Dort fand er seine Berufung. Delphintrainer. Er machte das gut, aber dann stellten sie einen Herzfehler bei ihm fest. Nichts Wildes, blo?, die SEALS sind ein harter Haufen. Jack kam klar dort, er hat ein Regal voller Auszeichnungen zu Hause, aber das war’s dann mit der Navy.«

»Was hat ihn nach Kanada verschlagen?«

»Jack hatte immer schon ein Faible fur Kanada. Anfangs hat er versucht, in Vancouvers Filmindustrie Fu? zu fassen. Er dachte, mit der Statur und dem Gesicht konnte er vielleicht Schauspieler werden, aber Jack ist hundert Prozent talentfrei. Eigentlich klappte uberhaupt nichts in seinem Leben, weil er immer sofort die Nerven verlor und

schon mal jemanden ins Krankenhaus prugelte.«

»Oh«, machte Delaware.

Anawak fletschte die Zahne. »Tut mir Leid, wenn ich

dein Denkmal ankratze. Ich hab mich nicht darum gerissen.«

»Schon gut. Und dann?«

»Dann?« Anawak goss sich ein Glas Orangensaft ein. »Dann kam er in den Knast. Kurz nur, er hat ja niemanden betrogen oder gelinkt. Es war sein schlagfertiges Temperament, das ihn reinbrachte. Als er wieder rauskam, war naturlich alles noch viel schwerer. Mittlerweile hatte er Bucher uber Naturschutz und Wale gelesen und beschlossen, das musse es jetzt sein. Warum auch nicht? Er ging also zu Davie, den er von einem Trip nach Ucluelet kannte, und fragte ihn, ob sie noch einen Skipper brauchten, und Davie sagte, wenn du keinen Arger machst, klar, mit Kusshand, jederzeit! — Jack kann namlich charmant sein, wenn er will.«